Inhalt

OLG Bamberg, Hinweisbeschluss v. 11.11.2022 – 6 U 51/22
Titel:

Keine Haftung von Audi für den entwickelten, hergestellten und eingebauten 3,0-Liter-Motor (hier: VW Touareg V6 TDI)

Normenketten:
BGB § 823 Abs. 2, § 826
VO (EG) Nr. 715/2007 Art. 5 Abs. 2
VwVfG § 24 Abs. 1 S. 1, 2
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
Leitsätze:
1. Vgl. zu 3,0 Liter-Motoren von Audi mit unterschiedlichen Ergebnissen auch: BGH BeckRS 2021, 37683; BeckRS 2021, 41003; OLG Karlsruhe BeckRS 2021, 43408; OLG München BeckRS 2022, 18875; BeckRS 2022, 28198; OLG Nürnberg BeckRS 2022, 21211; LG Bamberg BeckRS 2022, 29502; LG Kempten BeckRS 2022, 28679; LG Nürnberg-Fürth BeckRS 2022, 30355; OLG Bamberg BeckRS 2022, 28703 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1) sowie OLG Brandenburg BeckRS 2021, 52227 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1). (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Verhalten der für einen Kraftfahrzeughersteller handelnden Personen ist nicht bereits deshalb als sittenwidrig zu qualifizieren, weil sie einen Fahrzeugtyp aufgrund einer grundlegenden unternehmerischen Entscheidung mit einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems ausgestattet und in den Verkehr gebracht haben. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Tatsache, dass ein Fahrzeug im normalen Fahrbetrieb höhere Emissionen aufweist als auf dem Prüfstand, ist allgemein bekannt; die für die Einhaltung im Prüfstandsverfahren gemessenen Werte entsprechen grundsätzlich auch ohne unzulässige Beeinflussung des Messverfahrens nicht den im Rahmen des tatsächlichen Gebrauchs des Fahrzeugs anfallenden Emissionswerten. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
4. Die Auffassung des Generalanwalts Rantos in seinen Schlussanträgen vom 02.06.2022 ist zum jetzigen Zeitpunkt weder für die deutschen Gerichte noch für den Gerichtshof der Europäischen Union rechtsverbindlich. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
5. Drohte für ein Fahrzeug keine Betriebsbeschränkung bzw. -untersagung, hat für den Käufer bei verständiger Würdigung gerade keine Situation bestanden, welche den Vertragsschluss als unvernünftig, den konkreten Vermögensinteressen nicht angemessen und damit als nachteilig erscheinen ließe. (Rn. 36 – 37) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, 3,0-Liter-Motor, Audi, Schadensersatz, sittenwidrig, unzulässige Abschalteinrichtung, Thermofenster, Prüfstand, normaler Fahrbetrieb, Schlussanträge des Generalanwaltes
Vorinstanz:
LG Würzburg, Endurteil vom 01.07.2022 – 14 O 263/22
Fundstellen:
MD 2023, 798
LSK 2022, 33515
BeckRS 2022, 33515

Tenor

1. Der Antrag des Klägers vom 26.08.2022 auf Aussetzung des Verfahrens wird abgelehnt.
2. Der Senat beabsichtigt, die Berufung des Klägers gegen das Endurteil des Landgerichts Würzburg vom 01.07.2022 gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.
Der Kläger erhält Gelegenheit zur Stellungnahme bis einschließlich 02.12.2022.

Entscheidungsgründe

I.
1
Der Kläger verlangt Schadensersatz von der Beklagten als Fahrzeugherstellerin nach dem Kauf eines Pkw.
2
Der Kläger erwarb am ...2018 von Firma ... einen gebrauchten Pkw VW Touareg V6 TDI, Abgasnorm EU 5, Kilometerstand: 137.000, zu einem Kaufpreis von 19.900,- Euro. Der Kläger nutzte das Fahrzeug in der Folgezeit. Am 15.06.2022 hatte der Pkw eine Fahrleistung von 169.180 km. Das Kraftfahrtbundesamt (KBA) hat das Emissionsverhalten des Fahrzeugs nicht beanstandet.
3
Der Kläger hat erstinstanzlich vorgetragen, dass die Beklagte ihn durch das Inverkehrbringen eines mit unzulässigen Abschalteinrichtungen ausgestatteten Motors vorsätzlich sittenwidrig geschädigt habe. Durch die voreingestellte Reduzierung der Abgasreinigung würde die zulässige Stickoxidausstoßmenge überschritten.
4
Der Kläger hat erstinstanzlich zuletzt die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe von mindestens 4.975,- Euro nebst Zinsen und die Freistellung von vorgerichtlichen Anwaltskosten beantragt.
5
Die Beklagte ist der Klage inhaltlich entgegengetreten.
6
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes, des Verfahrenshergangs und der Anträge in erster Instanz wird auf den Tatbestand des Ersturteils Bezug genommen.
7
Das Landgericht hat die Klage mit Endurteil vom 01.07.2022 abgewiesen. Der Kläger habe eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung nicht schlüssig und substantiiert dargelegt. Auch Ansprüche gemäß § 823 Abs. 2 BGB kämen nicht in Betracht.
8
Mit seiner Berufung wendet sich der Kläger gegen die Abweisung der Klage und beantragt nunmehr die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von 19.900,- Euro nebst Zinsen unter Anrechnung einer Nutzungsentschädigung, die Feststellung, dass sich die Beklagte mit der Annahme des Fahrzeugs im Annahmeverzug befinde und die Freistellung von vorgerichtlichen Anwaltskosten.
9
Er trägt vor, ihm stünden sowohl aus § 826 BGB als auch aus § 823 Abs. 2 ZPO Ansprüche zu.
10
Die Beklagte verteidigt das Ersturteil unter Aufrechterhaltung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrags.
11
Wegen des weiteren Parteivorbringens im Berufungsverfahren wird Bezug genommen auf die Berufungsbegründung, die Berufungserwiderung und die weiteren im Berufungsverfahren eingereichten Schriftsätze, jeweils mit Anlagen.
II.
12
Der Senat ist davon überzeugt, dass der Berufung des Klägers die Erfolgsaussicht fehlt und auch die weiteren Voraussetzungen für eine Entscheidung gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO vorliegen. Die gemäß §§ 511 ff. ZPO zulässige Berufung des Klägers erweist sich als unbegründet, weil ihm keine Ansprüche gegen die Beklagte zustehen. Zu Recht hat das Erstgericht die Klage abgewiesen. Auf die zutreffenden Gründe wird Bezug genommen.
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1. Einem Schadensersatzanspruch des Klägers aus § 826 BGB steht entgegen, dass es an der hinreichend substantiierten Darlegung eines vorsätzlichen und sittenwidrigen schädigenden Verhaltens der Beklagten fehlt.
14
a) Das Verhalten der für einen Kraftfahrzeughersteller handelnden Personen ist nicht bereits deshalb als sittenwidrig zu qualifizieren, weil sie einen Fahrzeugtyp aufgrund einer grundlegenden unternehmerischen Entscheidung mit einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems ausgestattet und in den Verkehr gebracht haben. Dies gilt auch dann, wenn mit der Entwicklung und dem Einsatz dieser Steuerung eine Kostensenkung und die Erzielung von Gewinn erstrebt wird (BGH, Beschluss vom 19.01.2021 - VI ZR 433/19 -, juris).
15
Von der Klagepartei wird nichts vorgetragen, was auf eine besondere Verwerflichkeit im Handeln der Beklagten schließen lässt. Die besondere Verwerflichkeit besteht, wenn dem Kraftfahrtbundesamt vorgespiegelt wird, das Fahrzeug werde auf dem Prüfstand unter den Motorbedingungen betrieben, die auch im normalen Fahrbetrieb zum Einsatz kommen oder im Typengenehmigungsverfahren unzutreffende Angaben über die Arbeitsweise des Abgasrückführungssystems gemacht werden (BGH, Beschluss vom 19.01.2021 - VI ZR 433/19, Rn. 18, 22) oder - bei einem implantierten Thermofenster - weitere Umstände hinzutreten, die das Verhalten der für die Beklagte handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen lassen (BGH, Beschluss vom 09.03.2021 - VI ZR 889/20, Rn. 28).
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b) Legt man diese Maßstäbe zugrunde, ergeben sich aus dem Vortrag des Klägers sowie den getroffenen Feststellungen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass das Verhalten der Beklagten in diesem Sinne als sittenwidrig zu qualifizieren ist.
17
aa) Dafür, dass in dem streitgegenständlichen Fahrzeug von der Beklagten eine sog. Prüfstandserkennungssoftware verbaut worden wäre, die bewusst und gewollt von der Beklagten so programmiert worden wäre, dass die gesetzlichen Abgasgrenzwerte nur auf dem Prüfstand beachtet, im normalen Fahrbetrieb hingegen überschritten werden (Umschaltlogik), und die damit unmittelbar auf die arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde abgezielt hätte, wie sie etwa dem BGH-Urteil vom 25. Mai 2020 (VI ZR 252/19, zum WV-Motor EA 189) zugrunde lag, fehlen hier hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte (vgl. OLG München, Beschluss vom 01. März 2021 - 8 U 4122/20 -, Rn. 33, juris).
18
(1) Nach den Feststellungen des Landgerichts wurde durch das Kraftfahrtbundesamt gerade keine unzulässige Abschalteinrichtung entsprechend der Baureihe EA 189 gerügt worden. Eine Beanstandung durch das KBA im Hinblick auf das streitgegenständliche Fahrzeug trägt der Kläger nicht substantiiert vor.
19
Der Senat geht nicht davon aus, dass ein Rückruf des KBA zwingend erforderlich wäre, um Anhaltspunkte für ein sittenwidriges Verhalten der Beklagten zu begründen. Ein Rückruf des KBA wegen einer nach dessen Ansicht unzulässigen Prüfstandserkennungssoftware würde allerdings regelmäßig einen hinreichenden Anhaltspunkt dafür darstellen, dass eine entsprechende unzulässige Abschalteinrichtung vorhanden ist. Fehlt es aber an einem solchen Rückruf, müssen die erforderlichen hinreichenden Anhaltspunkte in anderer Weise dargelegt werden (OLG München, Beschluss vom 01. März 2021 - 8 U 4122/20 -, Rn. 39, juris). Das ist dem Kläger nicht gelungen.
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Durch den Kläger wurden ferner keine Umstände vorgebracht, die auf eine Strategie der Beklagten schließen ließen, das Kraftfahrbundesamt durch die Verwendung der behaupteten Abschalteinrichtungen zu täuschen (vgl. OLG Bamberg, Urteil vom 14. April 2021 - 8 U 113/20). Wie, wann und wodurch die Beklagte das KBA konkret worüber getäuscht haben soll, wird seitens des Klägers weder konkret dargelegt noch werden hierfür tatsächliche Anhaltspunkte vorgebracht.
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(2) Auch bei eingehender Auseinandersetzung mit dem klägerischen Sachvortrag zur Akustikfunktion und zur Lenkwinkelerkennung unter Beachtung der vom BGH aufgestellten Maßstäbe verbleibt es bei der Bewertung, dass der Klägervortrag konkrete Anhaltspunkte dafür, für das Vorliegen einer Einrichtung im streitgegenständlichen Fahrzeug, die die Steuerungsbedingungen im normalen Fahrbetrieb anders regelt als auf dem Prüfstand, nicht aufzeigt und diese auch sonst nicht ersichtlich sind.
22
Ein auf die Programmierung des OBD gestützter Anspruch ist ausgeschlossen, soweit dieses im normalen Straßenverkehr sowie im Rahmen der Abgasuntersuchung und der Inspektion keine Fehlfunktion des Abgassystems anzeigt. Denn wenn - wie hier - die für die Typengenehmigung zuständige Behörde die vorgelegte Software in Kenntnis der darin enthaltenen Abschalteinrichtungen (insbesondere des Thermofensters) auch und gerade im Hinblick auf das dadurch beeinflusste weitere Emissionsverhalten absegnet, muss das OBD dies dergestalt nachvollziehen können, dass die Warnlampe im Realbetrieb gerade nicht schon dann anspringt, wenn die angebliche Grenzwertüberschreitung allein auf nach Ansicht des KBA zulässiges Verhalten zurückzuführen ist (vgl. OLG Karlsruhe, Urteil vom 30. Oktober 2020 - 17 U 296/19).
23
(3) Die Tatsache, dass ein Fahrzeug im normalen Fahrbetrieb höhere Emissionen aufweist als auf dem Prüfstand, begründet ebenfalls keinen Anhaltspunkt, sondern ist vielmehr allgemein bekannt. Die für die Einhaltung im Prüfstandsverfahren gemessenen Werte entsprechen grundsätzlich auch ohne unzulässige Beeinflussung des Messverfahrens nicht den im Rahmen des tatsächlichen Gebrauchs des Fahrzeugs anfallenden Emissionswerten (so auch OLG München, Endurteil vom 05.09.2019 - 14 U 416/19, BeckRS 2019, 26072 Rn. 168). Es ist allgemein bekannt, dass der Straßenbetrieb mit der Prüfstandsituation nicht vergleichbar ist. Dies gilt sowohl hinsichtlich der angegebenen Kraftstoffverbräuche als auch hinsichtlich der Grenzwerte für Emissionen. Auf dem Prüfstand wird eine bestimmte „ideale“, nicht der Praxis entsprechende Situation vorgegeben, etwa hinsichtlich der Umgebungstemperatur, der Kraftentfaltung (Beschleunigung und Geschwindigkeit) oder der Abschaltung der Klimaanlage, sodass der erzielte Wert zwar zu einer relativen Vergleichbarkeit unter den verschiedenen Fahrzeugfabrikaten und -modellen führen mag, absolut genommen aber jeweils nicht mit dem Straßenbetrieb übereinstimmt (OLG Stuttgart, Beschluss vom 14.12.2020 - 16a U 155/19 -, Rn. 59 - 60, juris).
24
bb) Der Vortrag der Klagepartei führt auch nicht zu einer sekundären Darlegungslast der Beklagten zu den technischen Gegebenheiten des streitgegenständlichen Fahrzeugs. Grundsätzlich trägt der Geschädigte, der sich auf einen Schadensersatzanspruch gemäß § 826 BGB beruft, die volle Darlegungs- und Beweislast für die Anspruchsvoraussetzungen (vgl. Zöller-Greger, ZPO, 33. Aufl., vor § 284 Rdnr. 34). Die Annahme einer sekundären Darlegungslast setzt voraus, dass der darlegungs- und beweisbelasteten Partei die nähere Darlegung nicht möglich oder nicht zumutbar ist, während die gegnerische Partei alle wesentlichen Tatsachen kennt oder es ihr zuzumuten ist, nähere Angaben zu machen. Die Voraussetzungen für eine sekundäre Darlegungslast der Beklagten sind hier nicht erfüllt. Um eine Ausforschung zu vermeiden, muss der unstreitige oder zu beweisende Vortrag des Beweispflichtigen greifbare Anhaltspunkte für seine Behauptung liefern (Zöller-Greger, a.a.O, m.w.N.). Daran fehlt es hier, wie bereits dargestellt.
25
cc) Schließlich fehlt es an jedwedem substantiierten Vortrag der Klagepartei hinsichtlich in Bezug auf die Entwicklung des streitgegenständlichen Motors im Konzern der Beklagten erfolgten Entscheidungsprozesse sowie die inhaltliche Auseinandersetzung der Organe der Beklagten mit den Voraussetzungen nach Art. 5 Abs. 2 EG-VO 715/2007. Dabei ist zu beachten, dass über eine Wissenszusammenrechnung kein Weg zu dem für das Merkmal der Sittenwidrigkeit im Sinne des § 826 BGB erforderlichen moralischen Unwerturteil (Senatsurteil vom 28. Juni 2016 - VI ZR 536/15, NJW 2017, 250 Rn. 13, 22 f., 27 mwN) führt. Die die Verwerflichkeit begründende bewusste Täuschung lässt sich nicht dadurch konstruieren, dass die im Hause der juristischen Person vorhandenen kognitiven Elemente „mosaikartig“ zusammengesetzt werden, weil eine solche Konstruktion dem personalen Charakter der Schadensersatzpflicht gemäß § 826 BGB nicht gerecht würde (BGH, Urteil vom 08. März 2021 - VI ZR 505/19 -, Rn. 23, juris).
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2. Ansprüche des Klägers aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB sind ebenfalls nicht gegeben. Diese würden jeweils den Nachweis eines deliktischen Handelns bzw. einer vorsätzlichen Täuschungshandlung voraussetzen. Dieser ist - wie oben dargelegt - dem Kläger nicht gelungen. Im Übrigen scheitert dieser Anspruch bereits am Fehlen der Bereicherungsabsicht und der in diesem Zusammenhang erforderlichen Stoffgleichheit des erstrebten rechtswidrigen Vermögensvorteils mit einem etwaigen Vermögensschaden. Der subjektive Tatbestand des § 263 Abs. 1 StGB setzt die Absicht voraus, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen. Dabei müssen der vom Täter erstrebte Vermögensvorteil und der verursachte Vermögensschaden einander „spiegelbildlich“ entsprechen. Einen Vermögensschaden hat der Käufer dann erlitten, wenn das von ihm erworbene Fahrzeug im Hinblick auf die Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung und etwaige damit verbundene Risiken den vereinbarten und bezahlten Kaufpreis nicht wert war. Zwischen dieser etwaigen Vermögenseinbuße mit den denkbaren Vermögensvorteilen, die ein verfassungsmäßiger Vertreter der Beklagten (§ 31 BGB) für sich oder einen Dritten, etwa den Fahrzeughändler, erstrebt haben könnte, besteht jedoch keine Stoffgleichheit (vgl. BGH, Urteil vom 30.07.2020, Az. VI ZR 5/20).
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3. Dem Kläger steht auch kein Anspruch gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV oder Art. 5 VO 715/2007/EG zu.
28
a) §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV bzw. Art. 5 VO 715/2007/EG stellen keine Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB dar, da das Interesse, nicht zur Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit veranlasst zu werden, nicht im Aufgabenbereich dieser Normen liegt. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Gesetz- und Verordnungsgeber mit den genannten Vorschriften (auch) einen Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit und speziell des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts der einzelnen Käufer bezweckte und an die (auch fahrlässige) Erteilung einer inhaltlich unrichtigen Übereinstimmungsbescheinigung einen gegen den Hersteller gerichteten Anspruch auf (Rück-)Abwicklung eines mit einem Dritten geschlossenen Kaufvertrags hätte knüpfen wollen (vgl. BGH, Urteil vom 30.07.2020, Az. VI ZR 5/20; Urteil vom 25.05.2020, Az. VI ZR 252/19; Urteile vom 16.09.2021 - VII ZR 190/20, 286/20, 321/20 und 322/20).
29
Soweit der Generalanwalt Rantos in seinen Schlussanträgen vom 02.06.2022 in der Rechtssache C-100/21 (...) eine abweichende Ansicht vertritt, ist diese zum jetzigen Zeitpunkt weder für die deutschen Gerichte noch für den Gerichtshof der Europäischen Union rechtsverbindlich.
30
b) Überdies bliebe die Klage auch dann ohne Erfolg, wenn der Senat der Auffassung des Generalanwalts Rantos folgen würde.
31
(1) Zwar hat der Generalanwalt Rantos im Ergebnis angenommen, dass das Unionsrecht auch die Interessen eines Erwerbers eines Kraftfahrzeugs, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, schütze. Er hat diese Rechtsfolge jedoch von weiteren Voraussetzungen abhängig gemacht, insbesondere, dass die EG-Typgenehmigung erwirkt worden ist, ohne dass die Genehmigungsbehörde vom Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung etwas wusste (Rn. 48 der Schlussanträge). Es ist demnach erforderlich, dass der Genehmigungsbehörde die unzulässige Abschalteinrichtung nicht bekannt war, und dass diese Unkenntnis auf einer Täuschung der Genehmigungsbehörde beruht (vgl. OLG München, Beschluss vom 14.06.2022, 36 U 141/22).
32
Für einen solchen Sachverhalt ist im Streitfall - für das als unzulässige Abschalteinrichtung allein in Betracht kommende Thermofenster - nichts ersichtlich.
33
(2) Zudem wäre der Beklagten nicht einmal fahrlässiges Verhalten vorzuwerfen. Dem Bericht der vom Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur eingesetzten Untersuchungskommission „V.“ vom April 2016 ist zu entnehmen, dass in dem hier fraglichen Zeitraum Thermofenster von allen Autoherstellern verwendet und mit dem Erfordernis des Motorschutzes begründet wurden. Nach Einschätzung der Untersuchungskommission handelt es sich bei der Verwendung eines Thermofensters angesichts der Unschärfe der Ausnahmevorschrift des Art. 5 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a VO (EG) Nr. 715/2007, wonach zum Schutz des Motors vor Beschädigungen und zur Gewährleistung eines sicheren Fahrzeugbetriebs notwendige Abschalteinrichtungen zulässig sind, um keine eindeutigen Gesetzesverstöße, sofern ohne die Verwendung des Thermofensters dem Motor Schaden drohe und „sei dieser auch noch so klein“ (vgl. BMVI, Bericht der Untersuchungskommission Volkswagen, Stand April 2016, S. 123).
34
Nach der Mitteilung der Europäischen Kommission vom 19.07.2008 (Mitteilung über die Anwendung und die künftige Entwicklung der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften über Emissionen von Fahrzeugen für den Leichtverkehr und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen (Euro 5 und Euro 6), 2008/C 182/08) waren trotz der erhöhten NOx-Emissionen bei niedrigen Temperaturen keine Messungen vorgesehen. Die Hersteller waren auch nicht verpflichtet, Informationen über das Emissionsverhalten von Dieselfahrzeugen bei niedrigen Temperaturen zur Verfügung zu stellen (dort Ziffer 7). Das Vorhandensein eines Thermofensters war also dem KBA als Typgenehmigungsbehörde bekannt, wenngleich es keine Beschreibung über die exakte Wirkungsweise mangels entsprechender Verpflichtung erhalten hat. Unter diesen Umständen durfte sich die Beklagte grundsätzlich darauf verlassen, dass das KBA im Rahmen des Typgenehmigungsverfahrens aufgrund des Amtsermittlungsgrundsatzes gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwVfG eine Ergänzung verlangen würde, um sich in die Lage zu versetzen, die Zulässigkeit des Thermofensters in dem betreffenden Fahrzeug zu prüfen. Anderenfalls durfte sich die Beklagte auf die Prüfungskompetenz des KBA als Genehmigungsbehörde verlassen und ohne Verschulden von der Zulässigkeit ihres Vorgehens ausgehen.
35
Wenn also das KBA als zuständige Typgenehmigungsbehörde nach eigener Prüfung selbst von der Zulässigkeit des „Thermofensters“ ausgeht, kann der Beklagten keine andere Einschätzung abverlangt werden.
36
4. Unabhängig von der fehlenden Anspruchsgrundlage hat der Kläger auch einen Schaden nicht hinreichend dargelegt. Die Bejahung eines Vermögensschadens in der streitgegenständlichen Konstellation setzt voraus, dass die durch den unerwünschten Vertrag erlangte Leistung nicht nur aus rein subjektiv willkürlicher Sicht als Schaden angesehen wird, sondern dass auch die Verkehrsanschauung bei Berücksichtigung der obwaltenden Umstände den Vertragsschluss als unvernünftig, den konkreten Vermögensinteressen nicht angemessen und damit als nachteilig ansieht (BGH, Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19 -, juris, Rn. 46 m.w.N.). Der Erfahrungssatz, ein Verbraucher kaufe generell kein stilllegungsgefährdetes Fahrzeug, fußt auf der ex post erkannten und dann ex ante zugrunde gelegten Annahme, die im Fahrzeug enthaltene Abschalteinrichtung trage das konkrete Potential in sich, zu einer Betriebsbeschränkung bzw. Betriebsuntersagung zu führen. In den Fällen des EA 189 leitet sich diese Annahme aus dem Wissen eines späteren Rückrufs sämtlicher Fahrzeuge durch das KBA mit nachfolgendem Versuch der Beklagten ab, eine Stilllegung der Fahrzeuge durch Updates zu verhindern. Im vorliegenden Fall liegen - anders als in den Fällen des EA 189 - aber gerade keine Anhaltspunkte für das Vorhandensein einer Prüfstandserkennung vor. Eine Betriebsbeschränkung bzw. -untersagung droht hier gerade nicht.
37
Für den Kläger hat damit bei verständiger Würdigung gerade keine Situation bestanden, welche den Vertragsschluss als unvernünftig, den konkreten Vermögensinteressen nicht angemessen und damit als nachteilig erscheinen ließe (so im Ergebnis auch OLG München Urteil vom 14.04.2021 - 15 U 3584/20 - juris; OLG Schleswig, Urteil vom 13.08.2021 - 17 U 9/21 - juris). Vor diesem Hintergrund vermag der Senat einen Schaden des Klägers auch aus der zugrunde zu legenden exante-Betrachtung nicht zu erkennen.
38
5. Aus den unter II. 3. und 4. genannten Gründen besteht kein Anlass, das vorliegende Verfahren gemäß § 148 ZPO analog bis zu der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof) in dem dort anhängigen Verfahren C-100/21 auszusetzen.
39
6. Die mit der Berufung vorgenommene Klageänderung durch die nunmehr gestellten Hilfsanträge schließen die Beschlusszurückweisung nach § 522 Abs. 2 ZPO nicht aus, da der Berufungsführer sonst stets eine mündliche Verhandlung erzwingen könnte. Die Klageerweiterung wird entsprechend § 524 Abs. 4 ZPO mit der Zurückweisung wirkungslos (Senat, Beschluss vom 11.06.2021, 6 U 95/20; BGHZ 198, 315; Zöller, a.a.O., Rn. 37 zu § 522 ZPO).
III.
40
1. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (vgl. § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 ZPO) liegen nicht vor. Über klärungsfähige und -bedürftige Rechtsfragen hat der Senat nicht zu befinden. Er beabsichtigt eine einzelfallbezogene Entscheidung auf der Grundlage der nach gesicherter höchstrichterlicher Rechtsprechung berufungsrechtlich nicht zu beanstandenden erstinstanzlichen Feststellungen. Eine mündliche Verhandlung ist nicht geboten (vgl. § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 ZPO). Anhaltspunkte dafür, dass in einer solchen neue, im Berufungsverfahren zuzulassende Erkenntnisse gewonnen werden könnten, die zu einer anderen Beurteilung führten, bestehen nicht.
41
2. Der Senat beabsichtigt den Streitwert auf 4.975,- Euro festzusetzen. Da die in der Berufungsinstanz vorgenommene Klageänderung mit der Zurückweisung wirkungslos wird (siehe oben II. 6), ist für den Berufungsstreit die Beschwer des Klägers auf Grund der Abweisung des zuletzt gestellten erstinstanzlichen Antrags maßgeblich.
42
3. Der Senat regt daher an, zur Vermeidung von Kosten die aussichtslose Berufung innerhalb offener Stellungnahmefrist zurückzunehmen, und weist in diesem Zusammenhang auf die in Betracht kommende Gerichtsgebührenermäßigung (KV Nr. 1220, 1222) hin.