Inhalt

VG München, Beschluss v. 24.11.2022 – M 18 E 22.3464
Titel:

Änderung einer einstweiligen Anordnung, Vorläufige Inobhutnahme, Altersfeststellungsverfahren, ärztliche Untersuchung

Normenketten:
VwGO § 123
VwGO § 80 Abs. 7
SGB VIII § 42a
SGB VIII § 42f
Schlagworte:
Änderung einer einstweiligen Anordnung, Vorläufige Inobhutnahme, Altersfeststellungsverfahren, ärztliche Untersuchung
Fundstelle:
BeckRS 2022, 34326

Tenor

I. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 1. August 2022 (M 18 E 22.3464) wird in Ziffer I geändert. Die Verpflichtung des (im vorliegenden Verfahren) Antragstellers, den (im vorliegenden Verfahren) Antragsgegner einstweilen vorläufig in Obhut zu nehmen, wird für die Zukunft aufgehoben und der Antrag des Antragsgegners abgelehnt.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller wendet sich gegen den gerichtlichen Beschluss vom 1. August 2022 (M 18 E 22.3464), mit dem er verpflichtet wurde, den jetzigen Antragsgegner einstweilen vorläufig in Obhut zu nehmen.
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Der Antragsgegner, eigenen Angaben zufolge afghanischer Staatsangehöriger, beantragte bei dem Antragsteller mit Schreiben vom 2. Juni 2022 vorläufig in Obhut genommen zu werden. Mit Bescheid vom 30. Juni 2022 lehnte dieser den Antrag ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass zuvor durch ein anderes Jugendamt eine Inaugenscheinnahme und Alterseinschätzung durch eine erfahrene Fachkraft erfolgt sei. Es bestehe kein Anlass, diese Alterseinschätzung sowie das bei den deutschen Behörden (insbesondere beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und der zentralen Ausländerbehörde München) geführte Geburtsdatum im Jahr 2002 anzuzweifeln.
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Mit Schreiben vom 7. Juli 2022, eingegangen am 12. Juli 2022, beantragte der Antragsgegner beim Verwaltungsgericht München sinngemäß, vorläufig in Obhut genommen zu werden (M 18 E 22.3464).
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Mit Beschluss vom 1. August 2022 verpflichtete das Gericht den Antragsteller, den Antragsgegner einstweilen vorläufig in Obhut zu nehmen. Zur Begründung wurde insbesondere ausgeführt, dass das von § 42f Abs. 1 und 2 SGB VIII vorgesehene Verfahren zur Altersfeststellung vom Antragsteller nicht ordnungsgemäß durchlaufen worden sei. Die Ablehnung der vorläufigen Inobhutnahme stelle sich daher als rechtswidrig dar, weil nicht zweifelsfrei auszuschließen sei, dass der Antragsgegner minderjährig sei. Eine Berufung auf ein bereits früher von einem anderen Jugendamt durchgeführtes Verfahren könne die Verpflichtung des Jugendamtes nach § 42f SGB VIII nicht entfallen lassen. Der Antragsteller hätte zumindest eine qualifizierte Inaugenscheinnahme des Antragsgegners durchführen müssen. Zudem sei davon auszugehen, dass kein Fall der „offensichtlichen Volljährigkeit“ vorliegen dürfte, weshalb die Durchführung einer ärztlichen Untersuchung zur Altersbestimmung angezeigt sei, sofern nicht bereits eine qualifizierte Inaugenscheinnahme die Minderjährigkeit indiziere.
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Der Antragsteller nahm den Antragsgegner darauf hin vorläufig in Obhut und veranlasste eine medizinische Untersuchung des Antragsgegners.
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Am 21. September 2022 fand die rechtsmedizinische Untersuchung des Antragsgegners statt. Der Antragsgegner wurde körperlich und zahnmedizinisch untersucht. Zudem erfolgten eine Röntgenaufnahme der linken Hand sowie eine Computertomografie der Brustbein-Schlüsselbein-Gelenke.
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In dem hierüber gefertigten Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin vom 10. Oktober 2022 wird zusammenfassend ausgeführt, dass das Mindestalter des Antragsgegners zum Untersuchungszeitpunkt bei 19 Jahren liege. Sowohl die computertomografisch erhebbaren Befunde als auch die zahnärztlichen Befunde sprächen dabei für ein Lebensalter, das eher um oder über 21 Jahren liege.
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Mit Schreiben vom 11. November 2022 beantragte der Antragsteller,
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den Beschluss der einstweiligen Anordnung zur vorläufigen Inobhutnahme vom 1. August 2022 abzuändern.
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Zur Begründung wurde ausgeführt, dass das vorliegende Gutachten aufgrund des festgestellten Alters sowohl die Sach- als auch Rechtslage ändere. Zum Zeitpunkt der vorläufigen Inobhutnahme sei der Antragsgegner bereits volljährig gewesen und die Tatbestandsvoraussetzungen des § 42a Abs. 1 SGB VIII hätten nicht vorgelegen. Es werde beabsichtigt, den Verwaltungsakt schnellstmöglich gemäß § 45 SGB X zurückzunehmen und die entstandenen Kosten vom Antragsgegner zurückzufordern. Eine entsprechende Anhörung sei bereits erfolgt. Die Rücknahme werde jedoch bis zu einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts zurückgestellt. Man bitte daher um zeitnahe Mitteilung der Entscheidung.
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Durch Beschluss der Kammer vom 24. November 2022 wurde der Rechtsstreit gemäß § 6 VwGO zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Gerichtsakte in dem Verfahren M 18 E 22.3464 sowie der vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
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Der zulässige Antrag ist im Ergebnis begründet.
14
Eine stattgebende einstweilige Anordnung des Gerichts nach § 123 VwGO - wie vorliegend - kann aufgrund veränderter tatsächlicher oder rechtlicher Umstände geändert werden. Unabhängig von der umstrittenen Frage, ob auf eine solche Änderung § 927 ZPO oder § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO analog Anwendung findet, und dementsprechend auch eine Änderung von Amts wegen erfolgen kann, kann ein solches Abänderungsverfahren auf Antrag eingeleitet werden (vgl. allgemein hierzu: BeckOK VwGO/Kuhla, 63. Ed. 1.7.2022, VwGO § 123 Rn. 181 ff.; Eyermann/Happ, 16. Aufl. 2022, VwGO § 123 Rn. 77 ff.; NK-VwGO/Adelheid Puttler, 5. Aufl. 2018, VwGO § 123 Rn. 127 f.).
15
Für einen entsprechenden Antrag bedarf es in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht veränderter Umstände. Denn das Abänderungsverfahren dient nicht dazu einzuwenden, die einstweilige Anordnung hätte von Anfang an nicht ergehen dürfen (vgl. Eyermann/Happ, 16. Aufl. 2022, VwGO § 123 Rn. 78).
16
Im vorliegenden Fall hat sich die maßgebliche Sach- und Rechtslage geändert, da der Antragsteller nunmehr ein medizinisches Gutachten zur Altersdiagnostik erstellen lassen hat und dieses Gutachten zu dem Ergebnis kommt, dass der Antragsgegner volljährig ist.
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Der Antrag des Antragstellers ist aufgrund dieser Änderung der Sachlage statthaft und erforderlich, um im Folgenden auf die neue Sach- und Rechtlage ohne Widerspruch zu dem rechtskräftigen Beschluss vom 1. August 2022 reagieren zu können.
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Der Antrag ist auch begründet, da der Antragsgegner aufgrund der geänderten Sach- und Rechtslage keinen Anordnungsanspruch im Sinne des § 123 VwGO mehr glaubhaft machen kann.
19
Aufgrund des nunmehr vorliegenden medizinischen Gutachtens ist davon auszugehen, dass hinsichtlich der Volljährigkeit des Antragsgegners nicht mehr von einem „Zweifelsfall“ i.S.v. § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII auszugehen ist. Dies hat zur Folge, dass der Antragsgegner nicht (mehr) zu den Anspruchsberechtigten für eine vorläufige Inobhutnahme nach § 42a Abs. 1 SGB VIII i.V.m § 7 Abs. 1 Nr. 1 und 2 SGB VIII zählt, so dass diese nunmehr zu beenden ist (vgl. im Ausgangsverfahren VG München, B.v. 1.8.2022 - M 18 E 22.3464 - n.v.; B.v.3.11.2022 - M 18 E 22.5047 - juris Rn. 27 m.w.N.).
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Das von dem Antragsteller zur Altersbestimmung eingeholte rechtsmedizinische Gutachten kommt nachvollziehbar zu dem Ergebnis, dass der Antragsgegner zum Zeitpunkt der Untersuchung mindestens 19 Jahre alt und damit volljährig ist.
21
Das Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin vom 10. Oktober 2022 kommt auf der Grundlage der vier bei dem Antragsgegner vorgenommen Untersuchungen (körperliche und zahnärztliche Untersuchung, Röntgenuntersuchung der linken Hand und Computertomographie der Brustbein-Schlüsselbein-Gelenke) zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass der Antragsgegner zumindest 19 Jahre alt ist. Zwar lag dem Gutachter noch kein Befund der Klinik, die die radiologischen Untersuchung durchgeführt hatte, sondern lediglich die dort gefertigten Aufnahmen vor. Diese wurden jedoch von dem Gutachter fachlich bewertet. So wird ausgeführt, dass sich in der Computertomografie der Brustbein-Schlüsselbein-Gelenke nebenbefundlich bereits deutliche saumartige Kalkeinlagerungen der Knorpel der ersten Rippe links/rechts, entsprechend einer degenerativen Erscheinung befänden, die mit einem Lebensalter von über 20 Jahren assoziiert würden. An den Schlüsselbeinenden hätte sich beidseits gerade noch, rechts eher schon im Sinne einer Zugunstenbetrachtung, ein Stadium 3c der Schlüsselbeinentwicklung nach Kellinghaus et al. befunden, das nach der grundlegenden Literatur von Wittschieber et. al. aus derselben Arbeitsgruppe, basierend auf immerhin 53 Probanden mit einem solchen Befund, bisher frühestens mit 19,0 Jahren beobachtet worden sei, bei einem Durchschnittsalter von über 23 Jahren.
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Die von dem Gutachter angewandte Methode, aufgrund einer Kombination der körperlichen Untersuchung, der zahnärztlichen Untersuchung, der Röntgenuntersuchung der linken Hand sowie der Computertomographie der Schlüsselbeine auf das Alter zu schließen, ist zur Feststellung, ob der Antragsgegner im Zeitpunkt der Untersuchung noch minderjährig oder bereits volljährig ist, geeignet. Sie entspricht dem aktuellen Stand der anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnis und ist auch in der Rechtsprechung anerkannt (BayVGH, B.v. 9.3.2020 - 12 CE 20.230 - Rn. 4 ff. - n.v.; OVG Bremen - B.v. 4.6.2018 - 1 B 82/18 - juris Rn. 28 m.w.N.; BayVGH, B.v. 5.4.2017 - 12 BV 17.185 - juris Rn. 41 m.w.N.; VG München, B.v. 4.2.2021 - M 18 S 21.170 - juris Rn. 40; VG Minden, U.v. 13.6.2017 - 10 K 240715.A - juris Rn. 60; Schmeling et al., Forensische Altersdiagnostik, Deutsches Ärzteblatt 2016, 44 ff.). Wendet man - wie in dem vorliegenden Gutachten - das Mindestalterkonzept an, lässt sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschließen, dass eine tatsächlich minderjährige Person versehentlich als volljährig eingeschätzt wird. Die Anwendung des Mindestalterskonzepts stellt sicher, dass das forensische Alter der begutachteten Person keinesfalls zu hoch angegeben wird, sondern praktisch immer unter dem tatsächlichen Alter liegt. Das Mindestalter ergibt sich aus dem Altersminimum der Referenzstudie für die festgestellte Merkmalsausprägung; es ist das Alter der jüngsten Person der Referenzpopulation, die die jeweilige Merkmalsausprägung aufweist. Bei der Untersuchung mehrerer Merkmalssysteme ist das höchste festgestellte Mindestalter maßgeblich (OVG Bremen, B.v. 4.6.2018 - a.a.O. Rn. 29; OLG Hamm, B.v. 23.10.2018 - II-9 UF 104/18 u.a. - juris Rn. 48; VG München, B.v. 4.2.2021 - M 18 S 21.170 - juris Rn. 40; U.v. 22.5.2020 - M 18 K 17.5982 - Rn. 86 - n.V.; Schmeling et al., a.a.O.). Vor diesem Hintergrund sieht das Gericht keinen Anlass für Zweifel an dem von dem Gutachter festgestellten Mindestalter von 19,0 Jahren.
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Aufgrund des eindeutigen Ergebnisses des Gutachtens hat der Antragsgegner zum jetzigen Zeitpunkt keinen Anordnungsanspruch mehr glaubhaft gemacht, vorläufig in Obhut genommen zu werden.
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Ziffer I des Beschlusses vom 1. August 2022 ist daher für die Zukunft aufzuheben und der Antrag des jetzigen Antragsgegners nunmehr abzuweisen.
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Inwieweit nunmehr - wie von dem Antragsgegner offenbar beabsichtigt - eine Rücknahme der vorläufigen Inobhutnahme (welche zudem aufgrund eines gerichtlichen Beschlusses erfolgte) für die Vergangenheit gemäß § 45 Abs. 2 SGB X rechtmäßig erfolgen kann, ist im vorliegendem Verfahren nicht zu klären, erscheint jedoch zumindest offen (vgl. hierzu bereits VG München, B.v. 29.9.2020 - M 18 S 20.3892 - juris Rn. 49 ff.).
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Aus der Formulierung des § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, wonach die Altersfeststellung „im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme“ durchzuführen ist, ist zu schließen, dass eine vorläufige Inobhutnahme auch zu erfolgen hat, wenn das Altersfeststellungsverfahren noch nicht durchgeführt und damit das Alter des jungen Menschen noch nicht sicher festgestellt wurde (BVerwG, U.v. 126.4.2018 - 5 C 11/17 - juris Rn. 29); vgl. Kirchhoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., Stand: 1.8.2022, § 42f SGB VIII Rn. 28 ff.). Das Ergebnis der Alterseinschätzung ist also nicht Voraussetzung für eine vorläufige Inobhutnahme, vielmehr ist die Alterseinschätzung selbst erst Aufgabe im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme (vgl. BayVGH, B.v. 5.4.2017 - 12 BV 17.185 - juris Rn. 31). Hieraus folgt im Umkehrschluss, dass die ausländische Person erst dann aus der vorläufigen Obhut des Jugendamtes zu entlassen ist, wenn deren Volljährigkeit festgestellt worden ist. Die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme ist daher erst dann gerechtfertigt, wenn die von Gesetzes wegen aufgestellten Vorgaben zur Feststellung des Alters vom jeweiligen Jugendamt korrekt durchlaufen wurden (VG München, B.v. 3.11.2022 - M 18 E 22.5047 - juris Rn. 27).
27
Die Kosten des vorliegenden Verfahrens waren dem jetzigen Antragsgegner aufzuerlegen, § 154 Abs. 1 VwGO.
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Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.