Titel:
Erfolgloser Eilantrag des Nachbarn gegen Mehrfamilienhaus in Innenstadtlage
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5 S. 1, § 80a Abs. 3 S. 2, § 144 Abs. 4, § 146 Abs. 4 S. 6
BauGB § 31 Abs. 1, Abs. 2
Leitsätze:
Erscheint der Eintritt einer aufschiebenden Bedingung, unter der eine Baugenehmigung erteilt wurde, nicht unabsehbar, sondern vielmehr kurzfristig realisierbar, kann das Rechtsschutzinteresse für einen Antrag gemäß § 80a Abs. 3 Satz 2, § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO regelmäßig nicht versagt werden. (Rn. 9 – 10)
1. Ergibt die Prüfung im Beschwerdeverfahren, dass die tragende Begründung des Verwaltungsgerichts die Ablehnung eines Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht rechtfertigt, hat das Beschwerdegericht von Amts wegen zu prüfen, ob vorläufiger Rechtsschutz nach allgemeinen Maßstäben zu gewähren ist. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Nachbar, der seinerseits den erforderlichen Grenzabstand nicht einhält, kann nicht mit Erfolg die Verletzung des Grenzabstands beim Bauherrn rügen, wenn die Verletzung nachbarschützender Abstandsregelungen durch das angegriffene Vorhaben nicht schwerer wiegt als der eigene Verstoß und wenn in gefahrenrechtlicher Hinsicht keine völlig untragbaren Zustände entstehen. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbarklage, einstweiliger Rechtsschutz, Genehmigung unter Bedingungen, Rechtsschutzbedürfnis, Drittschutz (verneint), Rücksichtnahmegebot, Befreiung, unzulässige Rechtsausübung, Grenzabstand, Ensembleschutz
Vorinstanz:
VG Ansbach, Beschluss vom 05.08.2022 – AN 17 S 22.2569
Fundstelle:
BeckRS 2022, 34103
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragstellerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen, mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Die Antragstellerin wendet sich als Eigentümerin des in der Innenstadt der Antragsgegnerin gelegenen Grundstücks FlNr. …, Gemarkung A. gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit sieben Wohneinheiten auf dem westlich gelegenen Nachbargrundstück.
2
Das Grundstück der Antragstellerin ist mit einem zum Vorhabengrundstück (FlNr. …) hin grenzständig errichteten Mehrfamilienhaus (zwei Vollgeschosse mit ausgebautem Dachgeschoss) bebaut. Es grenzt - ebenso wie das Vorhabengrundstück - im Norden an die Straße „A. …“ und im Süden an die S. Straße. Das Gelände fällt in Nord-Süd-Richtung erheblich ab. Beide Grundstücke liegen im Bereich des geschützten Ensembles „Altstadt A. …“ sowie im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 12 „…“ der Antragsgegnerin, der als Art der baulichen Nutzung ein Mischgebiet festsetzt.
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Auf Antrag der Beigeladenen erteilte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 24. Mai 2022 eine Baugenehmigung zur Errichtung eines dreigeschossigen Mehrfamilienhauses, wobei das zum Grundstück der Antragstellerin hin grenzständig errichtete Untergeschoss nach Norden zur Straße „A. …“ aufgrund des Gefälles nicht in Erscheinung tritt. In der Baugenehmigung wurde von mehreren Festsetzungen des Bebauungsplans befreit (hinsichtlich der Grundflächenzahl von 1,21 statt 1,0, der Geschossflächenzahl von 0,67 statt 0,4 und der Zahl der Vollgeschosse von drei statt zwei mit zusätzlichem Dachgeschoss als Vollgeschoss) und es wurden mehrere Ausnahmen erteilt (Lage des Treppenhauses und des Aufzugsschachts außerhalb der Baugrenzen, Dachform Flachdach statt Dachneigung von mindestens 40 Grad, teilweise abweichende Fassadengestaltung, Einbau von Rollläden aus Kunststoff oder Metall sowie Ausführung der straßenseitigen Fenster nicht in Holz). Zudem wurde eine Abweichung in Bezug auf die inneren Abstandsflächen zu dem im Süden des Vorhabengrundstücks befindlichen Gebäudebestand zugelassen und zur Berechnung der Abstandsflächen zum Grundstück der Antragstellerin das Gelände auf dem Baugrundstück amtlich festgesetzt, unter Hinweis darauf, dass das ursprüngliche Gelände nicht mehr zweifelsfrei rekonstruierbar sei. In der Begründung wird zu den Abstandsflächen ausgeführt, dass hinsichtlich der Ebene der Untergeschosse ein Anbaurecht bestehe, das Erdgeschoss sowie das Obergeschoss aber die Abstandsflächen zum Grundstück der Antragstellerin einhielten. Dies ergibt sich auch aus dem Abstandsflächenplan, der Teil der Genehmigung wurde. Die Baugenehmigung wurde unter den aufschiebenden Bedingungen erteilt, dass zum einen der Stellplatzablösevertrag abgeschlossen und die Ablösesumme entrichtet ist und zum anderen eine Änderungsplanung in Bezug auf einen zu errichtenden Kinderspielplatz vorgelegt und genehmigt wird.
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Das Verwaltungsgericht hat den Antrag der Antragstellerin, der in der Sache darauf gerichtet war, die aufschiebende Wirkung der von ihr erhobenen Anfechtungsklage anzuordnen, mit Beschluss vom 5. August 2022 abgelehnt. Zur Begründung führte es aus, dass der Antrag bereits unzulässig sei, weil das Rechtsschutzbedürfnis fehle. Die Baugenehmigung stehe unter einer zweifach aufschiebenden Bedingung. Bis zu deren Eintritt könne die Beigeladene keinen Gebrauch von ihr machen. Es handle sich daher um vorbeugenden Rechtsschutz, wobei ein qualifiziertes Rechtsschutzinteresse nicht erkennbar sei. Im Übrigen sei der Antrag auch unbegründet, weil die Hauptsache mangels Verletzung nachbarschützender Vorschriften voraussichtlich ohne Erfolg bleibe, was im Einzelnen ausgeführt wurde.
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Mit ihrer Beschwerde verfolgt die Antragstellerin ihr Rechtsschutzbegehren weiter. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakten verwiesen.
6
Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Anfechtungsklage gegen den Baugenehmigungsbescheid vom 24. Mai 2022 im Ergebnis zu Recht abgelehnt.
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Der Verwaltungsgerichtshof prüft in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes bei Beschwerden gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO grundsätzlich nur die rechtzeitig und in der gebotenen Weise dargelegten Gründe. Erweisen sich die Beschwerdegründe als berechtigt, hat die Beschwerde aber nicht schon aus diesem Grund Erfolg. Vielmehr darf sich die angefochtene Entscheidung auch nicht aus anderen Gründen als richtig erweisen, was aus der entsprechenden Anwendung des § 144 Abs. 4 VwGO folgt (BayVGH, B.v. 21.5.2003 - 1 CS 03.60 - NVwZ 2004, 251; B.v. 8.5.2017 - 8 CS 17.432 - juris Rn. 11, jew. m.w.N.; vgl. auch OVG LSA, B.v. 18.4.2016 - 2 M 89/15 - juris Rn. 34). Ergibt die Prüfung etwa, dass die tragende Begründung des Verwaltungsgerichts die Ablehnung eines Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht rechtfertigt, hat das Beschwerdegericht von Amts wegen zu prüfen, ob vorläufiger Rechtsschutz nach allgemeinen Maßstäben zu gewähren ist (BayVGH, B.v. 10.12.2020 - 9 CS 20.892 - juris Rn. 45 m.w.N.).
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Die von der Antragstellerin dargelegten Beschwerdegründe (vgl. zur Notwendigkeit der Darlegung sowohl der Zulässigkeit als auch der Begründetheit des Antrags BayVGH, B.v. 10.12.2020 - 9 CS 20.892 - a.a.O. Rn. 23) greifen zwar durch, soweit sie sich gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts wenden, der Antrag sei mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig (1.), die angefochtene Entscheidung erweist sich aber aus anderen Gründen, die hier vom Verwaltungsgericht hilfsweise dargelegt worden sind, als richtig (2.).
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1. Das Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gemäß § 80a Abs. 3 Satz 2, § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist gegeben. Dem steht nicht entgegen, dass die angefochtene Baugenehmigung unter aufschiebenden Bedingungen steht und deshalb noch nicht in vollem Umfang ausgenutzt werden kann. Es reicht aus, dass der Bedingungseintritt nicht unabsehbar ist, sondern vielmehr kurzfristig realisierbar erscheint.
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Die in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verbürgte Effektivität des Rechtsschutzes gebietet es, in den Prozessordnungen Vorkehrungen dafür zu treffen, dass der Einzelne seine Rechte tatsächlich wirksam durchsetzen kann und die Folgen staatlicher Eingriffe im Regelfall nicht ohne gerichtliche Prüfung zu tragen hat. Mit diesem Gebot ist es grundsätzlich vereinbar, die Rechtsschutzgewährung von einem vorhandenen und fortbestehenden Rechtsschutzinteresse abhängig zu machen, das aus dem - auch im Prozessrecht geltenden - Gebot von Treu und Glauben (§ 242 BGB), aus dem Verbot des Missbrauchs prozessualer Rechte sowie aus dem auch für die Gerichte geltenden Grundsatz der Effizienz staatlichen Handelns abgeleitet wird (vgl. dazu umfassend BVerfG, B.v. 10.6.2020 - 2 BvR 297/20 - juris Rn. 12 f. m.w.N.). Es entfällt, wenn die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes für den jeweiligen Antragsteller ohne Nutzen ist. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung kann auch vorläufiger Rechtsschutz gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO nur gewährt werden, wenn die gerichtliche Entscheidung geeignet erscheint, die subjektive Rechtsstellung des Antragstellers zu verbessern (vgl. BVerwG, B.v. 25.4.2007 - 9 VR 4.07 - juris Rn. 3 m.w.N.), wovon im Regelfall auszugehen sein wird. Das Rechtsschutzbedürfnis fehlt jedoch ausnahmsweise, wenn die gerichtliche Eilentscheidung für den Antragsteller von vornherein nutzlos erscheint, weil die Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung zu keiner Verbesserung der Rechtsstellung des Antragstellers führen könnte, oder wenn auch ohne eine Entscheidung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO eine Vollziehung des Verwaltungsakts ausgeschlossen ist (vgl. BVerfG, B.v. 10.6.2020 - 2 BvR 297/20 - a.a.O. Rn. 14 m.w.N.). Hängt die (innere) Wirksamkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes von einer aufschiebenden Bedingung ab, kann das Rechtsschutzinteresse gerade in der Fallgruppe der Drittanfechtung einem Antragsteller nicht generell abgesprochen werden. Andernfalls wäre dieser gezwungen, von sich aus laufend nachzuforschen, ob die Bedingung eingetreten ist. Er müsste das Risiko tragen, dessen nicht rechtzeitig gewahr zu werden (NdsOVG, B.v. 19.1.2012 - 1 ME 188/11 - juris Rn. 19 f.; vgl. auch B.v. 9.8.2019 - 12 MS 34/19 - juris Rn. 14; Schoch in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand Febr. 2022, § 80 VwGO Rn. 494 m.w.N.) oder aus anderen Gründen keinen rechtzeitigen Rechtschutz erlangen zu können (vgl. zum Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses aufgrund vollendeter Tatsachen BayVGH, B.v. 17.11.2015 - 9 CS 15.17623 - juris Rn. 18). Etwas Anderes mag in Fällen gelten, in denen der Eintritt der aufschiebenden Bedingung noch nicht einmal absehbar ist (vgl. BayVGH, B.v. 25.5.2000 - 8 ZS 00.1297 - juris Rn. 2), in denen noch wesentliche Hindernisse entgegenstehen (vgl. NdsOVG, B.v. 9.8.2019 - 12 MS 34/19 - a.a.O.) oder in denen ein Genehmigungsinhaber zumindest bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens auf die Ausnutzung seiner Genehmigung ausdrücklich verzichtet (Külpmann in Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn.1062a m.w.N.), weil diese dem Ausschluss einer Vollziehung gleichstehen.
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Nach diesen Maßstäben kann der Antragstellerin das Rechtsschutzbedürfnis nicht mit der Begründung versagt werden, dass sie vorläufigen Rechtsschutz noch rechtzeitig genug beantragen könnte, wenn die aufschiebenden Bedingungen eingetreten sind. Die Vollziehung des Verwaltungsakts ist hier nicht ausgeschlossen und die Inanspruchnahme des gerichtlichen Rechtsschutzes würde sich nicht als nutzlos erweisen. Sowohl der Abschluss einer Stellplatzablösevereinbarung als auch die geringfügige Umplanung der Außenanlagen erscheinen vielmehr kurzfristig realisierbar. Gegenteiliges lässt sich auch dem Vortrag der Beigeladenen und der Antragsgegnerin nicht entnehmen. Dass das Verwaltungsgericht um Benachrichtigung gebeten hat, wenn die jeweilige Bedingung eingetreten ist, um dies der Antragstellerin umgehend mitzuteilen, ändert nichts daran, dass die derzeitige Verfolgung ihres Rechtsschutzziels nicht missbräuchlich im oben dargelegten Sinn erscheint. Die Antragstellerin muss sich vor allem nicht darauf verweisen lassen, dass nach Einschätzung des Verwaltungsgerichts vor Abschluss der Rohbauarbeiten über einen Eilantrag erstinstanzlich entschieden werden könnte. Eine solche zeitliche Abfolge mag zwar bei baurechtlichem Nachbarschutz der Regelfall sein, aus Sicht des Gebots des effektiven Rechtsschutzes spricht aber nichts dagegen, der Antragstellerin in der hier vorliegenden Konstellation die Möglichkeit der Rechtsverfolgung bereits vor Bedingungseintritt zu eröffnen. Zudem liegt es auch im Interesse der Beigeladenen als Bauherrin, frühzeitig Klarheit zu erlangen (vgl. NdsOVG, B.v. 9.8.2019 - 12 MS 34/19 - a.a.O. Rn. 20).
12
Die Antragstellerin begehrt - entgegen den Ausführungen im angefochtenen Beschluss - auch keinen vorbeugenden vorläufigen Rechtsschutz. Sie hat in der Hauptsache zu Recht eine Anfechtungsklage erhoben und gerade keine (vorbeugende) Unterlassungsklage gegen die Erteilung einer Baugenehmigung. Im Hinblick auf den Gewaltenteilungsgrundsatz (Art. 20 Abs. 2 GG) und den im Grundsatz reaktiv konzipierten Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) wäre in einem solchen Fall ein besonderes Rechtsschutzbedürfnis erforderlich gewesen (vgl. Puttler in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 123 Rn. 39, 71; Schoch, Verwaltungsrecht, a.a.O., § 123 VwGO Rn. 45, jew. m.w.N.). Hier richtet sich der Antrag aber gegen einen belastenden Verwaltungsakt, der (äußere) Wirksamkeit erlangt hat. Beide Fallgruppen sind nicht gleichzusetzen, weil die Verwaltung die streitgegenständliche Baugenehmigung bereits erteilt hat und nicht am Erlass gehindert werden soll. Der entsprechende Verweis in den Gründen des angefochtenen Beschlusses auf die von der Rechtsprechung für den vorbeugenden Rechtsschutz entwickelten Grundsätze überzeugt daher nicht.
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2. Bei der nach § 80a Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmenden Interessenabwägung müssen die Interessen der Antragstellerin an der vorläufigen Verhinderung der Bauausführung gegenüber dem Vollzugsinteresse der Beigeladenen hintanstehen, weil die in der Hauptsache erhobene Anfechtungsklage gegen die Baugenehmigung vom 24. Mai 2022 voraussichtlich keinen Erfolg haben wird. Dritte - wie hier die Antragstellerin als Nachbarin - können sich (auch im Verfahren gemäß § 80a Abs. 3 Satz 2, § 80 Abs. 5 VwGO) nur dann mit Aussicht auf Erfolg gegen eine Baugenehmigung zur Wehr setzen, wenn diese rechtswidrig ist und die Rechtswidrigkeit auf der Verletzung einer Norm beruht, die gerade dem Schutz der betreffenden Dritten zu dienen bestimmt ist (vgl. BayVGH, B.v. 30.7.2019 - 15 CS 19.1227 - juris Rn. 15; B.v 18.2.2020 - 15 CS 20.57 - juris Rn. 14, jew. m.w.N.).
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Das Verwaltungsgericht ist in den hilfsweise dargelegten Gründen - unter zutreffender Heranziehung dieser Maßstäbe - nachvollziehbar davon ausgegangen, dass drittschützende Vorschriften hier voraussichtlich nicht verletzt sind. Die dagegen von der Antragstellerin fristgerecht vorgebrachten Einwendungen (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) rechtfertigen keine Abänderung der Entscheidung.
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a) Das Verwaltungsgericht hat zu Recht eine Verletzung drittschützender Normen in Bezug auf die Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans zum Maß der baulichen Nutzung (hinsichtlich Grundflächenzahl, Geschossflächenzahl und Zahl der Vollgeschosse) verneint.
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Der Umfang des Rechtsschutzes eines Nachbarn bei Befreiungen gemäß § 31 Abs. 2 BauGB hängt davon ab, ob die jeweiligen Festsetzungen dem Nachbarschutz dienen oder nicht. Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung ist der Nachbar schon dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Befreiung rechtswidrig ist, weil eine der Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB nicht erfüllt ist. Soweit dagegen eine Befreiung eine Festsetzung zum Gegenstand hat, die nicht (auch) den Zweck hat, die Rechte der Nachbarn zu schützen, sondern nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer nachhaltigen städtebaulichen Entwicklung dient, richtet sich der Nachbarschutz lediglich nach den Grundsätzen des im Tatbestandsmerkmal „unter Würdigung nachbarlicher Interessen“ enthaltenen Rücksichtnahmegebots (vgl. § 31 Abs. 2 BauGB). Nachbarrechte werden in diesem Fall nicht schon dann verletzt, wenn die Befreiung aus irgendeinem Grund rechtswidrig ist, sondern nur dann, wenn der Nachbar durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (vgl. zum Ganzen BayVGH, B.v. 9.4.2021 - 9 CS 21.553 - juris Rn. 20 m.w.N.; B.v. 11.11.2021 - 9 ZB 21.2434 - juris Rn. 5).
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aa) Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die streitgegenständlichen Festsetzungen des Bebauungsplans zum Maß der baulichen Nutzung, die hier Gegenstand der Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB waren, nicht drittschützend sind (vgl. BayVGH, B.v. 27.7.2022 - 9 ZB 22.376 - juris Rn. 8).
18
Bei Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung steht dem Plangeber regelmäßig die Entscheidung frei: er kann diese auch zum Schutze des Nachbarn treffen oder ausschließlich objektiv-rechtlich ausgestalten (BayVGH, B.v. 16.3.2021 - 15 CS 21.545 - juris Rn. 56 m.w.N.). Ob sie nach seinem Willen nicht nur aus städtebaulichen Gründen getroffen wurden, sondern (zumindest auch) einem nachbarlichen Interessenausgleich dienen sollen, ist durch Auslegung des Schutzzwecks der jeweiligen Festsetzung im konkreten Einzelfall zu ermitteln (vgl. BayVGH, B.v. 18.6.2018 - 15 ZB 17.635 - juris Rn. 16 m.w.N.; B.v. 24.7.2020 - 15 CS 20.1332 - NVwZ-RR 2020, 961 = juris Rn. 23). Eine entsprechende Intention kann sich nicht nur unmittelbar aus dem Bebauungsplan selbst, sondern auch aus seiner Begründung, aus sonstigen Vorgängen im Zusammenhang mit der Planaufstellung oder aus einer wertenden Beurteilung des Festsetzungszusammenhangs ergeben (vgl. BayVGH, B.v. 11.8.2021 - 15 CS 21.1775 - juris Rn. 13; B.v. 11.11.2021 - 9 ZB 21.2434 - juris Rn. 7).
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Das Verwaltungsgericht hat dargelegt, dass sich ein planerischer Wille, wonach die entsprechenden Festsetzungen hier zumindest auch den nachbarlichen Interessen dienen sollen, nicht erkennen lässt. Die Beschwerdebegründung setzt sich mit den Gründen nicht näher auseinander und verweist lediglich pauschal auf den Regelungszusammenhang und die örtlichen Verhältnisse, was nicht überzeugt.
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bb) Ebenso hat das Verwaltungsgericht eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots (§ 31 Abs. 2 BauGB) nachvollziehbar verneint. Es ist zutreffend davon ausgegangen, dass die daraus resultierenden Anforderungen wesentlich von den Umständen des Einzelfalls abhängen (vgl. BayVGH, B.v. 9.2.2018 - 9 CS 17.2099 - juris Rn. 19 m.w.N.) und dass eine Rechtsverletzung wegen „abriegelnder“ oder „erdrückender“ Wirkung erst gegeben wäre, wenn nach der Gesamtschau der Umstände des konkreten Einzelfalls von dem Vorhaben eine unzumutbare Beeinträchtigung ausgeht, wie sie vor allem bei nach Höhe und Volumen „übergroßen“ Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden anzunehmen ist (vgl. BayVGH, B.v. 8.7.2021 - 9 ZB 20.1567 - juris Rn. 11 m.w.N.). Das ist angesichts der konkreten Grundstückssituation, des Umstandes, dass das Vorhabengebäude nicht wesentlich höher als das Bestandsgebäude der Antragstellerin ist, sowie der Tatsache, dass ihr eigenes Wohnhaus gegenüber dem Vorhabengrundstück grenzständig errichtet wurde und keine Abstandsflächen einhält, ersichtlich nicht der Fall.
21
Auch insofern beschränkt sich das Beschwerdevorbringen auf den Vortrag einer im Ergebnis abweichenden Rechtsauffassung, ohne im Einzelnen zu begründen, woraus sich der Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot ergeben soll.
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b) Entsprechendes gilt für die erteilte Ausnahme (§ 31 Abs. 1 BauGB) von den Festsetzungen des Bebauungsplans zur Dachform (vgl. zu den Maßstäben in Bezug auf den Nachbarschutz Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand April 2022, § 31 Rn. 68a). Auch insofern wird in der Beschwerdebegründung nicht dargelegt, woraus sich ein planerischer Wille, dass die entsprechenden Festsetzungen hier zumindest auch den nachbarlichen Interessen dienen sollen, ergeben könnte. Ebenso wenig ergibt sich aus dem Beschwerdevorbringen eine entsprechende Verletzung des Rücksichtnahmegebots.
23
c) Soweit sich die Antragstellerin dagegen wendet, dass sie unter dem Gesichtspunkt der unzulässigen Rechtsausübung jedenfalls gehindert ist, sich auf einen Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften aufgrund der grenzständigen Errichtung des Untergeschosses zu berufen (Festsetzung der offenen Bauweise im Bebauungsplan; Einhaltung der Abstandsflächenvorschriften), dringt sie ebenfalls nicht durch. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung rechtsmissbräuchlich handelt, wer unter Berufung auf das nachbarliche Austauschverhältnis eine eigene Nutzung schützen möchte, die ihrerseits das nachbarliche Austauschverhältnis stört (BVerwG, U.v. 9.8.2018 - 4 C 7.17 - NVwZ 2018, 1808 = juris Rn. 23 ff. m.w.N.). Ein Nachbar, der seinerseits den erforderlichen Grenzabstand nicht einhält, kann danach nicht mit Erfolg die Verletzung des Grenzabstands beim Bauherrn rügen, wenn die Verletzung nachbarschützender Abstandsregelungen durch das angegriffene Vorhaben nicht schwerer wiegt als der eigene Verstoß und wenn in gefahrenrechtlicher Hinsicht keine völlig untragbaren Zustände entstehen (BayVGH, U.v. 4.2.2011 - 1 BV 08.131 - juris Rn. 37; VGH BW, B.v. 29.9.2010 - 3 S 1752/10 - juris Rn. 5 m.w.N.).
24
Die Beschwerde stellt nicht in Abrede, dass diese Voraussetzungen vom Verwaltungsgericht zu Recht angenommen wurden. Soweit damit argumentiert wird, die grenzständige Bebauung sei durch die früheren Eigentümer des Vorhabengrundstücks geduldet worden und diese hätten keine Vorbehalte hinsichtlich der zukünftigen Bebauung auf ihrem Grundstück geäußert, überzeugt dies nicht. Die Antragstellerin muss sich aus objektiver Sicht die nicht in Abrede gestellten Verstöße gleichen Gewichts gegen die Abstandsflächenbestimmungen (Art. 6 BayBO) sowie gegen die Festsetzung der offenen Bauweise im Bebauungsplan zurechnen lassen. Der baurechtliche Nachbarschutz beruht auf dem Gedanken der gegenseitigen Rücksichtnahme. Seine Grundlage ist das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis, in dessen Rahmen jeder Eigentümer zugunsten seines Nachbarn bestimmten Beschränkungen unterworfen ist und im Austausch dafür verlangen kann, dass der Nachbar diese Beschränkungen gleichfalls beachtet. Aus diesem System nachbarlicher Ausgleichs- und Rücksichtnahmepflichten folgt, dass derjenige, der selbst mit seinem Gebäude den erforderlichen Grenzabstand (objektiv) nicht einhält, billigerweise nicht verlangen kann, dass der Nachbar die Abstandsfläche freihält (vgl. VGH BW, U.v. 18.11.2002 - 3 S 882/02 - juris Rn. 25 m.w.N.). Die ausdrückliche Erklärung von Vorbehalten in der Vergangenheit ist dagegen nach dieser Systematik nicht erforderlich. Schließlich ist auch nicht dargelegt worden, dass völlig untragbare Zustände entstehen könnten.
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d) Nach diesen Grundsätzen kann sich die Antragstellerin auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass das Vorhaben in Bezug auf das Erdgeschoss und die weiteren Geschosse gegen Bestimmungen des Abstandsflächenrechts verstößt, worauf das Verwaltungsgericht ebenfalls zutreffend abgestellt hat.
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Es hat im Übrigen - unter Verwies auf den Abstandsflächenplan als Bestandteil der Baugenehmigung - auch nachvollziehbar dargelegt, dass die Abstandsflächen (gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, Abs. 4 und 5 Satz 1 BayBO) insofern eingehalten werden. Die Kritik der Antragstellerin an der ausdrücklichen Festsetzung der Geländehöhe in der streitgegenständlichen Baugenehmigung, auf der die Bestimmung der Abstände beruht, verfängt bei summarischer Prüfung ebenfalls nicht. Die Tiefe der Abstandsfläche bemisst sich nach der Wandhöhe (Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO), also nach dem Maß von der natürlichen oder der festgelegten Geländeoberfläche bis zum Schnittpunkt der Wand mit der Dachhaut oder bis zum oberen Abschluss der Wand (Art. 6 Abs. 4 Satz 2 BayBO). Abzustellen ist hinsichtlich der natürlichen Geländeoberfläche auf die gewachsene und nicht auf die durch Aufschüttungen oder Abgrabungen veränderte Geländeoberfläche als unterer Bezugspunkt (vgl. BayVGH, B.v. 27.7.2021 - 1 CS 21.1294 - juris Rn. 9 m.w.N.). Dagegen, dass die Antragsgegnerin in der Baugenehmigung ausdrücklich eine Höhenfestlegung auf der Grundlage von Art. 54 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 BayBO (vgl. dazu BayVGH, B. 30.4.2007 - 1 CS 06.3335 - NVwZ-RR 08, 80 = juris Rn. 24; Molodovsky in Molodovsky/Famers/Waldmann, Bayerische Bauordnung, Stand April 2022, Art. 2 Rn. 98) getroffen hat, bestehen keine durchgreifenden Bedenken. Eine solche kommt etwa in Betracht, wenn die natürliche Oberfläche nach Abgrabungen oder Aufschüttungen in ihrem ursprünglichen Verlauf nicht mehr eindeutig feststellbar ist (vgl. BayVGH, B.v. 31.10.2008 - 14 CS 08.1970 - juris Rn. 23; Laser in Schwarzer/König, BayBO, 5. Aufl. 2022, Art. 6 Rn. 71). Zwar kann eine veränderte Geländeoberfläche nach längeren Zeiträumen, deren Dauer sich nach den Umständen des Einzelfalls bestimmt, zur natürlichen Geländeoberfläche werden (vgl. BayVGH, B.v. 17.4.2015 - 15 CS 14.2612 - juris Rn. 7; B.v. 27.7.2021 - 1 CS 21.1294 - juris Rn. 9 m.w.N.). Hier spricht aber Einiges dafür, dass der Geländeverlauf aufgrund von zwischenzeitlich vorgenommenen Abgrabungen nicht mehr eindeutig festgestellt werden kann. Ermessensfehler bei der Festsetzung wurden in der Beschwerde nicht aufgezeigt. Die Behauptung, es habe - entgegen den Ausführungen der Antragsgegnerin - seit längeren Zeiträumen keine Veränderungen der Geländeoberfläche gegeben, hat die Antragstellerin nicht näher dargelegt.
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e) Die in der Beschwerdebegründung erhobenen Rügen vermögen schließlich die Richtigkeit der Entscheidung hinsichtlich der Verneinung eines Verstoßes gegen das drittschützende Rücksichtnahmegebot auch im Übrigen (vgl. bereits unter a) und b)) nicht infrage zu stellen (vgl. zu den Anforderungen BayVGH, B.v. 22.1.2020 - 15 ZB 18.2547 - juris Rn. 11 m.w.N.). Dies gilt auch im Hinblick auf Wertminderungen, auf den Ensembleschutz sowie auf die geltend gemachten ästhetischen Beeinträchtigungen des klägerischen Anwesens.
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Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs kann selbst der Eigentümer eines Baudenkmals in seinen Rechten (nach dem Landesdenkmalrecht) nur dann verletzt sein, wenn ein genehmigtes Vorhaben die Denkmalwürdigkeit erheblich beeinträchtigt. Neue Vorhaben müssen sich an dem Denkmal messen lassen und dürfen es nicht gleichsam erdrücken, verdrängen oder die gebotene Achtung gegenüber den in ihm verkörperten Werten vermissen lassen. Die genannten Merkmale müssen in schwerwiegender Weise gegeben sein, damit von einer erheblichen Beeinträchtigung gesprochen werden kann (vgl. BayVGH, B.v. 22.1.2020 - 15 ZB 18.2547 - a.a.O. Rn. 43 m.w.N.). Dass diese Voraussetzungen erfüllt wären, hat die Antragstellerin nicht dargelegt. Für eine Heranziehung des Rücksichtnahmegebots bleibt daher jedenfalls aus tatsächlichen Gründen kein Raum. Hinzu kommt, dass ihr Anwesen kein Baudenkmal im Sinn des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 BayDSchG darstellt, sondern lediglich am Ensembleschutz gemäß Art. 2 Abs. 3 BayDSchG (Altstadt A. …, Aktennr. …) teilnimmt, und dass angesichts des Anbaus im Süden (mit breiten Glasfronten und verglasten Terassenüberdachungen) sowie der verglasten Elemente zur Straße A. … (vgl. zu beiden Behördenakte, Aktennr. 19001215, S. 35, 91) das Vorhaben der Beigeladenen kaum als beeinträchtigend empfunden werden kann.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. Nr. 1.5 und 9.7.1 des Streitwertkatalogs. Sie entspricht der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwendungen erhoben wurden.
30
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).