Inhalt

VG München, Beschluss v. 17.11.2022 – M 18 V 22.5251
Titel:

Vollstreckung einer einstweiligen Anordnung, Zwangsgeldandrohung gegen Behörde, Nachweis eines Betreuungsplatzes in einer Kindertageseinrichtung oder in Kindertagespflege, Kapazitätserschöpfung

Normenketten:
VwGO § 172
VwGO § 123
SGB VIII § 24 Abs. 2
Schlagworte:
Vollstreckung einer einstweiligen Anordnung, Zwangsgeldandrohung gegen Behörde, Nachweis eines Betreuungsplatzes in einer Kindertageseinrichtung oder in Kindertagespflege, Kapazitätserschöpfung
Fundstelle:
BeckRS 2022, 34328

Tenor

I. Dem Antragsgegner wird für den Fall, dass er seiner Verpflichtung aus dem Beschluss vom 15. September 2022 (* … * …*) nicht innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses nachkommt, ein Zwangsgeld in Höhe von 5.000 EUR angedroht.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin begehrt die Vollstreckung aus dem Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 15. September 2022, mit dem der Antragsgegner verpflichtet wurde, der Antragstellerin vorläufig einen Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung oder in Kindertagespflege ab dem 15. Oktober 2022 nachzuweisen.
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Auf den Antrag der Antragstellerin vom 29. August 2022 verpflichtete das Gericht den Antragsgegner mit rechtskräftigem Beschluss vom 15. September 2022 … … * …*), der Antragstellerin gemäß § 123 VwGO vorläufig einen dem individuellen Bedarf entsprechenden Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung oder in Kindertagespflege ab dem 15. Oktober 2022 nachzuweisen.
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Die Antragstellerin ließ durch ihre Bevollmächtigten am 21. Oktober 2022 beantragen,
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für den Fall, dass der Antragsgegner der Verpflichtung aus der einstweiligen Anordnung gemäß Beschluss vom 15. September 2022, der Antragstellerin umgehend bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren einen Betreuungsplatz in einer Tageseinrichtung in dem durch den Beschluss bewilligten Umfang nachzuweisen, nicht binnen drei Wochen nachkommt, die Festsetzung eines Zwangsgeldes in Höhe von 5000 EUR anzudrohen.
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Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Antragsgegner die einstweilige Anordnung nicht befolgt habe. Die Androhung des Zwangsgeldes, hier die Hälfte der maximalen Höhe nach § 172 Satz 1 VwGO, erscheine vor dem Hintergrund der Nichtbefolgung und der Eilbedürftigkeit zwingend notwendig zu sein, um die einstweilige Anordnung durchzusetzen. Der Antragsgegner könne sich hierbei nicht auf den Mangel an Platzkapazitäten berufen, denn er habe die erforderlichen Kapazitäten zu schaffen.
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Der Antragsgegner beantragte mit Schriftsatz vom 10. November 2022,
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den Antrag abzuweisen.
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Zur Begründung wurde ausgeführt, dass es unter Berücksichtigung der momentan gegebenen Umstände fast schon rechtsmissbräuchlich sei, ein Zwangsmittel zu beantragen, welches in absehbarer Zeit keine Aussicht auf Erfolg haben werde. Dem Antragsgegner sei es trotz Anforderung von jeweils in Anlage beigefügten Belegungslisten sowie regelmäßig stattfindenden Platzabfragen bei den Kindertageseinrichtungen sowie bei den Tagespflegestellen aufgrund des Platzmangels einerseits sowie des Fachkräftemangels andererseits nicht möglich einen bedarfsgerechten Betreuungsplatz zuzuweisen. Die Erfüllung sei daher faktisch unmöglich. Die Verhängung eines Zwangsmittels für die Nichtvornahme einer dem Antragsgegner unmöglichen Handlung sei daher unter dem Gesichtspunkt der Rechtsmissbräuchlichkeit als nicht sachgerecht und damit als unangemessen anzusehen. Ebenso sei ein Rechtsschutzbedürfnis der Antragstellerin zweifelhaft. Es sei fraglich, ob die Vollstreckung mittels Zwangsgeld dem Grundsatz der Effizienz staatlichen Handelns gerecht werde, wenn schon von vornherein klar sei, dass eine Erfüllung des Zuweisungsauftrags nicht möglich sei. Der Erfüllung würden momentan nicht ausräumbare tatsächliche Hindernisse entgegenstehen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird ergänzend auf die Gerichtsakte im vorliegenden Verfahren sowie in den Verfahren * … * … und * … * … verwiesen.
II.
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Der zulässige Antrag nach § 172 VwGO hat Erfolg.
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Gemäß § 172 Satz 1 VwGO kann das Gericht des ersten Rechtszugs auf Antrag unter Fristsetzung gegen die Behörde ein Zwangsgeld bis zehntausend Euro durch Beschluss androhen, nach fruchtlosem Fristablauf festsetzen und von Amts wegen vollstrecken, wenn die Behörde (u.a.) in dem Fall des § 123 VwGO der ihr in der einstweiligen Anordnung auferlegten Verpflichtung nicht nachkommt.
12
Als Gericht des ersten Rechtszuges entscheidet vorliegend die Einzelrichterin über den Vollstreckungsantrag, da die Sache bereits im Erkenntnisverfahren auf die Einzelrichterin übertragen war (vgl. Pietzner/Möller in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht/VwGO, 42. EL Februar 2022, § 172 Rn. 7; Kraft in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 169 Rn. 3; OVG Berlin-Bbg, B.v. 18.11.2016 - OVG 3 K 65.15 - juris Rn. 2; a.A. OVG SH, B.v. 29.4.2019 - 2 O 4/18 - juris Rn. 7).
13
Die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen liegen vor.
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Die einstweilige Anordnung vom 15. September 2022 ist nach § 168 Abs. 1 Nr. 2 VwGO ein Vollstreckungstitel, der dem Antragsgegner - dem Vollstreckungsschuldner - auch zugestellt wurde. Einer Vollstreckungsklausel bedurfte es vorliegend, unabhängig von der Frage, ob diese in Verfahren nach § 172 VwGO generell erforderlich ist (vgl. hierzu: Kraft in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 171 Rn. 4), nicht, da dem Verfahren eine Verpflichtung nach § 123 VwGO zu Grunde liegt, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 929 Abs. 1 ZPO (vgl. auch VG Bremen, B.v. 5.11.2021 - 3 Z 2210/21 - juris Rn. 3).
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§ 172 VwGO setzt weiter voraus, dass die Behörde ihrer Verpflichtung nicht oder nicht hinreichend nachkommt. Der Antragsgegner hat hier unstreitig die Verpflichtung aus dem rechtskräftigen Beschluss vom 15. September 2022 nicht erfüllt und sieht sich hierzu nach eigenen Angaben auch in absehbarer Zeit nicht in der Lage.
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Diese Säumnis ist „grundlos“.
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Da die Entscheidung über die Androhung, Festsetzung und Vollstreckung eines Zwangsgeldes nach § 172 Satz 1 VwGO im Ermessen des Gerichts steht, ist neben der Prüfung der allgemeinen Voraussetzungen der Vollstreckung auch zu prüfen, ob der Behörde billigerweise zugemutet werden konnte, in der seit dem Ergehen der Entscheidung verstrichenen Zeit die darin ausgesprochene Verpflichtung zu erfüllen, also ob die Versäumung der vom Gericht auferlegten Pflicht „grundlos“ erfolgt ist (vgl. Pietzner/Möller in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht/VwGO, 42. EL Februar 2022, § 172 Rn. 7; NdsOVG, B.v. 15.11.2019 - 10 OB 210/19 - juris Rn. 6 m.w.N.; grundlegend: BVerwG, B.v. 30.12. 1968 - I WB 31/68 - NJW 1969, 476)
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Der Antragsgegner hat insoweit sowohl im zugrundeliegenden Eilverfahren als auch im vorliegenden Verfahren ausgeführt, dass ihm aufgrund des Platzsowie des Fachkräftemangels der Nachweis eines geeigneten Betreuungsplatzes für die Antragstellerin tatsächlich unmöglich sei. Der Vollstreckungsantrag sei daher rechtsmissbräuchlich, denn die Erfüllung der gerichtlichen Anordnung könne damit nicht erreicht werden.
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Das Gericht hat hierzu bereits im Beschluss vom 15. September 2022 ausgeführt, dass dem Anspruch der Antragstellerin nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung eine Kapazitätserschöpfung nicht entgegengehalten werden kann. Es handelt sich bei der Verpflichtung zum Nachweis eines geeigneten Betreuungsplatzes nach § 24 Abs. 2 und 3 SGB VIII um eine unbedingte Bereitstellungs- bzw. Gewährleistungspflicht. Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe ist gemäß § 79 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII verpflichtet zu gewährleisten, dass ein dem Bedarf in qualitativer und quantitativer Hinsicht gerecht werdendes Angebot an Fördermöglichkeiten in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege vorgehalten wird. Ihm obliegt es im Rahmen seiner aus § 79 Abs. 1 und § 80 SGB VIII folgenden Planungsverantwortung, eine plurale Betreuungsinfrastruktur sicherzustellen und gegebenenfalls auch die vorhandenen Kapazitäten so zu erweitern, dass sämtlichen anspruchsberechtigten Kindern ein ihrem Bedarf entsprechender Betreuungsplatz nachgewiesen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 26.10.2017 - 5 C 19/16 - juris Rn. 35; BVerfG, U.v. 21.11.2017 - 2 BvR 2177/16 - juris Rn. 134).
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Zwar hat der Antragsgegner im vorliegenden Verfahren Belegungslisten der im Landkreis vorhandenen Kindertageseinrichtungen vorgelegt sowie E-Mails hinsichtlich getätigter Abfragen bei Tagespflegestellen.
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Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Nachweispflicht des Antragsgegners nach § 24 Abs. 2 SGB VIII, die eine entsprechende Infrastruktur voraussetzt, bereits seit dem 1. August 2013 besteht. Dem Antragsgegner stand folglich zwischenzeitlich ein erheblicher Zeitraum zur Verfügung, um seiner gesetzlichen Verpflichtung gerecht werden zu können. Das Gericht verkennt hierbei nicht, dass die Problematik der fehlenden Betreuungsplätze nicht nur im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners auftritt, sondern ein bundesweit vorliegendes erhebliches Problem darstellt. Dennoch kann sich der Antragsgegner nicht unter Verweis auf bundesweit vorliegende Planungs- und Umsetzungsdefizite dem unmittelbar gegen ihn bestehenden Anspruch des Antragstellers entziehen, sondern hat hierfür im vorliegenden Verfahren einzustehen.
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Zudem hat das Bayerische Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales Ministerium (wohl) im September 2022 als Reaktion auf die erhebliche Mangelsituation in Bayern zur kurzfristigen Schaffung zusätzlicher Betreuungsplätze eine „Experimentierklausel“ erlassen (vgl. Presseerklärung vom 30.8.2022 - abrufbar unter: https://www.bayern.de/familienministerin-praesentiert-neue-chancen-fuer-kitas-kinderbetreuung/). Es wäre demzufolge auch am Antragsgegner gelegen, darzulegen, warum auch unter Berücksichtigung dieser „Experimentierklausel“ kein ausreichendes Betreuungsangebot geschaffen werden kann.
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Schließlich hat es der Antragsgegner unterlassen, im Bezug zu der Antragstellerin und Anspruchsinhaberin konkret auszuführen, dass alle Möglichkeiten ausgeschöpft seien, individuell für diese einen geeigneten Betreuungsplatz zur Verfügung zu stellen (vgl. hierzu ausführlich: NdsOVG, B.v. 15.11.2019 - 10 OB 210/19 - juris Rn. 8 f.). Lediglich die Berufung auf die allgemein schwierige Situation kann die Vollstreckung aus dem Beschluss vom 15. September 2022, mit dem individuell für die Antragstellerin ein titulierter Anspruch festgestellt wurde, jedoch keinesfalls verhindern. Vielmehr ist der Antragsgegner gehalten, in Bezug auf den individuell für die Antragstellerin titulierten Anspruch auch alle „überobligatorischen“ Anstrengungen zu unternehmen und darzulegen (vgl. NdsOVG, a.a.O.).
24
Der Argumentation des Antragsgegners, dass die Beantragung eines Zwangsgeldes vorliegend rechtsmissbräuchlich, da nicht erfolgversprechend sei, kann folglich nicht gefolgt werden. Vielmehr würde diese Sichtweise im Ergebnis dazu führen, dass die Exekutive einen durch den Gesetzgeber geschaffenen Rechtsanspruch des Bürgers folgenlos negieren und damit tatsächlich aufheben könnte.
25
Die beantragte Androhung eines Zwangsgeldes für den Fall einer weiteren Nichtbefolgung des gerichtlichen Beschlusses war daher geboten. Zwar führt gegebenenfalls die Festsetzung des Zwangsgeldes zu keinem unmittelbaren Vorteil für die Antragstellerin, dennoch ist dieser Weg für die Antragstellerin der einzig mögliche, um den Antragsgegner zur Erfüllung ihres Anspruches zu bewegen. Das Gericht erachtet es vorliegend als angemessen, zunächst lediglich ein Zwangsgeld in Höhe von 5.000 EUR anzudrohen, um dem Antragsgegner seine umfassende Verpflichtung zur überobligatorischen Anstrengung individuell auf die Antragstellerin bezogen vor Augen zu führen. Die hierfür gesetzte Frist von zwei Wochen ab Zustellung dieses Beschlusses ist zwar kurz, erscheint jedoch sachgerecht, um den Antragsgegner nunmehr zügig dazu zu bewegen, dieser Verpflichtung nachzukommen. Wie bereits im Beschluss vom 15. September 2022 ausgeführt, ist die Antragstellerin auf einen Betreuungsplatz zur Vermeidung erheblicher Nachteile angewiesen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.