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OLG München, Endurteil v. 31.08.2022 – 23 U 5535/21
Titel:

Schadensersatz wegen Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung

Normenkette:
BGB § 826
Leitsätze:
1. Ein Automobilhersteller handelt gegenüber dem Fahrzeugkäufer sittenwidrig, wenn er entsprechend seiner grundlegenden strategischen Entscheidung im eigenen Kosten- und Gewinninteresse unter bewusster Ausnutzung der Arglosigkeit der Erwerber, die die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben und die ordnungsgemäße Durchführung des Typgenehmigungsverfahrens als selbstverständlich voraussetzen, Fahrzeuge mit einer Motorsteuerung in Verkehr bringt, deren Software bewusst und gewollt so programmiert ist, dass die gesetzlichen Abgasgrenzwerte nur auf dem Prüfstand beachtet, im normalen Fahrbetrieb hingegen überschritten werden, und damit unmittelbar auf die arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde abzielt. Ein solches Verhalten steht einer unmittelbaren arglistigen Täuschung der Fahrzeugerwerber in der Bewertung gleich. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
2. Im Rahmen der Naturalrestitution (§ 249 BGB) sind die vom Käufer gezogenen Nutzungen zum Zweck der Vorteilsausgleichung in Abzug zu bringen. Aus dem gleichen Grund kann er eine Rückzahlung des um die Nutzungen verminderten Kaufpreises nur Zug um Zug gegen Rückgabe des gekauften Fahrzeugs verlangen. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
EA189, unzulässige Abschalteinrichtung, Vorteilsausgleich, Gesamtlaufleistung, linear
Vorinstanz:
LG Ingolstadt, Endurteil vom 27.07.2021 – 81 O 2245/20 Die
Fundstelle:
BeckRS 2022, 33426

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Endurteil des Landgerichts Ingolstadt vom 27.07.2021, Az. 81 O 2245/20 Die, abgeändert wie folgt:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 25.444,49 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 21.07.2020 zu zahlen, Zug um Zug gegen Rückgabe und Übereignung des Fahrzeugs mit der Fahrgestellnummer … .
2. Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte mit der Rücknahme des in Ziffer 1. bezeichneten Gegenstands in Annahmeverzug befindet.
3. Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung in Höhe von 1.142,84 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 21.07.2020 zu zahlen.
4. Es wird festgestellt, dass der Rechtsstreit in Höhe von 5.397,46 € erledigt ist.
5. Im Übrigen bleibt die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Beschluss
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 7.774,95 € festgesetzt.

Entscheidungsgründe

I.
1
Von der Fertigung eines Tatbestands wird gemäß § 313a Abs. 1 Satz 1 ZPO abgesehen, da ein Rechtsmittel gegen das Urteil unzweifelhaft nicht zulässig ist. Die Revision wurde nicht zugelassen. Die Mindestbeschwer für die Nichtzulassungsbeschwerde von über 20.000 € gemäß § 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO wird von keiner Partei erreicht.
II.
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Die zulässige Berufung des Klägers ist erfolgreich.
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1. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch aus § 826 BGB auf Zahlung von 25.444,49 €, Zug um Zug gegen Herausgabe des Fahrzeugs. Der vom Landgericht ausgeurteilte Zahlbetrag von 23.067 € war infolgedessen wie von dem Kläger zuletzt im Schriftsatz vom 31.08.2022 beantragt (Bl. 262 der Akte) um weitere 2.377,49 € zu erhöhen.
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1.1. Der Anspruch des Klägers gegen die Beklagte aus § 826 BGB ist entstanden. Die Beklagte hat, wie das Landgericht zutreffend im Einzelnen dargestellt hat (LGU S. 5 ff.), den Kläger sittenwidrig geschädigt, indem sie den mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen streitgegenständlichen Audi A5 in den Verkehr gebracht hat und so den Kläger zu einem von ihm ungewollten Kaufvertragsabschluss veranlasst hat. Gegen die Haftung dem Grunde nach wendet sich die Beklagte, die gegen das landgerichtliche Urteil keine Berufung eingelegt hat, nicht mehr.
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1.2. Im Rahmen der Naturalrestitution (§ 249 BGB) sind die vom Kläger gezogenen Nutzungen zum Zweck der Vorteilsausgleichung in Abzug zu bringen (BGH NJW 2020, 1962 Tz. 64 ff.). Aus dem gleichen Grund kann er eine Rückzahlung des um die Nutzungen verminderten Kaufpreises nur Zug um Zug gegen Rückgabe des gekauften Fahrzeugs verlangen.
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Die Höhe des in Abzug zu bringenden Nutzungsausgleichs schätzt der Senat vorliegend gemäß § 287 ZPO auf insgesamt 11.985,51 €.
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Die Nutzungsentschädigung war entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht degressiv, sondern linear zu berechnen. Hierzu war der von dem Kläger gezahlte Bruttokaufpreis für das Fahrzeug durch die voraussichtliche Restlaufleistung im Erwerbszeitpunkt zu teilen und dieser Wert mit den von dem Kläger gefahrenen Kilometern zu multiplizieren (BGH aaO Tz. 80). Gegen den degressiven Ansatz spricht vor allem, dass Gebrauchsvorteil und Wertverlust nicht gleichzusetzen sind. Während der Wertverlust eines Fahrzeugs degressiv verläuft, wird der im Fahrzeug steckende Gebrauchswert linear aufgezehrt. Es wäre nicht systemgerecht, den Käufer eines Neuwagens an dem erhöhten Anfangsverlust des Fahrzeugs zu beteiligten, denn zur Überzeugung des Senats ist der Vorteil der Nutzung eines Neuwagens gegenüber dem Vorteil der Nutzung eines Gebrauchtwagens nicht in relevanter Weise erhöht (vgl. auch OLG München, Urteil vom 13.02.2020, Az. 18 U 147/19, Tz. 36 nach juris).
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Maßgeblicher Zeitpunkt ist der Tag der letzten mündlichen Verhandlung (BGH aaO Tz. 57). Dem entspricht im schriftlichen Verfahren gemäß § 128 Abs. 2 ZPO der Tag, bis zu dem Schriftsätze eingereicht werden konnten, hier der 31.08.2022.
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Der von dem Kläger gezahlte Kaufpreis betrug 37.430 €. Der Kläger hat mit dem Fahrzeug nach seinem durch Lichtbild belegten, unbestrittenen Vortrag bis zum 31.08.2022 eine Strecke von 100.826 km - 7.006 km = 93.820 km zurückgelegt.
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Die Schätzung der Gesamtlaufleistung des streitgegenständlichen Audi A5 durch das Landgericht gemäß § 287 ZPO auf 300.000 km (LGU S. 11) ist nach Ansicht des Senats nicht zu beanstanden. Hierfür sind folgende Erwägungen maßgebend:
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Bei dem streitgegenständlichen Audi A5 handelt es sich um ein gehobenes Mittelklassefahrzeug, das im Jahr 2016 erstzugelassen wurde (Anlage K1). Nach verbreiteter Ansicht sind die Gesamtlaufleistungen für derartige Fahrzeuge neueren Baujahrs in der mittleren und gehobenen Klasse im Bereich von 250.000 km bis 300.000 km anzusiedeln (250.000 km: BGH BeckRS 2021, 10167 Tz. 15 f.; BeckRS 2015, 1267; KG NJW-RR 2014, 57, 58; OLG Braunschweig BeckRS 2019, 40569; 300.000 km: OLG Koblenz NJW 2019, 2237, 2246; OLG Oldenburg BeckRS 2020, 1974 Tz. 86; allg. Staudinger/Kaiser, BGB, 2012, § 346 Rn. 261 mwN). Eine erheblich niedrigere Laufleistung, etwa eine solche von nur 150.000 km, wird der heutigen Fahrzeugtechnik regelmäßig nicht mehr gerecht, umgekehrt erscheint die Annahme von deutlich mehr als 300.000 km, gar 500.000 km überzogen (vgl. Reinking/Eggert, Der Autokauf, 14. Aufl. 2020, Rz. 3571). Es gilt einerseits zu berücksichtigen, dass neuere Fahrzeuge infolge fortschreitender Technik eine höhere Motorlaufleistung erreichen (BeckOGK/Schall, BGB, 1.5.2021, § 346 Rn. 437); die Karosserie hat nicht zuletzt wegen eines erheblich verbesserten Korrosionsschutzes eine Lebensdauer von weit über 10 Jahren (Reinking/Eggert, Der Autokauf, 14. Aufl. 2020, Rz. 3573). Andererseits macht die in moderneren Fahrzeugen verbaute Elektronik das Fahrzeug störanfälliger. Ein Schaden in diesem Bereich löst mitunter hohe Kosten aus, was bei einem bereits länger genutzten Fahrzeug die Frage der wirtschaftlichen Rentabilität einer Reparatur aufwerfen kann. Dies wirkt sich negativ auf die ex ante zu erwartende Gesamtlaufleistung eines Fahrzeugs aus (BeckOGK/Schall, BGB, 1.5.2021, § 346 Rn. 437). Der Einholung eines Sachverständigengutachtens bedurfte es nicht (BGH BeckRS 2021, 7055 Tz. 11; BeckRS 2021, 15709 Tz. 13 a.E.).
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2. Der Zinsausspruch folgt aus §§ 288 Abs. 1, 286 BGB in Verbindung mit § 308 Abs. 1 ZPO.
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3. Auf die einseitige Erledigterklärung des Klägers im Schriftsatz vom 31.08.2022 hin (Bl. 262 der Akte) war überdies festzustellen, dass der Rechtsstreit in Höhe von 5.397,46 € erledigt ist.
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3.1. Der Kläger hatte in der Berufungsbegründung ursprünglich die Zahlung weiterer 7.774,95 € verlangt. Mit Schriftsatz vom 31.08.2022 hat er die Forderung auf die Zahlung weiterer 2.377,49 € reduziert und im Übrigen den Rechtsstreit für erledigt erklärt. Die Erledigterklärung bezieht sich mithin auf die Differenz von 7.774,95 € und 2.377,49 €, also auf 5.397,46 €.
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3.2. Die einseitige Erledigterklärung stellt einen gemäß § 264 Nr. 2 ZPO ohne weiteres auch in der Berufungsinstanz noch zulässigen Übergang von der Leistungsin eine Feststellungsklage dar.
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3.3. Die Feststellungsklage ist begründet. Der Rechtsstreit hat sich (mindestens) in Höhe von 5.397,46 € erledigt, weil die ursprünglich auch diesbezüglich begründete Klage nach Rechtshängigkeit insoweit unbegründet wurde. Denn durch die von dem Kläger nach Klageerhebung gefahrenen Kilometer (100.826 km - 56.000 km = 44.826 km) hat sich die ursprünglich begründete Klagesumme um (mindestens) 5.397,46 € Nutzungsentschädigung reduziert.
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4. Die Kostenentscheidung für die zweite Instanz beruht auf § 91 ZPO. Die Kostenentscheidung für die erste Instanz fußt auf § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, weil das Unterliegen des Klägers verhältnismäßig geringfügig ist und keine erheblichen Mehrkosten verursacht hat.
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5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
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6. Die Revision war nicht nach § 543 Abs. 2 ZPO zuzulassen. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung ohne grundsätzliche Bedeutung. Auch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert die Entscheidung des Revisionsgerichts nicht.
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Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 47, 48 GKG.