Titel:
Fehlendes Bleibeinteresse trotz Schutzes der Familie
Normenketten:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 2, § 55 Abs. 1 Nr. 4
FreizügG/EU § 6 Abs. 5
GG Art. 6 Abs. 1, Abs. 2
EMRK Art. 8
Leitsatz:
Wenn ein Elternteil sich in Haft befindet und keine häusliche Gemeinschaft mit den Kindern besteht, stellt die ausweisungsbedingte Trennung vom Elternteil keine grundlegende Umwälzung der bisherigen Lebensbedingungen dar. (Rn. 4 – 5) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung, Gefahrenprognose, Feststellungen in psychiatrischem Fachgutachten, Indizwirkung (hier verneint), Interessenabwägung, Beziehung zu Kindern (mit deutscher Staatsangehörigkeit), Anwendbarkeit des Schutzniveaus des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU (verneint), Verhältnismäßigkeit, Haft, Lebensbedingungen, Trennung, häusliche Gemeinschaft, Kinder
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 24.03.2022 – M 12 K 21.3796
Fundstelle:
BeckRS 2022, 34006
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.
Gründe
1
Der Antrag auf Zulassung der Berufung, mit dem der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des streitgegenständlichen Ausweisungsbescheids der Beklagten vom 17. Juni 2021 weiterverfolgt, ist unbegründet. Die Berufung ist nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.
2
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 - 1 BvR 814/09 - juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 - 1 BvR 2453/12 - juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 - 2 BvR 657/19 - juris Rn. 33). Dies ist jedoch nicht der Fall.
3
Der Einwand des Klägers, die nach § 53 Abs. 1 AufenthG angestellte Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts, das eine erhebliche Wahrscheinlichkeit der Begehung weiterer Straftaten durch den Kläger, insbesondere im Bereich der Körperverletzungsdelikte, angenommen habe, sei durch das später auf Ersuchen der Strafvollstreckungskammer erstellte psychiatrische Gutachten der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, forensische Psychiatrie, Dr. E. P. vom 30. Mai 2022 widerlegt, greift nicht durch. Zwar kommt dieses Gutachten zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass durch die beim Kläger festgestellten positiven Rückfallprädiktoren die bestehenden negativen Rückfallfaktoren kompensiert werden können, „wenn Herrn I. bei einer eventuellen bedingten Entlassung Beratungsgespräche bei einer Suchtberatungsstelle und ein Bewährungshelfer zur Auflage gemacht werden. Nur unter diesen Voraussetzungen kann von einer günstigen Sozial- und Legalprognose derzeit ausgegangen werden.“ Diese gutachterliche Bewertung wurde jedoch durch die zuständige Auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts A. im Beschluss vom 23. August 2022, mit dem die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes der gegen den Kläger mit Urteil des Landgerichts München I vom 14. August 2020 verhängten Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten abgelehnt worden ist, jedenfalls im Ergebnis nicht (uneingeschränkt) geteilt. Entgegen der Auffassung der Klägerseite hat die Strafvollstreckungskammer die Reststrafenaussetzung nicht nur deshalb abgelehnt, „weil die ausländerrechtliche Situation des Klägers nicht geklärt ist“. Vielmehr hat die Strafvollstreckungskammer zu Recht aufgrund der vom Kläger begangenen Anlassstraftat einer gefährlichen Körperverletzung und des besonders hohen Gewichts des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsgutes (Leben und Gesundheit) ein „sehr hohes Maß an Erfolgswahrscheinlichkeit für ein künftiges straffreies Leben“ des Klägers vorausgesetzt (differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab). Diesbezüglich hat die Strafvollstreckungskammer zutreffend auf die mehrfache strafrechtliche Delinquenz des Klägers, eine nicht unerhebliche disziplinarische Ahndung in der Justizvollzugsanstalt, wenig erfolgversprechende suchttherapeutische Maßnahmen aufgrund fehlenden Problembewusstseins des Klägers sowie vor allem fortbestehende Bagatellisierungstendenzen und sich daraus ergebende Zweifel an der Tataufarbeitung und seinem Schuld- und Unrechtsbewusstsein verwiesen und unter Berücksichtigung all dieser Umstände eine positive Legalprognose beim Kläger verneint. Demgemäß hat die Beklagte in ihrer Antragserwiderung zu Recht darauf verwiesen, dass den Feststellungen im Gutachten vom 30. Mai 2022 für die Gefahrenprognose keine entscheidende tatsächliche Bedeutung im Sinne einer Indizwirkung (zur Indizwirkung strafgerichtlicher Beurteilungen im Rahmen der Strafrestaussetzung zur Bewährung vgl. BVerfG, B.v. 6.12.2021 - 2 BvR 860/21 - juris Rn. 19 m.w.N.) zukommen kann und die behördliche und verwaltungsgerichtliche Gefahrenprognose damit nicht ernstlich in Zweifel gezogen werden kann.
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Nicht durchgreifend ist auch die Rüge, das Verwaltungsgericht habe das schwerwiegende Bleibeinteresse des Klägers aufgrund seines langjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet und seines Umgangs mit seinen minderjährigen deutschen Kindern nicht ausreichend gewürdigt und verkannt, dass auch die künftige Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft vom Schutzbereich des Art. 6 GG mitumfasst werde und ein weiterhin nur eingeschränkter Kontakt zu den Kindern mit deren Kindeswohl unvereinbar sei.
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Das Verwaltungsgericht hat ein schwerwiegendes Bleibeinteresse des Klägers gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG aufgrund der durch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK geschützten familiären Beziehung zu den beiden minderjährigen deutschen Kindern bejaht, diesem Bleibeinteresse bei der nach § 53 Abs. 1 AufenthG unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls (insbesondere auch der in Abs. 2 genannten Belange) vorzunehmenden Interessenabwägung jedoch kein ausschlaggebendes Gewicht beigemessen. Es hat dabei entgegen der Auffassung des Klägers den verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG nicht verkannt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes umfassend zu berücksichtigen. Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht können die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere dann haben, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. z.B. BVerfG, B.v. 6.12.2021 - 2 BvR 860/21 - juris Rn. 41 ff. m.w.N). Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat das Verwaltungsgericht zu Recht festgestellt, dass die Kinder des Klägers mit 7 und 13 Jahren grundsätzlich alt genug sind, um zu verstehen, dass eine Trennung vom Vater nur vorübergehender Natur ist. In rechtlich nicht zu beanstandender Weise hat das Verwaltungsgericht auch berücksichtigt, dass sich der Kläger, der bereits seit 2015 nicht mehr in häuslicher Gemeinschaft mit seinen Kindern lebt, seit Juli 2019 in Haft befindet und seither nur monatliche Besuchskontakte (des Sohns und der Tochter) stattfinden. Auch die Folgerung des Verwaltungsgerichts, dass kurze Besuchs- und fernmündliche Kontakte für die Kinder bereits seit geraumer Zeit gelebte Realität darstellen und eine ausweisungsbedingte Trennung vom Vater für sie deshalb keine „grundlegende Umwälzung ihrer bisherigen Lebensbedingungen bewirkt“, ist unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Schutzes dieser familiären Bindungen grundsätzlich tragfähig. Mit diesen einzelfallbezogenen Erwägungen des Verwaltungsgerichts setzt sich die Zulassungsbegründung nicht substantiiert auseinander. Der bloße Hinweis, dass der Kläger nach seiner Haftentlassung (möglicherweise) die familiäre Lebensgemeinschaft mit seinen Kindern wiederherstellen werde und sich die Schutzwürdigkeit der familiären Beziehungen zu den Kindern nicht nur an der Vergangenheit orientieren dürfe, ist nicht geeignet, die konkrete Interessenabwägung und das Abwägungsergebnis des Verwaltungsgerichts auch mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 und 2 GG ernstlich in Zweifel zu ziehen.
6
Der Einwand, das Schutzniveau des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU müsse unter Berücksichtigung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auch für ausländische Angehörige deutscher Kinder wie den Kläger gelten, ist ebenfalls nicht geeignet, die angefochtene Entscheidung ernstlich infrage zu stellen. § 6 FreizügG/EU konkretisiert den ordre-pub-lic-Vorbehalt (s. Art. 45 Abs. 3, Art. 52 Abs. 1 AEUV), unter dem die Freizügigkeit der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen bereits kraft Gemeinschaftsrechts steht, indem die materiellen Vorgaben aus der RL 2004/38/EG wie auch der RL 64/221/EWG und vor allem der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) in nationales Recht umgesetzt werden (vgl. Kurzidem in BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, Stand 1.1.2021, FreizügG/EU § 6 Rn. 1). Ausgehend von der Erwägung, dass der Schutz vor Ausweisung in dem Maße zunehmen sollte, wie die Unionsbürger und ihre Familienangehörigen in den Aufnahmemitgliedstaat stärker integriert sind (vgl. Erwägungsgrund Nr. 24 RL 2004/38/EG) bestimmt Art. 28 Abs. 3 Buchst. a) RL 2004/38/EG, den der nationale Gesetzgeber mit § 6 Abs. 5 FreizügG/EU umgesetzt hat, dass gegen Unionsbürger eine Ausweisung nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit verfügt werden darf, wenn sie ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben (vgl. auch EuGH, U.v. 17.4.2018 - C-316/16 und C-424/16, B und Vomero - juris Rn. 47). Art. 28 Abs. 3 Buchst. a) RL 2004/38/EG gewährt somit einen besonders verstärkten Ausweisungsschutz für Unionsbürger, die im Aufnahmemitgliedstaat über ein Recht auf Daueraufenthalt im Sinne von Art. 16 und Art. 28 Abs. 2 dieser Richtlinie verfügen und in den letzten zehn Jahren vor der Ausweisungsverfügung sich in diesem Mitgliedstaat aufgehalten haben (EuGH, U.v. 17.4.2018 - C-316/16 und C-424/16, B und Vomero - juris Rn. 64). Dieses System aufeinander aufbauender Schutzstufen ist damit Ausfluss einer fortschreitenden Integration des Unionsbürgers (vgl. Dienelt im Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, FreizügG/EU § 6 Rn. 74 m.w.N.) und nicht des Schutzes von Ehe und Familie gemäß Art. 6 GG und Art. 8 EMRK. Eine entsprechende Anwendung des Schutzniveaus des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU auf den drittstaatsangehörigen Kläger aufgrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes kommt schon deshalb nicht in Betracht. Unabhängig davon wird von Klägerseite auch ausgeblendet, dass selbst im Anwendungsbereich des Art. 28 Abs. 3 Buchst. a) RL 2004/38/EG ein Zeitraum der Verbüßung einer Freiheitsstrafe durch den Betroffenen grundsätzlich geeignet ist, die Kontinuität des Aufenthalts im Sinne dieser Bestimmung zu unterbrechen und sich damit auf die Gewährung des dort vorgesehenen verstärkten Schutzes auch in dem Fall auszuwirken, dass sich diese Person vor dem Freiheitsentzug zehn Jahre lang im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat (EuGH, U.v. 16.1.2014 - C-400/12 - juris Rn. 38; U.v. 17.4.2018 - C-316/16 u. C-424/16 - juris Rn. 70).
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Soweit der Kläger schließlich noch geltend macht, aufgrund des vorgelegten Gutachtens stehe jedenfalls fest, dass seine Ausweisung unverhältnismäßig sei, weil sie nicht das mildeste Mittel darstelle, vielmehr könne „einer Wiederholungsgefahr … mit geeigneten Auflagen ohne weiteres entgegengewirkt werden“, ist sein Vorbringen unsubstantiiert und vermag die Abwägungsentscheidung des Verwaltungsgerichts nach § 53 Abs. 1 AufenthG auch aus den bereits dargelegten Gründen nicht ernstlich in Zweifel zu ziehen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).