Titel:
keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Frankreich
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1, Nr. 2, § 35, § 36
Asylverfahrens-RL Art. 33 Abs. 2 lit. a
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK Art. 3
GRCh Art. 4
Leitsätze:
1. Eine auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützte Unzulässigkeitsentscheidung ist rechtswidrig mit der Folge, dass das Asylgesuch in der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen eines neuen Asylverfahrens zu prüfen ist, wenn der Schutzsuchende in dem Mitgliedstaat, in dem er bereits internationalen Schutz erlangt hat, der ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, eine Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung im vorstehend genannten Sinne zu erfahren. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Einem in Frankreich anerkannt Schutzberechtigten droht bei einer Rückkehr nach Frankreich keine gegen Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht, Afghanistan, Abschiebungsandrohung nach Frankreich, in Frankreich anerkannter Schutzberechtigter, keine systemischen Schwachstellen in Frankreich, Asyl, Frankreich, internationaler Schutz, Flüchtlingsstatus, Rückführung
Fundstelle:
BeckRS 2022, 34250
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
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Der Kläger, seinen eigenen Angaben nach afghanischer Staatangehöriger vom Volk der Tadschiken sowie sunnitischen Glaubens, reiste bereits im Jahre 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte bereits am 15. Juli 2016 einen Asylantrag. Dessen bestandskräftige Ablehnung erging mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 18. März 2019 (BayVGH, B.v. 18.3.2019 - 13a ZB 18.32049).
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Am 7. März 2022 reiste der Kläger erneut in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 8. Juni 2022 erneut die Durchführung eines Asylverfahrens. Anhand einer EURODAC-Abfrage des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend: Bundesamt) wurde festgestellt, dass der Kläger am 10. August 2021 in Frankreich einen Asylantrag gestellt hat. Ein (auf Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO gestütztes) Übernahmeersuchen des Bundesamtes gegenüber Frankreich wurde abgelehnt und mit Schreiben der französischen Behörden vom 27. Juni 2022 mitgeteilt, dass dem Kläger am 20. Mai 2022 in Frankreich der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden sei. Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt gab der Kläger im Wesentlichen an, dass er 3 ½ Jahre die Berufsschule in Deutschland besucht und eine Ausbildung gemacht habe. Er habe die Abschlussprüfung nicht geschafft und nicht arbeiten gedurft. Er habe Angst gehabt, abgeschoben zu werden und sei deshalb nach Frankreich ausgereist. Dort sei er von der Polizei kontrolliert und zurück nach Deutschland geschickt worden. Er habe in Frankreich nur einen Termin gehabt, aber kein Gespräch geführt. Er habe dort keinen Anwalt gehabt. Man habe zu ihm gesagt, dass sein Interview in Deutschland stattfinde. Es könne - auf entsprechenden Vorhalt hin - nicht sein, dass er am 22. Mai 2022 (wohl 20. Mai 2022 gemeint) in Frankreich einen Schutzstatus zuerkannt bekommen habe. Er sei zu diesem Datum nicht in Frankreich gewesen. Er sei ab dem 15. Februar 2022 in Deutschland gewesen. In Frankreich habe er in Paris in einem kleinen Zelt unter einer Brücke geschlafen. Er sei dort nicht unterstützt worden. Er habe sich dort circa 4 bis 5 Monate aufgehalten und selbst finanziert. Er habe keine Arbeitserlaubnis gehabt. In Deutschland habe er mehrere Jahre als Servicekraft gearbeitet. Er spreche u.a. etwas Englisch und Französisch und Deutsch. Er habe gleich von Anfang an nach Deutschland kommen wollen. In Frankreich habe er diverse Schwierigkeiten bekommen, er habe z.B. nicht arbeiten dürfen. Er habe ständig Angst gehabt, abgeschoben zu werden. In Frankreich gefalle ihm die Kultur und Gesellschaft nicht. Im Allgemeinen wolle er nicht gerne in Frankreich sein und leben. Er habe keine körperlichen Beschwerden. Manchmal vergesse er Sachen - (er habe) eine Konzentrationsschwäche.
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Mit Bescheid vom 31. August 2022 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab (Ziffer 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2). In Ziffer 3 wurde dem Kläger insbesondere die Abschiebung nach Frankreich angedroht. Zudem wurde festgestellt, dass er nicht nach Afghanistan abgeschoben werden darf. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4). Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung wurde ausgesetzt (Ziffer 5). Ziffer 5 des Bescheids vom 26. Mai 2017 (Abschiebungsandrohung nach Afghanistan) wurde aufgehoben (Ziffer 6). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
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Hiergegen ließ der Kläger Klage erheben und beantragen,
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den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 31. August 2022, Gz.:, aufzuheben,
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hilfsweise, im Falle des Klägers das Bestehen von Abschiebungshindernissen gem. § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG festzustellen.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass sich der Kläger aus Angst vor einer Abschiebung nach Frankreich begeben, sich dort einige Monate aufgehalten, in einem kleinen Zelt unter einer Brücke geschlafen habe und nach einer polizeilichen Kontrolle wieder zurück nach Deutschland geschickt worden wäre. Von der im Bescheid des Bundesamtes erwähnten Zuerkennung des internationalen Schutzes in Frankreich habe er keine Kenntnis. Unabhängig hiervon hätte eine solche Entscheidung nicht ergehen dürfen, da dem französischen Staat hierfür auf Grund der Dublin-Regularien die Zuständigkeit gefehlt habe. Die Zuerkennung des internationalen Schutzes durch die französischen Behörden sei aber auch deshalb unbeachtlich, weil das französische Asylverfahren an systemischen Mängeln leide. Frankreich halte die Mindeststandards bei der Behandlung von Asylbewerbern nicht ein. Die für die Aufnahme aller Asylbewerber notwendigen Einrichtungen seien nicht vorhanden. Aus diesem Grund müsse eine große Anzahl von Asylbewerbern auf der Straße übernachten. Eine private Unterkunft könne von dem Betrag, den der französische Staat den Asylbewerbern für Unterkunft, Verpflegung und weitere grundlegende Bedürfnisse zur Verfügung stelle, nicht finanziert werden. Auch nach einer etwaigen Zuerkennung internationalen Schutzes in Frankreich würden dem Kläger dort Nachteile i.S.v. Art. 4 GRCh drohen. Anträge von Dublin-Rückkehrern würden in Frankreich zwar grundsätzlich wie die übrigen Asylanträge behandelt, jedoch würden sich die Bedingungen zur Unterstützung und von Hilfeleistungen für Dublin-Rückkehrer als überaus kompliziert erweisen. Sowohl an den Flughäfen Charles-De-Gaulle als auch Saint-Exupery werde nach Frankreich rücküberstellten Asylsuchenden im Regelfall nur mitgeteilt, an welche Präfektur oder PADA sie sich zwecks Registrierung zu wenden hätten, ohne hingegen den Transport dorthin zu organisieren oder zu finanzieren.
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Die Beklagte beantragt,
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Die Beklagte legte die Behördenakte vor und bezog sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.
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Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 3. November 2022 (Kläger) bzw. vom 7. November 2022 (Beklagte) auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
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Mit Beschluss vom 7. November 2022 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
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Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Behördenakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die (jedenfalls bei sachgerechter Auslegung) zulässige Klage, über die gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte, ist im nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt unbegründet.
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Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig (Ziffer 1), die Feststellung des Nichtvorliegens von Abschiebungsverboten (Ziffer 2), die Abschiebungsandrohung insbesondere nach Frankreich (Ziffer 3) und das Einreise- und Aufenthaltsverbot (Ziffer 4) begegnen keinen rechtlichen Bedenken. Vor dem Hintergrund, dass gegen Ziffer 5 kein Klagerecht besteht, ist bei sachgerechter Auslegung davon auszugehen, dass sich die Klage nicht gegen Ziffer 5 richtet. Ungeachtet der Frage, ob die Ziffer 6 des streitgegenständlichen Bescheids den Kläger überhaupt beschwert, ist diese rechtlich nicht zu beanstanden. Es wird in vollem Umfang Bezug genommen auf den Bescheid vom 31. August 2022 (§ 77 Abs. 2 AsylG) sowie lediglich ergänzend ausgeführt:
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1. Ziffer 1 des angegriffenen Bescheides ist rechtmäßig. Die Beklagte hat zu Recht entschieden, dass der Asylantrag unzulässig ist. Die Unzulässigkeitsentscheidung wurde von der Beklagten zutreffend auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützt. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Insoweit nimmt das Gericht Bezug auf das entsprechende Schreiben der französischen Behörden, wonach dem Kläger am 20. Mai 2022 in Frankreich internationaler Schutz in Form des Flüchtlingsstatus gewährt worden ist. Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger der internationale Schutz in Frankreich mittlerweile entzogen wurde oder dieser erloschen ist, sind weder (substantiiert) vorgetragen noch ersichtlich. Der Schutzstatus wird unbefristet gewährt und bleibt unabhängig vom Aufenthaltsort bis zu einer förmlichen Beendigung bestehen (vgl. hierzu auch die Regelungen der RL 2011/95/EU). Soweit der Kläger der Sache nach angegeben hat, dass er in Frankreich weder einen Asylantrag gestellt noch eine Anhörung zu seinem Fluchtgründen gehabt habe (bzw. auch nichts von einer Asylentscheidung wisse), so ist das unsubstantiierte Vorbringen als eine bloße Schutzbehauptung zu werten, zumal auch nicht ansatzweise ersichtlich ist, aus welchem Grunde der französische Staat den Kläger ohne einen entsprechenden Antrag bzw. eine Anhörung als Flüchtling anerkennen sollte. Hintergrund dieser Aussage ist nach Überzeugung des Gerichts vielmehr, dass das Fluchtziel von vornherein Deutschland gewesen ist, wie auch der Kläger im Rahmen seiner Befragung beim Bundesamt sinngemäß angegeben hat.
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Dessen ungeachtet ist allein maßgeblich, dass dem Kläger gemäß dem Schreiben der französischen Behörden in Frankreich internationaler Schutz zuerkannt wurde (sowie ferner auch kein Entzug oder Erlöschen des internationalen Schutzes in Frankreich ersichtlich ist). Demnach findet keine erneute inhaltliche Prüfung des Asylantrags des Klägers in Deutschland statt. Vielmehr ist der Asylantrag als unzulässig abzulehnen und der Kläger in den Staat zurückzuführen, in dem er Schutz gefunden hat. Der bloße Wunsch, in Deutschland zu bleiben, steht dieser Entscheidung nicht entgegen, da weder aus dem Völker- noch aus dem Unionsrecht ein Recht auf freie Wahl des Zufluchtslandes folgt. Es liegt hierbei allein im Zuständigkeitsbereich der französischen Behörden (bzw. Gerichte) die Rechtmäßigkeit bzw. ein Erlöschen und/ oder einen Widerruf etc. des von Frankreich zuerkannten internationalen Schutzes festzustellen. Die französischen Behörden gehen nach dem in Bezug genommen Schreiben von einem Bestehen eines Flüchtlingsschutzes aus, was der vorliegenden Entscheidung zugrunde zu legen war. Dafür streitet schließlich der europarechtliche Hintergrund von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG bzw. der verfahrensbeschleunigende Zweck der Vorschrift (vgl. BeckOK, Ausländerrecht, 34. Ed., Stand: 1. Juli 2022, § 29 AsylG Rn. 1 ff.; Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 29 AsylG Rn. 1 ff.).
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2. Unionsrecht steht dem sich daraus ergebenden Befund, dass der beim Bundesamt gestellte Asylantrag des Klägers unzulässig ist, nicht entgegen. Denn die einschlägige RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 bestimmt in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a, dass die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten können, wenn bereits ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat. Dies gilt nur dann nicht, wenn die Lebensverhältnisse, die den betreffenden Asylbewerber in dem anderen Staat als international Schutzberechtigten erwarten, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK zu erfahren (EuGH, B.v. 13.11.2019 - C-540/17 und C-541/17 - juris Rn. 43).
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Eine auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützte Unzulässigkeitsentscheidung ist mithin rechtswidrig mit der Folge, dass das Asylgesuch in der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen eines neuen Asylverfahrens zu prüfen ist, wenn der Schutzsuchende in dem Mitgliedstaat, in dem er bereits internationalen Schutz erlangt hat, der ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, eine Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung im vorstehend genannten Sinne zu erfahren. Eine solche Gefahr besteht zur Überzeugung des Gerichts indessen für den Kläger nicht.
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a) Im Kontext des gemeinsamen Europäischen Asylsystems gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Antragsteller und Schutzberechtigten in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der GRCh, der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht. Jedoch kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass ein ernsthaftes Risiko besteht, dass Antragsteller oder Schutzberechtigte bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt würden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist (vgl. dazu EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-163/17 - juris Rn. 82 ff.).
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Art. 4 GRCh - aus Art. 3 EMRK ergibt sich insoweit kein anderer Maßstab - ist dahin auszulegen, dass er einer Überstellung entgegensteht, wenn das zuständige Gericht auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben feststellt, dass dieser Betroffene einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 4 GRCh zu erfahren, weil er sich im Fall der Überstellung unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-163/17 - juris Rn. 98; B.v. 13.11.2019 - C-540 und 541/17 - juris Rn. 39; vgl. auch BVerfG, B.v. 10.10.2019 - 2 BvR 1380/19 - juris Rn. 15).
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Für die Anwendung des Art. 4 GRCh ist es gleichgültig, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person auf Grund ihrer Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren. Die Überstellung eines Antragstellers oder Schutzberechtigten in einen Mitgliedstaat ist in all jenen Situationen ausgeschlossen, in denen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass er bei seiner Überstellung oder infolge seiner Überstellung eine solche Gefahr laufen wird. Insoweit ist das zuständige Gericht verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen. Derartige Schwachstellen fallen nur dann unter Art. 4 GRCh, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit ist erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hat, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-163/17 - juris Rn. 87 ff.).
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Große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person reichen nicht aus, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind. Das Fehlen familiärer Solidarität ist keine ausreichende Grundlage für die Feststellung einer Situation extremer materieller Not. Auch Mängel bei der Durchführung von Programmen zur Integration von Schutzberechtigten reichen für einen Verstoß gegen Art. 4 GRCh nicht aus. Schließlich kann der bloße Umstand, dass im ersuchenden Mitgliedstaat die Sozialhilfeleistungen und/ oder die Lebensverhältnisse günstiger sind als im normalerweise zuständigen Mitgliedstaat, nicht die Schlussfolgerung stützen, dass die betreffende Person im Fall ihrer Überstellung tatsächlich der Gefahr ausgesetzt ist, eine gegen Art. 4 GRCh verstoßende Behandlung zu erfahren (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-163/17 - juris Rn. 93 ff.; B.v. 13.11.2019 - C-540 und 541/17 - juris Rn. 39). Ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh liegt erst vor, wenn die elementarsten Bedürfnisse nicht befriedigt werden können, insbesondere eine Unterkunft zu finden, sich zu ernähren und zu waschen („Bett, Brot, Seife“) (vgl. statt vieler VGH BW, B.v. 27.5.2019 - A 4 S 1329/19 - juris Rn. 5).
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b) Ausgehend von den vorstehend dargestellten Maßstäben und im Einklang mit der soweit ersichtlich überwiegenden Ansicht in der Rechtsprechung droht dem Kläger als in Frankreich anerkannt Schutzberechtigten bei einer Rückkehr nach Frankreich keine gegen Art. 4 GRCh respektive Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung (vgl. je m.w.N. VG des Saarlandes, B.v. 18.8.2022 - 3 L 923/22 - juris; VG Minden, B.v. 13.7.2022 - 12 L 238/22.A - juris; vgl. auch etwa VG Ansbach, B.v. 18.6.2021 - AN 17 S 21.50072 - BeckRS 2021, 16835; VG Würzburg, B.v. 15.6.2020 - W 8 S 20.50166 - juris).
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aa) Die Lebensbedingungen von Personen mit zuerkanntem Schutzstatus in Frankreich sind ausreichend. Weder ist eine Verletzung der in Art. 26 ff. der RL 2011/95/EU vorgesehenen Gleichbehandlungsgebote erkennbar, noch herrschen in Frankreich derart eklatante Missstände, welche die Annahme rechtfertigen, anerkannte Schutzberechtigte werden einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK ausgesetzt. Auch insoweit wird in vollem Umfang Bezug genommen auf den streitgegenständlichen Bescheid (§ 77 Abs. 2 AsylG) sowie lediglich ergänzend ausgeführt:
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Nach einer Anerkennung wird Flüchtlingen ein Aufenthaltstitel mit einer Gültigkeit von zehn Jahren verliehen, subsidiär Schutzberechtigte erhalten eine für vier Jahre gültige Aufenthaltserlaubnis, die verlängert werden kann (vgl. Asylum Information Database [AIDA], Country Report: France, Update 2021, S. 144, vgl. auch zur Möglichkeit einer Einbürgerung: ebd. S. 146 f.). Anerkannte Schutzberechtigte, welche während des Asylverfahrens untergebracht waren, können nach der Schutzgewährung weitere drei Monate in der bisherigen Unterkunft verbleiben. Eine Verlängerung um weitere drei Monate ist möglich. Nach der Anerkennung müssen sie einen Willkommens- und Integrationsvertrag unterschreiben, im Rahmen dessen die Möglichkeit einer (weiteren) temporären Unterbringung für neun Monate in einem hierfür vorgesehenen Zentrum besteht, die wiederum für drei Monate verlängerbar ist. Die staatlichen Integrationsmaßnahmen sind für sich genommen zwar nicht ausreichend, werden allerdings durch solche von Nichtregierungsorganisationen ergänzt (vgl. dazu Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich [BFA], Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Frankreich, Stand: 29. Januar 2018, S. 12 f.).
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Anerkannte Schutzberechtigte haben ebenso wie französische Staatsbürger Zugang zum Arbeitsmarkt, wobei u.U. tatsächliche Hürden, wie mangelnde Sprachkenntnisse, bestehen können (vgl. AIDA a.a.O., S. 141 ff.; BFA a.a.O., S. 13). Ferner genießen anerkannte Schutzberechtigte in Frankreich Krankenversicherungsschutz und haben Zugang zu Sozialleistungen und Sozialwohnungen respektive verschiedenen Beihilfen in Bereichen wie etwa Familie, Wohnraum, Bildung, Behinderung, etc. (vgl. a.a.O.).
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bb) Unter Berücksichtigung vorstehender Ausführungen und Maßstäbe sind keine greifbaren stichhaltigen Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass im vorliegenden Fall dem Kläger - mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit - die Gefahr droht, durch die Lebensbedingungen in Frankreich einer Verletzung des Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK ausgesetzt zu sein. Es ist nicht entscheidungserheblich, welche Behandlung der Kläger, zumal als noch nicht anerkannt Schutzberechtigter, bei seinem bisherigen Aufenthalt in Frankreich erfahren hat, indem auf den Zeitpunkt der Entscheidung des beschließenden Gerichts (§ 77 Abs. 1 AsylG) abzustellen ist. Aus dem Vorbringen des Klägers lassen sich keine Rückschlüsse auf nach o.g. Maßstäben systemische Mängel ziehen. Sein Vorbringen bleibt im Ganzen schemenhaft. Das Vorbringen unterscheidet zudem nicht zwischen der Situation von Dublin-Rückkehrern einerseits und anerkannt Schutzberechtigten andererseits. Es kann vorliegend außerdem dahingestellt bleiben, ob das (schemenhafte bzw. unsubstantiierte) Vorbringen des Klägers bezüglich seiner Behandlung bzw. fehlenden Unterstützung in Frankreich glaubhaft ist, weil jedenfalls allein im Einzelfall des Klägers u.U. erfolgte Verstöße/ Grundrechtsverletzungen nicht geeignet sind, das Vorliegen systemischer Schwachstellen zu begründen. Im Übrigen wird hierzu auf die detaillierten Ausführungen im Bescheid Bezug genommen.
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Einzustellen ist auch, dass es sich beim Kläger um einen alleinstehenden, gesunden und jungen Mann handelt. Zu alldem tritt noch, dass der Kläger nach seinen eigenen Angaben auch die Landessprache spricht und ihm insofern eine Verständigung mit den Behörden sowie der Eintritt in den Arbeitsmarkt deutlich leichter fallen dürfte als sprachunkundigen Schutzberechtigten. Mit einer hilflosen Lage und Verelendung ist bei zuzumutender Eigeninitiative sowie Inanspruchnahme von Hilfeleistungen nicht mit der nach o.g. Maßstäben erforderlichen Wahrscheinlichkeit zu rechnen. Dem Kläger ist es - auch zur Vermeidung einer etwaigen Obdachlosigkeit - zudem zumutbar, die ihm in Frankreich gebotenen (Rechtsschutz-)Möglichkeiten bzw. ggf. „kompensierend“ Hilfemöglichkeiten durch Private bzw. NGOs zu ergreifen.
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3. Darüber hinaus ist auch die in Ziffer 2 des Bescheids getroffene Verneinung des Bestehens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG rechtmäßig. Angesichts dessen ist auch der gestellte Hilfsantrag unbegründet.
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Zunächst liegt kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vor. Die Voraussetzungen für ein solches Verbot sind nicht gegeben. Dazu wird auf obigen Ausführungen und auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheides erneut vollumfänglich Bezug genommen, § 77 Abs. 2 AsylG.
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Ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kommt ebenfalls nicht in Betracht, zumal der Kläger gegenüber dem Bundesamt der Sache nach angab, körperlich keine Beschwerden zu haben respektive behauptete psychische (weder lebensbedrohliche noch schwerwiegende) Beeinträchtigungen nicht durch ein qualifiziertes ärztliches Attest zu belegen vermag. Im Übrigen wird hierzu auf die detaillierten Ausführungen im Bescheid Bezug genommen.
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4. Die Abschiebungsandrohung (insbesondere) nach Frankreich in Ziffer 3 des angegriffenen Bescheides begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Sie wurde von der Beklagten zutreffend auf § 35 AsylG gestützt. Die Ausreisefrist von einer Woche ergibt sich aus § 36 Abs. 1 AsylG.
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5. Auch das in Ziffer 4 getroffene Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist nicht zu beanstanden. Nach Ansicht des Gerichts ist die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate angemessen (§ 11 Abs. 2 AufenthG). Die Befristung hält sich innerhalb des von § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eröffneten gesetzlichen Rahmens von bis zu fünf Jahren. Das ausweislich § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eröffnete Ermessen wurde erkannt und ermessensfehlerfrei ausgeübt.
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6. Ungeachtet der Frage, ob die Ziffer 6 des streitgegenständlichen Bescheids den Kläger überhaupt beschwert, ist auch diese (als Folgeentscheidung) rechtlich nicht zu beanstanden. Gesonderte Bedenken sind weder vorgetragen noch erkennbar.
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Die Klage war nach alledem mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.