Titel:
Wirksame Rückkehrentscheidung auf der Grundlage von Art. 6 Rückführungs-RL bei einer inlandsbezogenen Ausweisung (verneint)
Normenketten:
EMRK Art. 8
GG Art. 6
Rückführungs-RL Art. 3 Nr. 6, Art. 6, Art. 11
Anerkennungs-RL Art. 14 Abs. 4 lit. b, Art. 24 Abs. 1
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 3a, § 54 Abs. 1 Nr. 1, § 55 Abs. 2, § 59, § 60 Abs. 5
Leitsätze:
1. Die Rückkehrverpflichtung iSe Rückkehrentscheidung gem. Art. 3 Nr. 4 Rückführungs-RL (behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme) erst durch die Abschiebungsandrohung nach § 59 AufenthG getroffen. (Rn. 51) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Gefahrenabwehr durch eine inlandsbezogene Ausweisung würde „ad absurdum“ geführt, wenn man dem EuGH folgen würde, wonach der Mitgliedstaat nur die Möglichkeit habe, entweder ein Rückkehrverfahren einzuleiten oder den Aufenthalt zu legalisieren, wenn eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werden darf. (Rn. 54) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei der schweren Straftat iSv § 53 Abs. 3a Var. 3 AufenthG muss es sich nicht um eine „besonders schwere“ Straftat gem. Art. 14 Abs. 4 lit. b der Anerkennungs-RL handeln. § 53 Abs. 3a Var. 3 AufenthG ist im Lichte des Art. 24 Abs. 1 der Anerkennungs-RL auszulegen, nach welchem „zwingende“ Gründe der nationalen Sicherheit oder Ordnung eine Ausweisung gestatten. (Rn. 60) (redaktioneller Leitsatz)
4. Typischerweise sind beachtliche schwere Straftaten etwa Vergewaltigung, Drogenhandel, versuchter Mord, schwerer Raub und schwere Körperverletzung. Allerdings entbindet die Begehung einer solchen Straftat nicht von der Prüfung, ob die kriminelle Handlung im konkreten Einzelfall als objektiv und subjektiv besonders schwerwiegend zu betrachten ist. (Rn. 60) (redaktioneller Leitsatz)
5. § 53 AufenthG gestaltet die Ausweisung als Ergebnis einer umfassenden, ergebnisoffenen Abwägung aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus. In die Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG sind die in §§ 54, 55 AufenthG vorgesehenen normierten Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen. Daneben sind aber auch weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar. (Rn. 71) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
AufenthG, Staatsangehörigkeit: Irak, Inlandsbezogene Ausweisung, Minderjährigkeit, Nationales Abschiebungsverbot, Nicht bestandskräftiger Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Strafrechtliche Verurteilung zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten, Sexueller Missbrauch von Kindern, Vergewaltigung, Bedrohung, Beleidigung, vorsätzliche Körperverletzung, versuchte Körperverletzung, versuchte räuberische Erpressung, versuchte Brandstiftung, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch, Abbruch der sozialtherapeutischen Behandlung, Führungsaufsicht, Rückkehr ins Elternhaus, Bleibeinteresse, Ausweisungsinteresse, Wiederholungsgefahr, Einreise- und Aufenthaltsverbot, Rückkehrentscheidung, Abschiebungsandrohung, Wirksamkeit der Ausweisung, RL 2008/115/EG, RL 2011/95/EU
Fundstelle:
BeckRS 2022, 33072
Tenor
I.Der Bescheid der Beklagten vom 12. Juli 2021 wird in Nr. 3 aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II.Der Kläger hat 4/5, die Beklagte 1/5 der Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beteiligten dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweils andere Beteiligte vorher Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung aus dem Bundesgebiet, die die Beklagte unter Anordnung eines bedingten fünf- bzw. unbedingten siebenjährigen Einreise- und Aufenthaltsverbots mit Bescheid vom 12. Juli 2021 erlassen hat.
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Der Kläger wurde am … … 2004 im Irak geboren und besitzt die irakische Staatsangehörigkeit. Er ist das jüngste von acht Geschwistern, alle Geschwister (drei Brüder und vier Schwestern) sind volljährig.
3
Der Kläger reiste am … … 2010 im Alter von fünfeinhalb Jahren im Wege des Familiennachzugs zu seinem Vater erstmals in das Bundesgebiet ein und erhielt am … … 2010 eine bis zum … … 2011 befristete Aufenthaltserlaubnis. Mit Bescheid vom 10. Juni 2010 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zu (Bl. 32 ff.). Seit dem … … 2013 besitzt der Kläger eine Niederlassungserlaubnis (Bl. 68).
4
Nach dreimonatigem Besuch der Regelgrundschule von September 2011 bis zum November 2011 wechselte der Kläger von Dezember 2011 bis zum Dezember 2013 auf ärztliche Empfehlung in ein Sonderpädagogisches Förderzentrum und eine heilpädagogische Tagesstätte. Ab November 2011 betreute eine ehrenamtliche Familienpatin die Familie. Im Februar 2012 begann die medikamentöse Behandlung der ärztlich festgestellten emotionalen Störung im Kindesalter und der hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens des Klägers.
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Nach der Grundschule besuchte der Kläger ab September 2016 eine Mittelschule; nach seinen Angaben in der Exploration zur Erstellung eines kriminalprognostischen Gutachtens rauchte er im Alter von zwölf Jahren erstmals THC. Ab Juni 2017 trat der Kläger wegen Beleidigung und Sachbeschädigung in Erscheinung. Bis zum Sommer 2018 spielte der Kläger für zwei bis drei Jahre im Verein Fußball, was er zugunsten von Treffen mit Freunden aufgab, mit denen er insbesondere Shisha rauchte und „chillte“. Im Sommer 2018 verbrachte der Kläger seine Freizeit häufig mit einem nach Angaben der Beklagten „Intensivtäter“. Nachdem es zwischen diesem und einem zwölfjährigen Mädchen in Anwesenheit des Klägers zu sexuellen Handlungen gekommen war, „erpresste“ der Kläger ausweislich des kriminalprognostischen Entlassgutachtens vom … … 2021 nach seinen eigenen Angaben im Rahmen der Exploration am … … 2021 die Geschädigte mit Videoaufnahmen (Bl. 280). In der Exploration schilderte der Kläger den Vorfall so, dass er die Zwölfjährige erpresst habe, um Geld zu bekommen. Er habe seinem Opfer gesagt, dass es sein Handy erst wiederbekomme, wenn es seinem Freund einen „blase“, was das Opfer dann getan und der Kläger mit dem Handy aufgenommen habe. Er habe dem Opfer dann gesagt, dass er das Video rumschicke, wenn es ihm nicht 100 € gebe, was es ebenfalls getan habe. Ab September 2018 besuchte der Kläger im Schuljahr 2018/2019 in der 7. Klasse den sog. M-Zug einer Mittelschule. Bis zum September 2018 fiel der Kläger kontinuierlich mit der Begehung verschiedener Delikte auf (Beleidigung, Sachbeschädigung, Einbruchdiebstahl, Diebstahl, Erpressung, Brandstiftung, räuberische Erpressung, Bl. 280). Das Sozialbürgerhaus erachtete eine Fremdunterbringung des Klägers in einer Jugendhilfeeinrichtung außerhalb von München für notwendig; die Eltern des Klägers waren hiermit nicht einverstanden. Mit Beschluss vom 23. Oktober 2018 entzog das Amtsgericht München den Eltern des Klägers vorläufig das Sorgerecht für die Teilbereiche Angelegenheiten von Schule und Ausbildung, Gesundheitsfürsorge, Aufenthaltsbestimmung, Beantragung von Jugendhilfemaßnahmen und ordnete insoweit Ergänzungspflegschaft an (Bl. 381). Ab dem 14. Lebensjahr rauchte der Kläger nach seinen Angaben täglich einen Joint.
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Seit dem … … 2018 führte das Kriminalfachdezernat * … … den im November 2018 strafmündig gewordenen Kläger wegen einer Vielzahl von im strafunmündigen Alter begangenen Delikten als jugendlichen Intensivtäter (Bl. 182, 381).
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Am … … 2019 beleidigte der Kläger zwei uniformierte Polizeibeamte, die neben dem Spielplatz, auf dem der Kläger sich aufhielt, mit einem Diensthund nach Diebesgut suchten, als „Bullen“ (Bl. 187 ff., 456). Am 11. März 2019 beging der Kläger in einem Drogeriemarkt einen Ladendiebstahl; der Eigentümer erteilte ihm am selben Tag Hausverbot (Bl. 213). Am 28. März 2019 beschädigte der Kläger eine Couch in der Lounge im 1. Obergeschoss eines Einkaufszentrums, indem er diese mit einem Feuerzeug anzündete, und auf diese Weise ein Brandloch und einen Sachschaden von geschätzt 1.000 € verursachte (Bl. 194, 456). Am 27. April 2019 verließ der Kläger trotz Aufforderung durch einen Mitarbeiter des Wachdienstes das Einkaufszentrum nicht (Bl. 194, 456). Am 11. Juni 2019 beschädigte der Kläger eine Wand im Treppenhaus eines Mehrfamilienhauses, indem er eine dort abgelegte Matratze anzündete, so dass diese fast vollständig abbrannte und einen Rußschaden an der Wand in Höhe von geschätzt 1.000 € verursachte (Bl. 456). Am 17. Juni 2019 verschaffte sich der Kläger mit weiteren Personen Zutritt zu einem leerstehenden Wohnhaus, überschüttete im Erdgeschoss mehrere Zeitungen mit Benzin aus einem aufgefundenen Kanister und zündete diese an. Das Feuer griff nur auf die Bodensockelleiste über. Der Holzfußboden und die Hauswand brannten zur Zeit der Löschung durch die Erstzugriffspolizeibeamten noch nicht selbständig. Bei seiner Flucht ließ der Kläger den mit Kraftstoff gefüllten Kanister in unmittelbarer Nähe zum Brand stehen. Es entstand ein Sachschaden i.H.v. geschätzt 1.000 € (Bl. 483 f.). Der Kläger wurde in der Nacht am … … 2019 vorläufig festgenommen und im Laufe des Tages wieder entlassen (Bl. 221).
8
Mit Urteil vom 19. Juni 2019 sprach das Amtsgericht den damals 14 Jahre alten Kläger wegen des Diebstahls am 11. März 2019 schuldig und erließ eine richterliche Weisung zu einem Beratungsgespräch beim Stadtjugendamt und zur Teilnahme an einem sozialpädagogischen Trainingswochenende (Bl. 382, 453 f.). Zu Ungunsten des Klägers wurde berücksichtigt, dass er trotz seines jugendlichen Alters bereits polizeibekannt sei.
9
Am 29. Juni 2019 spuckte der Kläger dem Geschädigten im Zwischengeschoss der U-Bahn auf die Schulter und packte ihn danach mehrfach am Hals. Anschließend verpasste er dem Geschädigten eine Kopfnuss und trat mit dem rechten Fuß gegen dessen Oberschenkel. Kurz danach traf der Kläger den Geschädigten erneut auf der Straße und versuchte wieder, ihn am Hals zu packen und zu verletzen. Dem Begleiter des Geschädigten verpasste der Kläger eine Ohrfeige und packte ihn anschließend ebenfalls am Hals. Der Kläger forderte den Geschädigten auf, ihm fünf Euro zu geben, andernfalls würden er und seine Begleiter den Geschädigten und seinen Begleiter schlagen. Zur Verdeutlichung seiner Forderung fing der Kläger an, von fünf runterzuzählen (Bl. 230, 233, 237 ff., 482 f.).
10
Am … … 2019 befand sich der Kläger mit der 13-jährigen Geschädigten, deren Alter ihm bekannt war, in einem öffentlichen Schwimmbad. Dort kam es sexuellen Übergriffen zu Lasten der Geschädigten. Abschließend sagte der Kläger zu der Geschädigten, dass sein Bruder „ihre Nummer habe“ und sie noch heute Nacht sterben werde. Die Geschädigte nahm diese Drohung ernst. Der Kläger wurde in der Nacht des … … 2019 vorläufig festgenommen. Während des Transports äußerte der Kläger mehrfach vor den Polizeibeamten, dass er die Geschädigte umbringen werde (Bl. 225).
11
Ab dem … … 2019 befand sich der Kläger in der Justizvollzugsanstalt … in Untersuchungshaft.
12
Am 30. September 2019 beleidigte der Kläger einen Justizvollzugsbeamten gegenüber einem Mitgefangenen und am 10. Oktober 2019 einen Mitgefangenen (Bl. 484). Ausweislich der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft München I vom 1. Oktober 2019 (Bl. 377, 382) war der Kläger in der Untersuchungshaft mit einer Vielzahl von Disziplinarverfahren aufgefallen.
13
Mit Urteil vom 19. November 2019 (Az.: 1033 Ls 461 Js 173856/19 jug, Bl. 448 ff.) sprach das Amtsgericht München den Kläger unter Anwendung der Vorschriften der §§ 176 Abs. 1, 177 Abs. 1, Abs. 5 Nr. 1, Nr. 2, Abs. 6 Nr. 1, 223 Abs. 1, 230 Abs. 1, 241 Abs. 1, 185, 123 Abs. 1, Abs. 2, 303 Abs. 1 StGB des sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit Bedrohung in Tatmehrheit mit Beleidigung in zwei tateinheitlichen Fällen in Tatmehrheit Hausfriedensbruch in Tatmehrheit mit Sachbeschädigung in zwei tatmehrheitlichen Fällen schuldig und verhängte gegen ihn unter Einbeziehung des Urteils des Amtsgerichts München vom 19. Juni 2019 eine Jugendstrafe von zwei Jahren und vier Monaten. Die Verurteilungen erfolgten wegen der Straftaten vom 6. März 2019, 28. März 2019, 27. April 2019, 11. Juni 2019 und … … 2019. Das Strafgericht führte u.a. aus, der Kläger begehe seit März 2019 „kontinuierlich Straftaten querbeet durch das StGB“. Die Qualität der Straftaten habe sich gesteigert bis hin zu dem letzten gravierenden Sexualdelikt, und dies obwohl der Kläger sich zwischenzeitlich, letztlich nur wenige Wochen vor Begehung des Sexualdelikts, wegen eines Diebstahls vor Gericht befunden habe. Sein Verhalten habe der Kläger in der Untersuchungshaft „nahtlos“ fortgesetzt, wo er „letztlich praktisch keine Woche ohne disziplinarrechtlich zu ahndende Verhaltensweisen“ aufgefallen sei, oder auch nicht ohne solche, die als Straftaten zu werten und Gegenstand eigener neuer Ermittlungsverfahren seien. Der Kläger zeichne sich dadurch aus, dass er keinerlei Grenzen akzeptiere und nichts und niemandem Respekt entgegenbringe. Er nehme sich, was er wolle, egal ob in sexueller oder in materieller Hinsicht oder zu eigenen Belustigungszwecken (Bl. 458). Insbesondere das Verhalten des Klägers am … … 2019 im … zeige, dass der Kläger die (sexuelle) Selbstbestimmung und die Integrität seiner Mitmenschen nicht im Geringsten schätze und dass seine Hemmschwelle zur Begehung von Straftaten, die potenziell geeignet seien, die Opfer nachhaltig zu beeinträchtigen, für einen 14-Jährigen „erschreckend niedrig“ sei (Bl. 459). Im Rahmen der Erwägungen zur erzieherisch erforderlichen Länge der zu verhängenden Jugendstrafe stellte das Gericht fest, dass es beim Kläger - trotz seiner Bekundung, dass es ihm leidtue - keine tiefer gehende Reue oder Einsicht habe feststellen können, insbesondere auch nicht, ob das Geständnis wirklich auch Ausdruck der Übernahme von Verantwortung für die begangene Tat sei. Zu Lasten des Klägers wirke sich sein „völlig empathieloses Vorgehen“ aus. Der Kläger akzeptiere keine Grenzen und Regeln und verhalte sich gegenüber Dritten „eklatant respektlos“. Der Kläger habe die Geschädigte der Tat vom … … 2019 nicht nur in ihrer sexuellen Entwicklung nachhaltig gestört, diese leide auch massiv unter den Folgen der Tat, sowohl was die eigene Psyche angehe als auch ihre Interaktion mit der Umwelt. Auch die Sachbeschädigung durch Anzünden einer Matratze stelle einen massiven Vorgang dar. Der Kläger habe letztlich aus Langeweile einen Brand gelegt, durch den es zu einer toxischen Rauchgasentwicklung gekommen sei und viele Menschen, darunter auch kleine, besonders empfindliche Kinder, nachhaltig abstrakt in ihrer Gesundheit gefährdet gewesen seien. Auch hierbei falle die „besondere Rohheit und Empathielosigkeit“ auf, da der Kläger auch noch einen Freund dazu animiert habe, in den verrauchten Keller zu gehen. Die Vielzahl und Frequenz der Begehung und auch das Ausmaß der sich in ihrer Qualität deutlich steigernden Straftaten mache deutlich, dass es viel Zeit brauchen werde, bis der Kläger überhaupt in der Lage sei, entsprechende Erziehungsmaßnahmen anzunehmen und umzusetzen (Bl. 460). Nur rein vorsorglich sei anzuführen, dass nach Auffassung des Gerichts beim Kläger derzeit nicht im Mindesten eine Entwicklung zu sehen sei, die es auch nur annähernd realistisch erscheinen lasse, dass dieser in einer streng reglementierten Einrichtung, in der er sich letztlich freiwillig und nur unter dem Druck einer zu zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe befinden würde, sein Verhalten ändern oder irgendwie anpassen würde. Dies insbesondere nicht aufgrund des in der Untersuchungshaft an den Tag gelegten Verhaltens (Bl. 461). Der Kläger legte Berufung gegen die Entscheidung ein, die er auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte.
14
Bis zum … … 2019 befand sich der Kläger in der Justizvollzugsanstalt … in Untersuchungshaft; ausweislich eines Führungsberichts der Katholischen Jugendfürsorge … … wurde der Kläger im Zeitraum vom … … 2019 bis zu seiner Verlegung zehnmal disziplinarisch belangt. Die Justizvollzugsanstalt … teilte in einem Führungsbericht mit, dass der Kläger während der Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt … sogar 13-mal disziplinarisch belangt werden musste, u.a. wegen Bedrohung eines Mitgefangenen mit einem Messer, Beleidigung von Mitgefangenen und Anstaltsbediensteten, Sachbeschädigung, Störung des geordneten Zusammenlebens, Hortens und unerlaubter Weitergabe von Medikamenten an Gefangene, körperlichen Angehens eines Mitgefangenen, Siegelbruchs, Ruhestörung und körperlicher Auseinandersetzung mit einem Mitgefangenen.
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Am … … 2019 wurde der Kläger in die Justizvollzugsanstalt … verlegt, wo er sich zunächst in Untersuchungs- und im Anschluss ab Rechtskraft der Verurteilung vom 19. November 2019 ab 28. Februar 2020 in Jugendstrafhaft befand.
16
Mit Urteil vom 28. Februar 2020 sprach das Landgericht München I den Kläger wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit Bedrohung in Tatmehrheit mit Beleidigung in zwei tateinheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit Hausfriedensbruch in Tatmehrheit mit Sachbeschädigung in zwei tatmehrheitlichen Fällen schuldig und verurteilte ihn unter Einbeziehung der Entscheidung vom 19. Juni 2019 (richterliche Weisung wegen Diebstahls) zu einer Jugendstrafe in Höhe von zwei Jahren und vier Monaten. Das Landgericht führte zur Strafzumessung u.a. aus, die Entwicklung des Klägers zeige eine erhebliche Zunahme von Aggressivität und Missachtung der körperlichen Integrität von anderen im Rahmen der Befriedigung eigener Bedürfnisse. Widerstand suche der Kläger durch die Inaussichtstellung von empfindlichen Übeln, Drohungen oder auch mit Gewalt zu überwinden. Die Qualität der Straftaten habe sich bis hin zum gravierenden Sexualdelikt gesteigert. Die Straftaten habe er zudem begangen, obwohl er dem positiven Einfluss seiner Familienpatin unterlegen habe, die die Eltern bereits seit Jahren in ihren erzieherischen Bemühungen unterstütze. Die Eltern seien nicht imstande gewesen, dem normwidrigen Verhalten Grenzen zu setzen. Selbst in den engen Strukturen der Untersuchungshaft sei der Kläger nicht in der Lage, sich regelkonform zu verhalten. In der Haft sei der Kläger in erheblichem Umfang disziplinarisch auffällig geworden. Die zahlreichen und eng zeitlich aufeinanderfolgenden Regelverstöße beträfen überwiegend Gewaltanwendungen. Der Kläger habe auch nach der erstinstanzlichen Hauptverhandlung erneut wegen einer körperlichen Auseinandersetzung mit einem Mitgefangenen disziplinarisch geahndet werden müssen. Der Kläger habe trotz überdurchschnittlicher Arbeitsleistung erhebliche Schwierigkeiten, sich normgerecht zu verhalten und in einen Arbeitsbetrieb oder eine schulische Umgebung einzugliedern. Die Entwicklung in der Untersuchungshaft lasse allenfalls den „Beginn der erforderlichen Nachreifung“ erkennen, welcher darin gesehen werden könne, dass der Kläger nunmehr begonnen habe, psychologische Angebote wahrzunehmen. Auch unter dem Gesichtspunkt der Schwere der Schuld sei die Verhängung einer Jugendstrafe geboten. In den begangenen Taten, insbesondere derjenigen am … … 2019, sei eine charakterliche Haltung und Motivationslage zum Ausdruck gekommen, die sich in ganz erheblicher Weise in vorwerfbarer persönlicher Schuld niedergeschlagen habe (Bl. 477). Durch das Delikt der Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern habe der Kläger auch unter Berücksichtigung der konkreten Tatumstände und der Intensität der Tathandlung eine im höchsten Maße zu missbilligende Handlung begangen, die geeignet sei, das Opfer sein Leben lang zu traumatisieren. Die Kammer habe ebenso wie das Erstgericht nicht erkennen können, dass der Kläger mit seinem Geständnis die volle Verantwortung für sein Handeln übernommen habe. Eine Auseinandersetzung des Klägers mit seiner Tat und eine hinreichende Distanzierung von ihr sei nicht erkennbar geworden. Bei der Tat am … … 2019 habe der Kläger mehrere Tatbestände tateinheitlich und dabei auch zwei Qualifikationstatbestände des § 177 Abs. 5 StGB verwirklicht, indem er Gewalt gegenüber dem Opfer angewendet habe (§ 177 Abs. 5 Nr. 1 StGB) und mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben gedroht habe (§ 177 Abs. 5 Nr. 2 StGB). Die Tathandlung habe sich über einen längeren Zeitraum erstreckt und in einem öffentlichen Schwimmbad stattgefunden, was das Sicherheitsgefühl des Tatopfers erheblich beeinträchtigt habe. Zudem sei die Intensität der Gewaltanwendung erschwerend zu berücksichtigen. Der Kläger habe die Geschädigte so gewürgt, dass sie keine Luft mehr bekommen habe. Das Kneten der Brüste sei so intensiv gewesen, dass es nicht nur zu erheblichen Schmerzen, sondern sogar zur Entstehung von Hämatomen geführt habe. Weiter habe der Kläger die zum Tatzeitpunkt 13-jährige Geschädigte nicht nur nachhaltig in ihrer sexuellen Entwicklung gestört, sondern diese leide auch massiv unter den Folgen der Tat, die ihre erste sexuelle Erfahrung darstelle. Die Tat habe bei der Geschädigten ein erhebliches Schamgefühl und Angst ausgelöst, sie habe sich sozial zurückgezogen und verlasse das Haus nicht mehr allein. Auch die schulischen Leistungen der Geschädigten hätten nachgelassen und sie befinde sich wegen des Vorfalls in psychologischer Betreuung. Der Kläger habe damit eine anhaltende psychische Beeinträchtigung der Geschädigten herbeigeführt, die über die den eigentlichen Strafgrund bildende Verletzung ihrer sexuellen Selbstbestimmung und körperlichen Unversehrtheit hinausgehe und erschwerend wirke. Die Schuld des Klägers wiege trotz seines jungen Alters so schwer, dass eine Jugendstrafe zu verhängen sei. Bei der Strafzumessung berücksichtige das Strafgericht u.a., dass der Kläger zu den Tatzeitpunkten erst 14 Jahre alt gewesen sei und die Grenze der Strafmündigkeit damit eben erst überschritten habe. Der kaum vorgeahndete Kläger habe die Taten vollumfänglich eingeräumt. Durch die Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch komme die Geständnisfiktion zu seinen Gunsten zum Tragen. Der Kläger habe Reue bekundet und sich bei der Geschädigten entschuldigt. Zu seinen Lasten sei zu berücksichtigen, dass er eine Vielzahl von sich in ihrer Qualität steigernden Taten innerhalb kurzer Zeit begangen habe und er sich weder durch polizeiliche Maßnahmen noch eine zwischenzeitlich stattfindende Gerichtsverhandlung von weiteren Taten habe abhalten lassen. Die spezifische Tatbegehung, insbesondere die Intensität der Handlungen, spreche zu seinen Lasten.
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Am … … 2020 wurde der Kläger in die Justizvollzugsanstalt … in die dortige Sozialtherapeutische Abteilung für jugendliche Sexualstraftäter zur Behandlung seiner festgestellten, zu behandelnden Problematik verlegt und dort am 5. Mai 2020 zunächst zur Probe und am 13. August 2020 nach erfolgreicher Probezeit endgültig aufgenommen (Bl. 470). Die Dauer der erforderlichen Therapie war auf 19 Monate angelegt.
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Mit Urteil vom 25. Juni 2020 (Bl. 465 ff.) sprach das Amtsgericht München den Kläger der Beleidigung in drei tatmehrheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit versuchter Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit versuchter räuberischer Erpressung in zwei tateinheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit versuchter Brandstiftung in Tateinheit mit Sachbeschädigung in Tatmehrheit mit Hausfriedensbruch schuldig und verhängte gegen ihn unter Einbeziehung des Urteils des Landgerichts München I vom 28. Februar 2020 wegen der dort bezeichneten Taten einheitlich eine Jugendstrafe in Höhe von zwei Jahren und zehn Monaten. Die Verurteilung erfolgte wegen der Taten vom 17. Juni 2019, 29. Juni 2019, 30. September 2019 und 10. Oktober 2019. Das Strafgericht führte aus, dass die vom Kläger genommene Entwicklung eine erhebliche Zunahme von Aggressivität und Missachtung der körperlichen Integrität von anderen im Rahmen der Befriedigung eigener Bedürfnisse zeige. Der Kläger sei in dieser negativen Entwicklung bislang durch keine der ergriffenen Maßnahmen zu bremsen gewesen. Das Verhalten des Klägers zeichne sich in hohem Maße durch Respektlosigkeit und rücksichtslose Befriedigung eigener Bedürfnisse auf Kosten anderer aus. Zu Gunsten des Klägers sei sein Geständnis zu berücksichtigen sowie, dass er erstmalig im Rahmen der Hauptverhandlung auch Ansätze gezeigt habe, für sein Handeln Verantwortung zu übernehmen. Der Kläger sei noch sehr jung und bereits seit geraumer Zeit in Untersuchungs- bzw. Strafhaft. Er habe sich glaubhaft bei dem Geschädigten entschuldigt, der diese auch angenommen habe. Zulasten des Klägers müssten die erheblichen psychischen Folgen für den Geschädigten gehen, der angegeben habe, sich aufgrund des Vorfalls und des damit für ihn als unerträglich empfundenen Kontrollverlusts für sechs Monate in psychologische Behandlung begeben zu haben und den U-Bahnhof, in dem die Straftat begangen worden sei, immer noch nicht besuchen zu können. Hinsichtlich des Vorfalls am 17. Juni 2019 sei zu berücksichtigen, dass eine erhebliche abstrakte Gefahr für die Erstzugriffsbeamten bestanden habe. Es sei hierbei insbesondere auch zu berücksichtigen, dass der Kläger nur wenige Tage vor der gegenständlichen Tat in einem abgeurteilten Fall eine Matratze in einem Keller angezündet habe und daher durchaus mit der Gefährlichkeit eines solchen Handelns vertraut gewesen sei. Dennoch habe er durch eine völlig gleichgelagerte Tat erneut einen völlig sinnlosen Feuerwehreinsatz ausgelöst (Bl. 489).
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Am … … 2020 bestellte das Amtsgericht … das Stadtjugendamt … zum Ergänzungspfleger für den Kläger mit dem Wirkungskreis Angelegenheiten von Schule und Ausbildung, Gesundheitsfürsorge, Aufenthaltsbestimmung und Beantragung von Jugendhilfemaßnahmen (Bl. 562).
20
Am … … 2020 erwarb der Kläger an der Mittelschule … … … den erfolgreichen Abschluss der Mittelschule als Bewerber, der nicht der Mittelschule angehört (Bl. 597). Er erzielte in Deutsch die Note „sehr gut“.
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Mit Bescheid vom 12. Januar 2021 widerrief das Bundesamt die Flüchtlingseigenschaft und stellte im Hinblick auf die Minderjährigkeit des Klägers ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich des Iraks fest. Die hiergegen erhobene Klage ist beim Verwaltungsgericht München anhängig (M 19 K 21.30373).
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Mit Schreiben vom 23. Juni 2021 nahm der Prozessbevollmächtigte des Klägers zur beabsichtigten Ausweisung Stellung. Er trug im Wesentlichen vor, der Kläger sei faktischer Inländer. Im Irak bestehe keine Verwurzelung. Der Kläger habe in der Haft den Mittelschulabschluss erworben. Er sei in der Küche der Justizvollzugsanstalt … beschäftigt, um den Beruf des Kochs kennenzulernen. Die kurdische Muttersprache habe der Kläger nie richtig erlernt. Der Kläger sei wegen einer Sprachentwicklungsstörung von ca. April 2014 bis August 2015 in deutschsprachiger logopädischer Behandlung gewesen. Die gesamte Familie des Klägers befinde sich in Deutschland. Es bestehe eine sehr enge Familienbindung, die Mutter besuche den Kläger regelmäßig in der Haft. Die Verwandten der Eltern lebten in …, mit Ausnahme eines Onkels väterlicherseits in … Im Irak gebe es keine Verwandten mehr, die letzten seien 2018 nach Deutschland gekommen. Im Irak habe der Kläger keinen sozialen Empfangsraum, keinen aufnahmebereiten Familienverband und keine geeignete Aufnahmemöglichkeit. Der Kläger verstehe kein Arabisch. Er kenne die sozialen und geschäftlichen Umgangsformen im Irak nicht, er habe keine persönlichen, wirtschaftlichen oder sonstigen Bindungen im Irak. Der Irak sei für ihn ein fremdes Land. Dem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG stünden das besonders schwerwiegende Bleibeinteresse wegen der Niederlassungserlaubnis und des fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalts und die schwerwiegenden Bleibeinteressen wegen Minderjährigkeit, rechtmäßigen Aufenthalts der Eltern im Bundesgebiet und wegen Kindeswohl entgegen. Der Kläger sei zudem Erstverbüßer. Der erzieherischen Einwirkung durch den Jugendstrafvollzug wohne konzeptionell eine positive Sozialprognose bei Haftentlassung inne. Es sei auch die neue Rechtsprechung des EuGH zu den Anforderungen an eine Rückkehrentscheidung gegenüber einem Minderjährigen zu beachten (U.v. 14.1.2021 - C-441/19). Eine Ausweisungsverfügung stelle eine Rückkehrentscheidung nach Art. 3 Nr. 4 RL 2008/115/EG dar. Der EuGH verbiete es dem Mitgliedstaat auf der Grundlage der Rückführungsrichtlinie, gegenüber einem Minderjährigen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen und den Minderjährigen erst nach Erreichen der Volljährigkeit abzuschieben.
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Mit Bescheid vom 12. Juli 2021 wies die Beklagte den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Nr. 1), stellte fest, dass er zur Ausreise verpflichtet ist, kündigte die Duldung für den Fall an, dass der Kläger nicht ausreist (Nr. 2) und ordnete ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Dauer von fünf Jahren, beginnend mit der Ausreise, unter der Bedingung, dass Straffreiheit nachgewiesen wird bzw. im Übrigen für die Dauer von sieben Jahren an. Sie legte ihrer Entscheidung zu Grunde, dass der Kläger sich auf den besonderen Schutz des § 53 Abs. 3a AufenthG berufen könne. Durch den Kläger drohe die konkrete Gefahr weiterer Straftaten. Sein bisheriger Lebenslauf lasse deutlich erkennen, dass es sich bei den zuletzt abgeurteilten Straftaten nicht um bloße Jugendverfehlungen, sondern vielmehr um den Ausdruck seiner grundlegenden Einstellung gegenüber dem Gesetz und seinen Mitmenschen handle. Nahezu unmittelbar nach seinem Eintritt in die Strafmündigkeit habe man beim Kläger keine anderen, weniger drastischen und trotzdem gleichermaßen erfolgversprechenden Maßnahmen der positiven Einwirkung gesehen. Selbst wenn man anerkenne, dass einzelne Taten in die Kategorie der jugendtypischen Delikte fallen dürften, hebe sich die Delinquenz des Klägers schon allein aufgrund der Vielzahl der Taten innerhalb kürzester Zeit und insbesondere auch aufgrund des Sexualdelikts deutlich negativ vom Durchschnitt ab. Auch sämtliche Hilfestellungen, die dem Kläger angeboten worden seien, hätten nicht zu einer Verhaltensänderung geführt. Der Kläger könne sich auch nicht einmal in Haft unter ständiger Aufsicht und Betreuung regelkonform verhalten. In Anbetracht der weitreichenden Konsequenzen von Sexualdelikten bestehe an deren Verhinderung ein besonders dringendes soziales Bedürfnis. Der Schutz vor Sexualdelikten sei ein Grundinteresse der Gesellschaft. Die Straftaten des Klägers seien im Bereich der Schwerkriminalität anzusiedeln, und es bestehe eine erhöhte Wiederholungsgefahr. Das Ausweisungsinteresse wiege besonders schwer, weil der Kläger wegen mehrerer vorsätzlicher Straftaten zu einer Jugendstrafe von mehr als zwei Jahren verurteilt worden sei und auch weil es sich u.a. um Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit und die sexuelle Selbstbestimmung handele. Das Bleibeinteresse wiege besonders schwer, weil der Kläger eine Niederlassungserlaubnis besitze. Bei der Abwägung sei zu berücksichtigen, dass der Kläger wegen eines vom Bundesamt festgestellten nationalen Abschiebungsverbots nicht in sein Heimatland abgeschoben werden könne. Eine spezialpräventiv begründete Ausweisung werde dadurch aber nicht bedeutungslos, weil sie ihren ordnungsrechtlichen Zweck auch dann erreichen könne, wenn die Ausweisung nicht zu einer Abschiebung führe. Jedenfalls führe das Bestehen eines Abschiebungsverbots beim Kläger im Rahmen einer Gesamtabwägung nicht zu einem Wegfall des Ausweisungsinteresses. Dem Kläger werde der Status des faktischen Inländers zuerkannt, wobei sich die Integration fast nur auf den langen Aufenthalt im Bundesgebiet stütze, während der Kläger „kaum“ aktive Integrationsleistungen erbracht habe. Man verkenne nicht, dass der Kläger in der Haft den Mittelschulabschluss erworben und als Koch gearbeitet habe. Dass er während seiner Inhaftierung einen Mitgefangene als „Scheißdeutschen“ bezeichnet habe, spreche jedoch nicht gerade für eine starke Identifikation mit der deutschen Gesellschaft. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger seine Muttersprache gesprochen beherrsche, weil seine Mutter der deutschen Sprache nicht mächtig sei. Der Staat müsse - um die Opferseite nicht zu missachten - auf gravierende Straftaten, wie sie der Kläger begangen habe, reagieren. Der Schutz der hier lebenden Bevölkerung vor künftigen Beeinträchtigungen durch den Kläger sei höher anzusiedeln als die berechtigten Interessen des Klägers am Schutz seines Privat- und Familienlebens im Bundesgebiet. Auf die Begründung des Bescheids im Übrigen wird Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 VwGO).
24
Am … … 2021 untersuchte die … … … den Kläger auf Ersuchen des Amtsgerichts … … … und erstattete am … … 2021 ein kriminalprognostisches Entlassgutachten. Der Kläger habe sehr große Schwierigkeiten beim Verstehen gesprochener Sprache gezeigt. Die Sexualstraftat und auch alle anderen Delikte seien vollumfänglich eingestanden worden; der Kläger versuche nicht, die Verantwortung zu externalisieren. Er sei unterdurchschnittlich empathiefähig, echte Schuldgefühle oder authentische Reue seien nicht auszumachen gewesen. Die Tatsache, dass das Opfer seiner Sexualstraftat seit der Tat psychische Probleme habe und therapeutisch behandelt werden müsse, habe eine gewisse Scham beim Kläger ausgelöst. Beim Kläger zeige sich „besonders eindrücklich“ eine „außerordentlich dissoziale Entwicklung in einem sehr jungen Alter, die tatsächlich besorgniserregend“ sei. Der Kläger sei „sehr gefühlskalt und planerisch“ vorgegangen. Hier habe sich ein „hohes Maß“ an krimineller Energie gezeigt. Ungünstig sei in diesem Zusammenhang, dass sowohl das soziale als auch das familiäre Umfeld als kriminogen bezeichnet werden müssten (S. 45 d. Gutachtens). Der Kläger habe eine große Ressource, die unbedingt genutzt werden sollte: Er sei intelligent, zu ordentlichen Leistungen in der Schule fähig. Genau dies solle sich auf den beruflichen Werdegang übertragen lassen, was den Kläger letztlich stabilisieren könne. Das Intelligenzniveau liege nach klinischem Eindruck im eher unterdurchschnittlichen Leistungsbereich, was durch die psychologische Testung nicht bestätigt worden sei. Im Kindes- und Jugendalter seien ADHS, Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen und eine rezeptive Sprachstörung diagnostiziert worden. Bei dieser Entwicklungsstörung liege das Sprachverständnis unterhalb des zu erwartenden Niveaus, welches man aufgrund der intellektuellen Ausstattung der Person annehmen würde. Diese Störung gehe mit einer hohen Rate begleitender sozialer, emotionaler Verhaltensstörungen einher. Relativ häufig litten die Betroffenen ebenfalls unter Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsstörungen, sozialer Unangepasstheit, Ängstlichkeit und Überempfindlichkeit. Die aktuelle Exploration habe weitere psychische Auffälligkeiten beim Kläger festgestellt: Schädlicher Gebrauch von Cannabinoiden, dissoziale, emotional-instabile (vom impulsiven Typ) und narzisstische Persönlichkeitszüge, Verdacht auf Pathologische Brandstiftung (Pyromanie), Stottern und erhöhte Psychopatiewerte. Der Kläger verhalte sich unempathisch und rücksichtslos gegenüber anderen. Er überschreite ständig Regeln und reagiere nicht auf Bestrafung. Die Frustrationstoleranz und die Schwelle für aggressives, auch gewalttätiges Verhalten sei niedrig. Der Kläger stelle auch bewusst Situationen her, um jemanden „mit Grund“ schlagen zu können. Der Kläger hänge auch Größenfantasien nach und wolle übermäßig viel Aufmerksamkeit und Bewunderung. Es sei zu früh, um von einer Persönlichkeitsstörung auszugehen. Sollte sich die bisherige negative Entwicklung des Probanden jedoch fortsetzen, müsse mit dem Auftreten einer (kombinierten) Persönlichkeitsstörung gerechnet werden. Die Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung sei immer noch sehr deutlich ausgeprägt. Auch habe sich retrospektiv eine Störung des Sozialverhaltens feststellen lassen. Bis jetzt sei keine Stabilisierung bzw. Reduzierung dieser diagnostizierten Störungen durch die sozialtherapeutische Behandlung zu sehen. Diagnostisch gesehen befinde sich der Kläger in einem Alter, in dem sich eine Störung des Sozialverhaltens zu einer dissozialen Persönlichkeitsstörung auswachsen könne. Die rezeptive Sprachstörung sei ein Vorbefund, der nach Einschätzung des Kinder- und Jugendpsychiaters Herrn Dr. R. nicht mehr im Vordergrund stehe. In der aktuellen Exploration sei diese Beeinträchtigung jedoch sehr aufgefallen und habe die Verständigung erschwert und diese teilweise zäh und mühevoll gemacht. Diese Art der Sprachstörung sei auch durchaus legalprognostisch relevant, da sie sich bei dem impulsiven Kläger deliktfördernd auswirken könne, wenn er in (im ungünstigsten Fall affektiv aufgeladenen) Situationen sein Gegenüber nicht verstehe. Es werde dringend empfohlen, dies im Rahmen der Wiedervorstellung bei Herrn Dr. R. abzuklären und ggf. therapeutische Interventionen einzuleiten. Beim Kläger seien im Rahmen der Auswertung des PCL-R erhöhte Psychopathiewerte aufgefallen, die als einer der sichersten Prädiktoren für zukünftige Straftaten gelten müssten. Typische Charakteristika erhöhter Testwerte seien u.a. Selbstüberschätzung sowie ein Mangel an Empathie und Schuldgefühlen. Beim Kläger handele es sich um einen jungen Intensivtäter, dessen weitere Entwicklung auch in der Zukunft äußerst engmaschig beobachtet werden müsse. Im Suchtbereich lasse sich beim Kläger ein schädlicher Gebrauch von Cannabinoiden feststellen. Eine ambulante oder stationäre Behandlung sei nicht notwendig. Die Deliktintensität beim Kläger sei steigend. Die prokriminelle Einstellung des Klägers zeige sich auch darin, dass es „gute“ und „schlechte“ Mädchen gebe, wobei man die „schlechten“ sexuell ausnutzen dürfe. Das Sexualdelikt spreche nicht für das Vorliegen einer Pädophilie; vielmehr werde vom Kläger Sexualität bewusst erzwungen, weil man damit „am meisten Mädchen erniedrigen“ könne. Es gehe also um Macht und Erniedrigung. Der Kläger habe das Mädchen, das bei der Polizei eine für ihn ungünstige Aussage gemacht habe, erniedrigen und sich an ihr rächen wollen. Beeindruckend sei auch, mit welchem Ausmaß an Entschlossenheit und Hartnäckigkeit der Kläger sein Sexualdelikt fortgesetzt habe, obwohl das Opfer sich wehrhaft gezeigt habe. Beim ersten sexuell konnotierten Fehlverhalten des Klägers im strafunmündigen Alter habe es sich im Übrigen eher um eine Erpressung als um ein Sexualdelikt gehandelt, sofern man den Einlassungen des Klägers folge. Beim Kläger treffe eine „sehr ausgeprägte dissoziale Fehlentwicklung“ mit erhöhten Psychopathiewerten zusammen. Bei ihm sei von einer starken biografischen Belastung, die statistischen, kriminogen Variablen betreffend, auszugehen. Es zeigten sich bereits in einem sehr jungen Alter erhöhte Psychopathiewerte, was legalprognostisch bedenklich sei. Zudem habe der Kläger seit dem 13. Lebensjahr regelmäßig THC missbraucht. In Bezug auf die Sexualdelinquenz sei die Vorbelastung ebenfalls hoch. Unter Berücksichtigung des aktenkundigen, vom Kläger selbst eingestandenen Sexualdelikts im strafunmündigen Alter sei von einer hohen Deliktfrequenz auszugehen: Mit 13 Jahren habe er die erste Tat begangen, mit 14 Jahren die zweite. Es handle sich um multiple Formen der Sexualdelinquenz, wobei dem Hands-Off-Delikt ein Hands-On-Delikt gefolgt sei, womit auch von einer Zunahme der Deliktintensität auszugehen sei. Es seien auch deliktfördernde Ansichten zum Tragen gekommen, da der Kläger vielen Frauen gegenüber eine sehr negative und abwertende Haltung einnehme. Eine externe Unterbringungsmöglichkeit außerhalb seiner Familie sei für den Kläger wie ein „rotes Tuch“. Sollte entschieden werden, dass der Kläger definitiv nicht zurück zu seiner Familie könne, sei mit mangelnder Compliance zu rechnen. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger dem aktuellen Erkenntnisstand zufolge erneut eine Sexualstraftat begehen werde, sei hoch. Die Wahrscheinlichkeit für die Begehung weiterer Gewaltdelikte und anderer Straftaten sei ebenfalls hoch (Langzeitprognose). Eine vorzeitige Haftentlassung gemäß § 88 JGG im Dezember 2021 sei nur zu verantworten, wenn der Kläger - der immerhin medikamentös eingestellt sei und therapeutisch eng begleitet werde - eine „deutliche Abnahme im Fehlverhalten“ aufweisen sollte. Nur in diesem Fall könne sich die Gutachterin eine weitere Unterbringung in der Familie vorstellen. Sollte die Selbstkontrolle auch in Zukunft nicht möglich sein, könne eine vorzeitige Entlassung nicht empfohlen werden. Auch stelle eine Rückkehr in die Familie in diesem Fall aus psychologischer Sicht keine Option dar. Stattdessen müsse der Kläger in einer betreuten Wohneinrichtung untergebracht werden. Ganz wichtig sei, dass der Kläger eine Ausbildung beginnen könne.
25
Mit Schriftsatz vom 12. August 2021, bei Gericht am selben Tag per Telefax eingegangen, ließ der Kläger durch seinen Prozessbevollmächtigten unter Beantragung von Akteneinsicht und Ankündigung einer Klagebegründung in einem gesonderten Schriftsatz Klage erheben und beantragen,
26
den Bescheid vom 12. Juli 2021 aufzuheben,
27
hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, die Länge der verfügten Sperrfrist unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu verkürzen.
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Mit Schriftsatz vom 20. August 2021 beantragte die Beklagte,
30
Der Kläger sei Gewalttäter (PROPER-Liste).
31
Am 28. September 2021 wurde die auf 19 Monate angelegte Behandlung des Klägers in der Sozialtherapeutischen Abteilung für Sexualstraftäter in der Justizvollzugsanstalt … vorzeitig abgebrochen und der Kläger zurück in die Justizvollzugsanstalt … verlegt. Die Voraussetzungen für einen weiteren Aufenthalt des Klägers in der Sozialtherapie seien nicht mehr gegeben. Das Ausmaß an Gefährdung und Störung Therapiewilliger durch den Kläger mache eine Trennung zwingend notwendig. Auch ein weiterer Aufenthalt in der dortigen Justizvollzugsanstalt scheine aufgrund der zutage getretenen hohen Bereitschaft, die ihm bekannten Therapieteilnehmer über die Abteilungsgrenzen hinweg zu beleidigen und zu verletzen, nicht mehr gegeben. Beim Kläger seien weder mittel- noch langfristige Einstellungs- und Verhaltensänderungen bewirkt worden; es ließen sich emotional-instabile, dissoziale sowie narzisstische Persönlichkeitszüge feststellen, die mit erhöhten Psychopathiewerten einhergingen. Der Kläger trete lautstark als „Deliktleugner“ auf und gelte als einer der dominantesten Vertreter einer abwertenden und beleidigenden Grundhaltung gegenüber der Tätergruppe, die sich aktiv mit ihrer Straftat auseinandersetzen wolle.
32
Der Anstaltsleiter der Justizvollzugsanstalt … berichtete über den dortigen Aufenthalt des Klägers im Zeitraum vom 13. August 2020 bis zum 23. September 2021. Das Verhalten des Klägers sei „sehr mangelhaft“ und von disziplinarischer Auffälligkeit geprägt gewesen. Es habe fünf disziplinarische Ahndungen gegeben. Am 31. Mai 2021 habe sich die Sozialtherapie dahingehend geäußert, dass der Kläger im Durchschnitt während der letzten drei Monate mindestens einmal pro Woche mit sog. erzieherischen Maßnahmen unterhalb der Ebene von Disziplinarmaßnahmen habe sanktioniert werden müssen. Der Kläger habe regelmäßigen Besuch von seiner Mutter und der Familienbetreuerin erhalten, die auch gedolmetscht habe. Telefonate als Besuchersatz habe er regelmäßig mit seiner Mutter geführt. In der Justizvollzugsanstalt … seien insgesamt 19 Tage Arrest und fünf Tage Arrest auf Bewährung verhängt worden. Ausweislich des von der Justizvollzugsanstalt … übermittelten Führungsberichts musste der Kläger während der Inhaftierung in … insgesamt viermal disziplinarisch geahndet werden (Verstoß gegen die Arbeitspflicht, Nichtbefolgen von Anweisungen, Beleidigung von Bediensteten, sexuell getönten übergriffigen Verhaltens zulasten von Mitgefangenen, Beleidigung und gefährliche Körperverletzung von Mitgefangenen).
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Mit Schreiben vom 24. Februar 2022 machte die Justizvollzugsanstalt … Ausführungen zur Ausgestaltung der Führungsaufsicht des Klägers. Von den Stationsbeamten werde der Kläger wie folgt beschrieben: Er zeige ein überhöhtes Kraftgefühl, sei unbeherrscht und undiszipliniert, fordernd, verschlagen, verlogen, gewalttätig und vorlaut. Er lasse sich ungern etwas sagen, sei sehr auf seinen Vorteil bedacht, misstrauisch, trete unbeeindruckt, frech und herausfordernd auf und neige zum Trotz. Bediensteten gegenüber zeige er sich aufdringlich, anmaßend und dreist, erkenne die Autorität nicht an und scheue die Lüge nicht. Gegenüber Mitgefangenen zeige er sich als Quertreiber, Aufschneider, Vielredner, Sprüchemacher und prahlerisch, er übe schlechten Einfluss auf Mitgefangene aus, spiele diese gegenseitig aus, wolle für Chaos sorgen und sei ein Mitläufer. Ein tiefer Strafeindruck sei nicht zu erkennen, es fehle die Eindrucksfähigkeit. Seit dem 18. Oktober 2021 sei der Kläger im Arbeitsbetrieb 1 beschäftigt. Der Kläger müsse zur Ordnung angehalten werden und gebe sich gegenüber Bediensteten belehrbar, scheue jedoch die Lüge nicht. Er könne gute Arbeitsleistung erbringen und sei arbeitswillig, und - wenn er wolle - auch fleißig. Zum Sozialdienst suche der Kläger häufig Kontakt, meist mit persönlichen Anliegen und Wünschen, die er nicht immer in adäquater und höflicher Form kundtue. Es gelinge ihm nur in den „seltensten“ Fällen, den eigenen Anteil an Problemen, Schwierigkeiten und Streitereien zu erkennen und reflektiert daran zu arbeiten. Trotz seiner Versuche, eine ruhige und respektvolle Gesprächsführung zu halten, schlage dies meist schon in den ersten paar Minuten zu einer sehr fordernden und anmaßenden diskussionsfreudigen Form um, die nur mit großer Bemühung und Verständnis zu unterbinden sei. Der Kläger habe generell große Schwierigkeiten, mit Autorität und Anweisungen umzugehen. Positive Fortschritte oder Bemühungen seinerseits seien meist nur von kurzer Dauer und mit berechnender Absicht zu verzeichnen. Es falle dem Kläger schwer, eine Motivation über einen längeren Zeitraum aufrecht zu erhalten. Bei dem kleinsten Rückschlag werfe er das Handtuch und suche missmutig die Schuld in seiner Umgebung und wolle dies die ausgesuchte Person auch spüren lassen. Der Kläger sei seit seiner Rückverlegung weiterhin massiv auffällig, was die Einschätzung der Sozialtherapeutischen Abteilung stütze und wodurch man von einer weiteren Verschlechterung der Prognose ausgehen müsse. Ab dem 3. November 2021 sei der Kläger zur Einzelpsychotherapie in der Justizvollzugsanstalt … eingeteilt worden. Nach der zweiten Weigerung am 13. Dezember 2021, an der Therapie teilzunehmen, sei diese abgebrochen worden. Aus eigener Initiative habe der Kläger keinen Kontakt zum psychologischen Dienst zur Aufarbeitung seiner Delinquenz gesucht. Der Kläger falle durch immer wiederkehrende subkulturelle Aktivitäten auf. In der Justizvollzugsanstalt … sei er bislang 13 Mal disziplinarisch belangt worden, hierfür seien insgesamt 16 Tage Arrest und 15 Tage Arrest auf Bewährung verhängt worden. Besuche habe der Kläger von seinen Eltern, seinem Bruder, seiner Schwester und einer Bekannten erhalten. Mit seinem Bruder habe er Skype-Telefonate geführt. Beim Kläger sei nach wie vor von einer nicht bzw. nicht ausreichend behandelten Sexualproblematik auszugehen. Nach wie vor sei von einer hohen Rückfallgefahr im Bereich Sexualdelinquenz, aber auch im Bereich Gewaltdelikte oder anderer Straftaten auszugehen. Auch wenn eine mangelnde Compliance des Klägers hinsichtlich einer externen Unterbringung gegeben sein könne, scheine ein eng strukturierter und betreuter Rahmen in Form einer Jugendhilfemaßnahme mit Unterstützung und möglicherweise Ausbildungsmöglichkeit zwingend notwendig. Sollte sich die negative Entwicklung des Klägers fortsetzen, bestehe die Gefahr der Verfestigung der psychopathischen Dispositionen (kombinierte Persönlichkeitsstörung, Pyromanie). Es werde derzeit eine Unterbringung des Klägers in einer geschlossenen Einrichtung für minderjährige Sexualstraftäter angestrebt; die Ergänzungspflegerin suche nach einer geeigneten Einrichtung, was sich schwierig gestalte. Führungsaufsicht solle für die Dauer von drei Jahren angeordnet werden und eine engmaschige Ausgestaltung erfahren.
34
Am 25. Mai 2022 wurde der 17-jährige Kläger nach vollständiger Verbüßung der Haftstrafe aus der Justizvollzugsanstalt … entlassen. Führungsaufsicht und Bewährungshilfe wurden bis zum 25. Mai 2025 angeordnet.
35
Zum 26. Mai 2022 meldete der Kläger Wohnung bei seinen Eltern an. Die Ergänzungspflegerin hatte sich erfolglos um eine Unterbringung des Klägers in einer Jugendhilfeeinrichtung bemüht, was dieser jedoch ablehnte (Bl. 678).
36
Die Justizvollzugsanstalt … übermittelte am … … 2022 einen Führungsbericht mit weiteren Anlagen zu den dortigen Aufenthalten des Klägers vom … … 2019 bis zum 13. August 2020 sowie vom 28. September 2021 bis zum 25. Mai 2022. Während der Inhaftierungen in der Justizvollzugsanstalt … habe der Kläger 18 disziplinarischen Maßnahmen unterworfen werden müssen (grob ungebührliches Verhalten, empfindliche Störung des geordneten Zusammenlebens, unerlaubte Kontaktaufnahme zu Mitgefangenen, Nichtbefolgung von Anordnungen, Beleidigung von Anstaltsbediensteten, Bedrohung, Nötigung und Beleidigung eines Mitgefangenen, Verstoß gegen die Arbeitspflicht, Manipulation eines Einkaufsscheins, Verstoß gegen die Platzgebundenheit, körperliches Angehen eines Mitgefangenen, unerlaubter Besitz von Gegenständen, Sachbeschädigung, mehrfach wegen körperlicher Auseinandersetzungen mit Mitgefangenen).
37
Am … … 2022 hat der Kläger eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann begonnen. Er ist im Besitz einer bis zum 18. November 2022 gültigen Duldung.
38
Mit Schriftsatz vom 22. August 2022 teilte der Prozessbevollmächtigte des Klägers u.a. mit, dass der Kläger unter Führungsaufsicht stehe, bei der Bewährungshilfe und „seinem“ HEADS-Sachbearbeiter bei der Kriminalpolizei angebunden sei, ferner vom Verein LOTSE Kinder- und Jugendhilfeverein e.V. betreut werde, und über die Anbindung an die therapeutische Fachambulanz für Gewalt- und Sexualstraftäter.
39
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes nimmt das Gericht Bezug auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung, die Gerichtsakte, die vorgelegten Behördenakten und die beigezogene Strafakte im Verfahren der Staatsanwaltschaft München I (1033 Ls 461 Js 180358/19 jug).
Entscheidungsgründe
40
Die Klage hat teilweise Erfolg. Das in Nr. 3 des Bescheids angeordnete und befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot ist aufzuheben; im Übrigen ist die Klage abzuweisen.
41
I. Die nur teilweise zulässige Klage (1.) ist als Anfechtungsklage gegen die in Nr. 1 des Bescheids verfügte Ausweisung unbegründet, gegen die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots in Nr. 3 des Bescheids jedoch begründet und der Bescheid insoweit aufzuheben (2.).
42
1. Die Klage ist als Anfechtungsklage gegen die in Nr. 1 des Bescheids verfügte Ausweisung und das in Nr. 3 angeordnete und befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot zulässig.
43
1.1. Die Klage wurde mit Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten vom 12. August 2021 wirksam erhoben (§ 67 VwGO).
44
Die Eltern des Klägers haben dem Prozessbevollmächtigten als gesetzliche Vertreter des minderjährigen Klägers am … … 2020 Vollmacht erteilt, die zur Vertretung des Klägers vor den Behörden und zur Prozessführung ermächtigt. Der Wirksamkeit dieser Vollmacht steht nicht entgegen, dass den Eltern des Klägers mit Beschluss des Amtsgerichts vom 23. Oktober 2018 das Sorgerecht für Teilbereiche, u.a. Aufenthaltsbestimmung, vorläufig entzogen und insoweit Ergänzungspflegschaft angeordnet wurde und mit Beschluss vom 10. November 2020 vom Amtsgericht München das Stadtjugendamt zum Ergänzungspfleger für den Kläger mit dem Wirkungskreis u.a. Aufenthaltsbestimmung bestellt wurde. Der Ergänzungspfleger ist in dem ihm zugewiesenen Wirkungskreis zwar gesetzlicher Vertreter des Pfleglings. Jedoch umfasst das Aufenthaltsbestimmungsrecht vorliegend nicht das Recht, gegen eine behördliche Ausweisungsverfügung vorzugehen. Den Sorgeberechtigten wurde damit nicht das Recht entzogen, den minderjährigen Kläger vor Gericht zu vertreten.
45
1.2. Die Klage ist als Anfechtungsklage gegen die in Nr. 1 des Bescheids verfügte Ausweisung des Klägers und die Anordnung und Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots in Nr. 3 des Bescheids statthaft.
46
1.3. Hinsichtlich der Ausreiseaufforderung in Nr. 2 Satz 1 des Bescheids ist eine Anfechtungsklage nicht statthaft, weil es sich hierbei lediglich um einen Hinweis auf die gesetzliche Ausreisepflicht nach § 50 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG ohne Regelungscharakter handelt. Im Hinblick auf die in Aussicht gestellte Erteilung einer Duldung in Nr. 2 Satz 2 des Bescheids fehlt der Klage das Rechtsschutzbedürfnis, weil es sich um eine begünstigende Verfügung handelt.
47
2. Die Klage gegen die Ausweisung ist unbegründet, weil der Bescheid der Beklagten vom 12. Juli 2021 insoweit rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO) (2.1.). Die Klage gegen die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist begründet, weil diese rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO) (2.2).
48
2.1. Die Ausweisung erweist sich als rechtmäßig.
49
2.1.1. Eine inlandsbezogene Ausweisung ist auch unter Beachtung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) (U.v. 3.6.2021 - C-546/19 - juris) nach Auffassung der Kammer nach wie vor zulässig.
50
Der Rechtmäßigkeit der Ausweisung steht nicht von vornherein entgegen, dass sie ohne Abschiebungsandrohung, also rein inlandsbezogen (vgl. VGH BW, U.v. 15.4.2021 - 12 S 2505/20 - juris Rn. 116), ergangen ist und dem Kläger eine Duldung erteilt wurde, der Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet tatsächlich also nicht beendet wird, auch wenn der EuGH geurteilt hat, dass die Existenz eines - wie vorliegend - illegalen Aufenthalts ohne eine Rückkehrentscheidung i.S.v. Art. 6 der RL 2008/115/EG über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger - RückführungsRL - unzulässig ist.
51
In der deutschen Rechtsprechung besteht darüber, dass die Rückkehrentscheidung i.S.v. Art. 3 Nr. 4 RückführungsRL nicht die Ausweisung, sondern die Abschiebungsandrohung ist, Einigkeit (BVerwG, U.v. 16.2.2022 - 1 C 6.21 - juris Rn. 41; B.v. 9.5.2019 - 1 C 14.19 - juris). Denn trotz §§ 50 Abs. 1, 55 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG erlegt nicht bereits die Ausweisung dem Ausländer eine Rückkehrverpflichtung i.S.d. RückführungsRL auf; es bedarf hierfür vielmehr einer Konkretisierung (BeckOK, AuslR/Fleuß, § 50 Rn. 5). Diese besteht in der Abschiebungsandrohung. Deshalb wird die Rückkehrverpflichtung i.S.e. Rückkehrentscheidung gemäß Art. 3 Nr. 4 RückführungsRL (behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme) erst durch die Abschiebungsandrohung nach § 59 AufenthG getroffen (vgl. BVerwG, U.v. 16.2.2022 - 1 C 6.21 - juris Rn. 41 m.w.N.; B.v. 6.5.2020 - 1 C 14.19 - juris Rn. 14).
52
Die Auffassung, dass eine - wie vorliegend - von vornherein inlandsbezogene Ausweisung unionsrechtswidrig ist, wird - soweit ersichtlich - in der Rechtsprechung (noch) nicht vertreten; im Gegenteil: Auch mehrere erstinstanzliche Entscheidungen halten die Rechtmäßigkeit einer inlandsbezogenen Ausweisung eines Ausländers - zu dessen Gunsten bestandskräftig ein nationales Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG festgestellt wurde - auch nach Ergehen der EuGH-Entscheidung weiterhin für möglich (VG Freiburg, U.v. 21.12.2021 - 8 K 1235/20 - juris Ls. 2; U.v. 26.1.2022 - 7 K 826/20 - juris; U.v. 17.5.2022 - 10 K 5070/19 - juris; U.v. 21.6.2022 - 10 K 542/20 - juris). Auch das Bundesverwaltungsgericht hat die Rechtmäßigkeit einer - im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung inlandsbezogenen - Ausweisung nicht am Fehlen einer Rückkehrentscheidung i.S.e. Abschiebungsandrohung scheitern lassen; hierbei allerdings ausdrücklich die Frage offengelassen, „ob im Lichte der oben dargestellten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union etwas anderes dann gelten müsste, wenn die Ausweisung von vornherein als sogenannte inlandsbezogene Ausweisung ergangen wäre, die gezielt nicht auf eine Aufenthaltsbeendigung durch freiwillige Ausreise oder Abschiebung, sondern wegen Vorliegens eines voraussichtlich auf absehbare Zeit bestehenden Abschiebungshindernisses lediglich auf die Vernichtung des Aufenthaltstitels nach § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG gerichtet und der Erlass einer Abschiebungsandrohung als Rückkehrentscheidung im Sinne des Art. 3 Nr. 4 der RückführungsRL auf absehbare Zeit nicht beabsichtigt wäre“ (BVerwG, U.v. 16.2.2022 - 1 C 6.21 - juris Rn. 40 ff., 42).
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Demgegenüber wird in der Literatur vertreten, dass die EuGH-Entscheidung vom 3. Juni 2021 das „Ende“ der inlandsbezogenen Ausweisung bedeutet (Dörig, EuGH zeigt Alternative zur inlandsbezogenen Ausweisung auf, ZAR 2022, 244, 245), weil das Bestehen eines „Zwischenstatus“ von Drittstaatsangehörigen, die sich ohne Aufenthaltsberechtigung und Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats befinden, gegen die aber keine wirksame Rückkehrentscheidung mehr besteht, der RückführungRL zuwiderlaufe.
54
Diese Auffassung überzeugt die Kammer jedoch nicht. Zwar führt der EuGH in der Entscheidung vom 3. Juni 2021 aus, dass ein Mitgliedstaat, wenn er mit einem Drittstaatsangehörigen befasst ist, der sich in seinem Hoheitsgebiet befindet und nicht oder nicht mehr über einen gültigen Aufenthaltstitel verfügt, nach den einschlägigen Bestimmungen einerseits ermitteln müsse, ob diesem Drittstaatsangehörigen ein neuer Aufenthaltstitel zu erteilen, und wenn dies nicht der Fall sei, der Mitgliedstaat verpflichtet sei, gegen diesen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, die gemäß Art. 11 Abs. 1 der RückführungsRL mit einem Einreiseverbot i.S.v. Art. 3 Nr. 6 RückführungsRL einhergehen könne oder müsse, und auch dass es sowohl dem Gegenstand der RückführungsRL als auch dem Wortlaut von Art. 6 RückführungsRL zuwiderlaufe, das Bestehen eines „Zwischenstatus“ von Drittstaatsangehörigen zu dulden, die sich ohne Aufenthaltsberechtigung und ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats befinden und ggf. einem Einreiseverbot unterliegen, gegen die aber keine wirksame Rückkehrentscheidung mehr besteht. Allerdings ist dem entgegenzuhalten, dass der EuGH selbst ebenfalls nur wenige Monate zuvor andererseits entschieden hat, dass es dem Mitgliedstaat „rechtlich unmöglich“ sei, die ihm gemäß Art. 6 Abs. 2 (sic) RückführungsRL obliegende Pflicht, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, zu erfüllen, wenn für den Zielstaat der Abschiebung - wie vorliegend - ein Abschiebungsverbot besteht (EuGH, U.v. 24.2.2021 - C-673/19 - BeckRS 2021, 2426 Rn. 40 ff., 42). Zutreffend weist der Verwaltungsgerichtshof Mannheim deshalb darauf hin, dass die Rechtsansicht des EuGH, es gebe von der Verpflichtung der Mitgliedstaaten, ein Rückkehrverfahren einzuleiten, wenn kein Aufenthaltsrecht gewährt werde, keine Ausnahme, ihrerseits nicht berücksichtigt, dass die nach Art. 24 Abs. 1 der RL 2011/95/EU über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (AnerkennungsRL) zulässige Ausweisung bei einem anerkannten Flüchtling den Fortbestand seines Status unberührt lässt, und eine Abschiebungsandrohung daher gar nicht ergehen darf. Die Gefahrenabwehr durch eine inlandsbezogene Ausweisung würde „ad absurdum“ geführt, wenn man dem Europäischen Gerichtshof folgen würde, wonach der Mitgliedstaat nur die Möglichkeit habe, entweder ein Rückkehrverfahren einzuleiten oder den Aufenthalt zu legalisieren, wenn - wie vorliegend - eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werden darf (VGH BW, U.v. 15.4.2021 - 12 S 2505/20 - juris Rn. 146). Insbesondere vor diesem Hintergrund der gegenwärtigen Inkonsistenzen der Entscheidungen des EuGH geht das Gericht auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass das Bundesverwaltungsgericht die Frage ausdrücklich offengelassen hat, davon aus, dass die sog. inlandsbezogene Ausweisung nach wie vor zulässig ist.
55
2.1.2. Die Ausweisung des Klägers muss sich am (erhöhten) Maßstab des § 53 Abs. 3a AufenthG messen lassen, weil der Kläger als Ausländer die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings genießt.
56
Als Ausländer, der im Bundesgebiet die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings genießt, darf der Kläger nur ausgewiesen werden, wenn er aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eine terroristische Gefahr anzusehen ist oder er eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt, weil er wegen einer schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde (§ 53 Abs. 3a AufenthG). Grundsätzlich ist die Ausweisung eines Ausländers nur dann zulässig, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet, und die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen am Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse überwiegt (§ 53 Abs. 1 AufenthG).
57
Der Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch das Bundesamt mit Bescheid vom 12. Januar 2021 ist wegen der hiergegen gerichteten, noch anhängigen Klage (M 19 K 21.30373) noch nicht bestandskräftig. Es wurde auch noch nicht erstinstanzlich über die Klage gegen den Widerruf entschieden. In der Rechtsprechung wird die Frage, ob die Bindungswirkung der konstitutiven asylrechtlichen Statusentscheidung für ein Ausweisungsverfahren erst mit Eintritt der Bestandskraft der Widerrufsentscheidung oder bereits mit Wirksamkeit und Vollziehbarkeit des Widerrufs oder zumindest nach Ergehen einer erstinstanzlichen Entscheidung entfällt, zwar nicht einheitlich beantwortet (für Bestandskrafterfordernis wohl BayVGH, B. v. 23.2.2016 - 10 B 13.1446 - juris Rn. 3; offen: OVG Magdeburg, B.v. 27.1.2021 - 2 M 101/20 - juris Rn. 29; VGH BW, U.v. 13.3.2001 - 11 S 2374/99 - juris Rn. 27 f.; VG Freiburg, U.v. 24.6.2021 - 10 K 1661/19 - juris Rn. 36; andererseits OVG Bremen, B.v. 9.12.2020 - 2 B 240/20 - juris Rn. 10 ff.). Hierauf kommt es im Ergebnis indes nicht an, weil das Gericht seiner Entscheidung die für den Kläger günstigste Rechtsauffassung zu Grunde legt, so dass mangels Bestandskraft der Widerrufsentscheidung des Bundesamts davon auszugehen ist, dass der Kläger ein Ausländer ist, der im Bundesgebiet die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings genießt.
58
2.1.3. Der Kläger stellt zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eine Gefahr für die Allgemeinheit dar, weil er wegen einer schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.
59
Die rechtskräftige Verurteilung zu einer Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten wegen Beleidigung in drei tatmehrheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit versuchter Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit versuchter räuberischer Erpressung in zwei tateinheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit versuchter Brandstiftung in Tateinheit mit Sachbeschädigung in Tatmehrheit mit Hausfriedensbruch unter Einbeziehung der Verurteilung zu einer Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren und vier Monaten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit Bedrohung in Tatmehrheit mit Beleidigung in zwei tateinheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit Hausfriedensbruch in Tatmehrheit mit Sachbeschädigung in zwei tatmehrheitlichen Fällen stellt eine rechtskräftige Verurteilung wegen einer schweren Straftat i.S.v. § 53 Abs. 3a Var. 3 AufenthG dar (2.1.3.1.). Es besteht auch die erforderliche Verbindung zwischen der vom Ausländer ausgehenden Gefahr und der schweren Straftat (vgl. OVG Magdeburg, B.v. 27.1.2021 - 2 M 101/20 - juris Ls. 2, Rn. 30) (2.1.3.2.).
60
Bei der schweren Straftat in diesem Sinne muss es sich nicht um eine „besonders schwere“ Straftat gemäß Art. 14 Abs. 4 lit. b der AnerkennungsRL handeln. § 53 Abs. 3a Var. 3 AufenthG ist im Lichte des Art. 24 Abs. 1 der AnerkennungsRL auszulegen, nach welchem „zwingende“ Gründe der nationalen Sicherheit oder Ordnung eine Ausweisung gestatten (VGH BW, U.v. 15.4.2021 - 12 S 2505/20 - juris Ls. 4, Rn. 110 ff.; Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 7 Rn. 55 ff.; Katzer in BeckOK, MigrR, § 53 Rn. 78, 81; Hailbronner, AuslR § 53 Rn. 208 ff., Funke-Kaiser in GK-AsylG, § 2 Rn. 36 i.V.m. Rn. 27 ff.; a.A. Bauer in Bergmann/Dienelt, § 53 Rn. 97 f.; Thym, Geordnete Rückkehr und Bleiberecht im Dschungel des Migrationsrechts, ZAR 2019, 353, 356). Eine Verurteilung wegen einer schweren Straftat i.S.v. § 53 Abs. 3a Var. 3 AufenthG ist gleichwohl nicht immer schon dann anzunehmen, wenn - wie vorliegend (s.u.) - eine Bestrafung vorliegt, die ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 AufenthG begründet (VGH BW, U.v. 15.4.2021, a.a.O., juris Rn. 120; a.A. Hailbronner, AuslR, § 53 Rn. 217). Denn allein die Verortung in § 54 Abs. 1, 1a) oder 1b) AufenthG reicht für die Bejahung einer schweren Straftat u.a. deshalb nicht aus, weil sie keine - unionsrechtlich jedoch gebotene - Prüfung aller Umstände des Einzelfalls enthält (VGH BW, U.v. 15.4.2021, a.a.O., juris Rn. 120 m.w.N.). Auch eine rechtskräftige Verurteilung zu einer Jugendstrafe stellt eine taugliche Verurteilung i.S.v. § 53 Abs. 3a Var. 3 AufenthG dar. Denn es bedarf nach dem Gesetzeswortlaut keiner bestimmten Art der Verurteilung oder einer bestimmten Strafhöhe. Im Unterschied zu § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG, der nur im Falle einer Freiheitsstrafe einschlägig sein kann, umfasst § 53 Abs. 3a Var. 3 AufenthG auch die Jugendstrafe. Da auch bei realkonkurrierenden Delikten die Jugendstrafe nur einheitlich verhängt wird (§ 31 JGG) und - anders als im Erwachsenenstrafrecht (§§ 53, 54 StGB) - keine Einzelstrafe vor der Bildung einer Gesamtstrafe ausgewiesen wird, ist der gesetzgeberischen Entscheidung immanent, dass es nicht erforderlich ist, der konkret verwirklichten Straftat eine genaue Strafhöhe zuzuordnen (VGH BW, U.v. 15.4.2021, a.a.O., juris Rn. 122). Nach dem Wortlaut des Gesetzes ist - den völker- und unionsrechtlichen Vorgaben entsprechend - klargestellt, dass die Gefahr von dem Ausländer selbst ausgehen muss („er“), eine Ausweisung nach § 53 Abs. 3a AufenthG mithin nur aus spezialpräventiven, nicht aber aus generalpräventiven Gründen möglich ist (OVG Magdeburg, B.v. 27.1.2021 - 2 M 101/20 - juris Rn. 30 m.w.N.; Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, Stand: 1.1.2022, AufenthG § 53 Rn. 126). Typischerweise sind beachtliche schwere Straftaten etwa Vergewaltigung, Drogenhandel, versuchter Mord, schwerer Raub und schwere Körperverletzung (OVG Magdeburg, B.v. 27.1.2021, a.a.O., juris Rn. 30). Allerdings entbindet die Begehung einer solchen Straftat nicht von der Prüfung, ob die kriminelle Handlung im konkreten Einzelfall als objektiv und subjektiv besonders schwerwiegend zu betrachten ist (OVG Magdeburg, B.v 27.1.2021, a.a.O., juris Rn. 30; vgl. VGH BW, U.v. 15.4.2021, a.a.O., juris Rn. 121).
61
2.1.3.1. Nach diesen Maßstäben liegt der Ausweisung des Klägers die rechtskräftige Verurteilung wegen einer schweren Straftat i.S.v. § 53 Abs. 3a Var. 3 AufenthG zugrunde.
62
Die Entscheidung vom 25. Juni 2020, in die die Entscheidung vom 28. Februar 2020 einbezogen wurde, ist rechtskräftig. Gegen den Kläger wurde damit wegen folgender Straftaten eine einheitliche Jugendstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verhängt: Beleidigung, vorsätzliche Körperverletzung, versuchte Körperverletzung, versuchte räuberische Erpressung, versuchte Brandstiftung, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch, sexueller Missbrauch von Kindern, Vergewaltigung und Bedrohung. Die kriminellen Taten des Klägers, insbesondere im Hinblick auf den sexuellen Missbrauch von Kindern und die Vergewaltigung, waren unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls sowohl auch objektiv und subjektiv schwerwiegend.
63
Bei einer Vergewaltigung handelt es sich schon typischerweise um eine schwere Straftat. Die am … … 2019 begangenen Sexualstraftaten des damals 14-jährigen Klägers sind jedoch auch im Einzelfall sowohl subjektiv als auch objektiv als schwerwiegend zu betrachten. Das Berufungsgericht sieht in den Taten des Klägers, insbesondere derjenigen am … … 2019, eine charakterliche Haltung und Motivationslage zum Ausdruck gekommen, die sich in „ganz erheblicher Weise in vorwerfbarer persönlicher Schuld“ niedergeschlagen hat. Durch das Delikt der Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern hat der Kläger danach unter Berücksichtigung der Tatintensität eine „im höchsten Maße zu missbilligende Handlung“ begangen, die geeignet ist, das Opfer sein Leben lang zu traumatisieren. Der Kläger hat mehrere Tatbestände tateinheitlich und dabei auch zwei Qualifikationstatbestände des § 177 Abs. 5 StGB verwirklicht. Er hat Gewalt gegenüber dem Tatopfer angewendet und mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben gedroht. Die Tathandlung hat sich über einen längeren Zeitraum erstreckt und in einem öffentlichen Schwimmbad stattgefunden, was das Sicherheitsgefühl des Tatopfers erheblich beeinträchtigt hat. Erschwerend hat das Landgericht auch die Intensität der Gewaltanwendung, insbesondere das Würgen des Tatopfers, bis es keine Luft mehr bekommen hat, und das intensive Kneten der Brüste, das nicht nur zu erheblichen Schmerzen, sondern zur Entstehung von Hämatomen geführt hat, gewertet. Die Tat hat das Tatopfer nicht nur nachhaltig in seiner sexuellen Entwicklung gestört, sondern es litt noch Ende Februar 2020 - also sieben Monate nach der Tat - massiv unter den Folgen der Tat. Die Geschädigte befand sich u.a. in psychologischer Betreuung und verließ das Haus nicht mehr allein. Der Kläger hat damit eine anhaltende psychische Beeinträchtigung der Geschädigten herbeigeführt. Auch die kriminalprognostische Gutachterin bewertete das Vorgehen des Klägers als „sehr gefühlskalt und planerisch“. Der Kläger habe die Geschädigte, die wegen einer anderen Straftat für ihn ungünstige Aussagen gegenüber der Polizei gemacht hatte, erniedrigen und sich an ihr rächen wollen, es gehe ihm um Macht und Erniedrigung. Dabei habe er den sexuellen Missbrauch und die Vergewaltigung auch entschlossen und hartnäckig fortgesetzt, obwohl die Geschädigte sich zur Wehr gesetzt habe. Auch die versuchte räuberische Erpressung am 29. Juni 2019 beruht nach Auffassung des Strafgerichts auf einem Verhalten des Klägers, das sich „in hohem Maße durch Respektlosigkeit und rücksichtslose Befriedigung eigener Bedürfnisse auf Kosten anderer“ auszeichnet. Der Geschädigte hat erhebliche psychische Folgen erlitten; er hat sich für sechs Monate in psychologische Behandlung begeben und ein Jahr nach der Tat den tatörtlichen U-Bahnhof aufgrund des als unerträglich empfundenen Kontrollverlusts immer noch nicht besuchen können. Nach Wertung der kriminalprognostischen Gutachterin stellt der Kläger auch bewusst Situationen her, um jemanden „mit Grund“ schlagen zu können. Das Gericht bewertet die Taten des Klägers daher auch im Einzelfall als objektiv und subjektiv schwerwiegend.
64
2.1.3.2. Der Kläger stellt im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung aufgrund der rechtskräftigen Verurteilung wegen einer schweren Straftat auch eine Gefahr für die Allgemeinheit dar. Wie sich aus dem Wortlaut („weil“) ergibt, bedarf es bei einer Ausweisung, bei der erhöhter Ausweisungsschutz gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG zu berücksichtigen ist, einer Verbindung zwischen der konkreten schweren Straftat, für die der Ausländer rechtskräftig verurteilt wurde, und der Gefahr, die von ihm ausgeht (VGH BW, U.v. 15.4.2021, a.a.O., juris Rn. 123; OVG Magdeburg, B.v. 27.1.2021 - 2 M 101/20 - juris Ls. 2, Rn. 30).
65
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose hinsichtlich der Wiederholungsgefahr zu treffen, ohne dass sie an die Feststellungen der Strafgerichte rechtlich gebunden sind (vgl. zum Erfordernis etwa BVerwG, U.v. 26.2.2002 - 1 C 21/00 - juris Rn. 22). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Tat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Für die Feststellung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr gilt ein differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wonach an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BVerwG, U.v. 4.10.2012 - 1 C 13.11 - juris Rn. 18). Der Rang des bedrohten Rechtsguts bestimmt dabei die mögliche Schadenshöhe, wobei jedoch keine zu geringen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gestellt werden dürfen (BVerwG, U.v. 10.7.2012, a.a.O.).
66
Gemessen an diesen Maßstäben geht vom Kläger ohne Zweifel eine erhebliche Wiederholungsgefahr aus. Es besteht unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass er bei einem Verbleib im Bundesgebiet erneut Straftaten im Bereich von Sexual- und Gewaltdelikten begehen wird und er damit eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt.
67
Der Ausweisung des Klägers liegen u.a. Sexual- und Gewaltstraftaten zu Grunde. Die Rechtsgüter der sexuellen Selbstbestimmung und der körperlichen Unversehrtheit nehmen in der an den Grundrechten orientierten Wertehierarchie einen sehr hohen Wert ein und lösen staatliche Schutzpflichten aus. Erst Recht gilt dies für den Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch. An die Wahrscheinlichkeit eines künftigen Schadenseintritts sind somit im vorliegenden Fall keine zu hohen Anforderungen zu stellen.
68
Die Entwicklung des Klägers zeigt eine frühe Delinquenz mit erheblicher Steigerung der Intensität der Straftaten bis hin zur Begehung eines Sexualdelikts an einem Kind. Schon im strafunmündigen Alter lagen zahlreiche Anzeigen gegen den Kläger als Beschuldigten vor. Eine Verurteilung im Juni 2019 schreckte den Kläger nicht von der Begehung weiterer Straftaten ab, auch nicht eine vorläufige Festnahme. Der Kläger wurde im Zeitraum seiner Inhaftierung vom 2. August 2019 bis zum 27. Mai 2022 vielfach disziplinarisch belangt. Die Behandlung in der Sozialtherapeutischen Abteilung für Sexualstraftäter in Justizvollzugsanstalt … wurde aufgrund des Verhaltens des Klägers vorzeitig abgebrochen. Weiter wurde Führungsaufsicht und Bewährungshilfe für die Dauer von drei Jahren und ebenso lange Bewährungshilfe angeordnet. Seit seiner Entlassung lebt der Kläger wieder im Elternhaus, obwohl die kriminalprognostische Gutachterin dieses als „kriminogen“ eingestuft und eine Rückkehr des Klägers in die Familie aus psychologischer Sicht als „keine Option“ bewertet hat. Versuche der Ergänzungspflegerin, den Kläger statt im Elternhaus in einer Jugendhilfeeinrichtung unterzubringen, scheiterten am Nichtmitwirken des Klägers. Damit ist der als 14-Jähriger inhaftierte, als 15-Jähriger erstmals zu einer mehrjährigen Jugendstrafe verurteilte, nach vollständiger Verbüßung der Jugendstrafe mittlerweile 17 Jahre alte Kläger untherapiert wieder in genau das Umfeld zurückgekehrt, aus dem heraus er bereits in der Vergangenheit erhebliche Straftaten begangen hat. Insgesamt hat eine Aufarbeitung der Taten und ein damit einhergehendes Umdenken nicht stattgefunden. Der Kläger hat das Gericht hiervon in der mündlichen Verhandlung nicht überzeugen können. Auch gibt es keine sonstigen stabilisierenden Faktoren im Leben des Klägers, die den Schluss zuließen, er werde nicht erneut Straftaten begehen. Eine vor acht Tagen begonnene Ausbildung genügt hierfür ebenso wenig wie dreiwöchentliche Gespräche bei der Suchtberatung und eine am … … 2022 beginnende Therapie des Klägers in der Fachambulanz für Gewalt- und Sexualstraftäter. Es ist daher vom Fortbestand einer Wiederholungsgefahr auszugehen. Auch die Gutachterin stufte im August 2021 die Rückfallgefahr beim Kläger sowohl hinsichtlich Sexualstraftaten als auch Gewaltstraftaten als erheblich ein. Die Justizvollzugsanstalt … empfahl am 24. Februar 2022 hinsichtlich der Ausgestaltung der für erforderlich gehaltenen Führungsaufsicht u.a. folgende Maßnahmen: Suchtberatung mit Nachweis von 12 Stabilisierungsgesprächen, Drogen- und Alkohlabstinenz, engmaschige psychiatrische Weiterbehandlung, z.B. durch Herrn Dr. R., engmaschige Anbindung an die Fachambulanz für Sexualstraftäter, mit anfangs wöchentlicher Frequenz, für die von dort festzulegende Dauer (Dr. R. mind. 24 Monate), sofern das nicht möglich sein sollte, Kontakt zu einer Therapiestelle mit vergleichbarer Qualifikation, z.B. … …, zwingend erforderliche Aufnahme ins HEADS-Programm, Anbindung an einen Bewährungshelfer, wenn möglich im Rahmen einer intensiven Begleitung (z.B. Rubikon), Nachweis der Bemühung um Ausbildung, Arbeit oder eine andere Form von Beschäftigung, Zusammenarbeit mit dem Jugendamt, Prüfung als potentieller aMIT bzw. SPOCK-Proband. Vor diesem Hintergrund vermag weder das junge Alter des immer noch minderjährigen Klägers noch der Umstand, dass er „nur“ nach Jugendstrafrecht verurteilt wurde und Erstverbüßer ist, die Prognose hinsichtlich der Wiederholungsgefahr maßgeblich zu Gunsten des Klägers beeinflussen.
69
Die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Ausweisung des Klägers als Ausländer, der im Bundesgebiet die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings genießt, liegen vor.
70
2.1.4. Die bei Vorliegen der erforderlichen Gefährdungslage unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise des Klägers überwiegt (§ 53 Abs. 1 AufenthG).
71
§ 53 AufenthG gestaltet die Ausweisung als Ergebnis einer umfassenden, ergebnisoffenen Abwägung aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus. In die Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG sind die in §§ 54, 55 AufenthG vorgesehenen normierten Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen. Daneben sind aber auch weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar. Die Katalogisierung in den §§ 54, 55 AufenthG schließt die Berücksichtigung weiterer Umstände nicht aus (BT-Drs. 18/4097, S. 49). Bei der Abwägung sind nach den Umständen des Einzelfalls insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen (§ 53 Abs. 2 AufenthG). Auch die Aufzählung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien ist nicht abschließend (BT-Drs. 18/4097, S. 50). Die Bleibeinteressentatbestände erfassen prinzipiell die Grundrechtspositionen und tragen den Wertentscheidungen der EMRK in grundsätzlich ausreichender Weise Rechnung (vgl. BVerfG, B.v. 1.3.2004 - 2 BvR 1570/03 - juris Rn. 21). Ungeachtet dessen sind die Bleibeinteressen des Ausländers, die sich auf Grundrechtspositionen und auf Wertentscheidungen der EMRK stützen lassen, bei der vorzunehmenden Abwägung ihrer Wertigkeit entsprechend im Rahmen der Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung in die Abwägung einzustellen und zu gewichten. Insbesondere sollen in die Abwägung die Kriterien mit einbezogen werden, die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) insoweit zu Art. 8 EMRK entwickelt worden sind: Art und Schwere der Straftat, Dauer des Aufenthalts im Gastland, seit der Tatzeit verstrichene Zeitspanne und Verhalten des Ausländers in dieser Zeit, Staatsangehörigkeit der Betroffenen, familiäre Situation und Dauer einer etwaigen Ehe, etwaige Kenntnis des Ehegatten von der Straftat bei Aufnahme der Beziehung, etwaige aus der Ehe hervorgegangene Kinder, ihr Alter und das Maß an Schwierigkeiten, denen der Ehegatte und/oder die Kinder im Abschiebungszielland begegnen können sowie die Festigkeit der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Abschiebungszielstaat (BT-Drs. 18/4097, S. 49; EGMR, U.v. 18.10.2006 - Üner, Nr. 46410/99 - juris; U.v. 2.8.2001 - Boultif, Nr. 54273/00 - InfAuslR 2001, 476-481; U.v. 12.1.2010 - 47486/06 - Abdul Waheed Khan in Fortschreibung der Boultif/Üner-Kriterien; OVG NRW, U.v. 22.3.2012 - 18 A 951/09 - juris). Mittlerweile ist die Frage höchstgerichtlich geklärt, dass in die Abwägung nur solche zielstaatsbezogenen Umstände einzubeziehen sind, die nicht der Prüfung durch das Bundesamt in einem Asylverfahren vorbehalten sind. Der Ausländer, der gegen seine Ausweisung vorgeht, hat weder ein Wahlrecht zwischen einer Prüfung durch die Ausländerbehörde und einer Prüfung durch das Bundesamt noch einen Anspruch auf Doppelprüfung (BVerwG, U.v. 16.2.2022 - 1 C 6.21). Nach diesen Maßgaben überwiegt vorliegend das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers.
72
2.1.4.1. Aufgrund der Verurteilung vom 25. Juni 2020 zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten liegt das normierte besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, das eine rechtskräftige Verurteilung wegen vorsätzlicher Straftaten zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren erfordert, vor. Ob weiter auch das besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1a lit. c) AufenthG wegen Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Vergewaltigung gegeben ist, kann nicht festgestellt werden, weil sich nach den Urteilsgründen bzw. insbesondere den Strafzumessungserwägungen zwar vermuten, nicht aber entnehmen lässt, dass allein wegen dieser Taten eine Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als einem Jahr verhängt wurde. Damit wird dieses besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse der Abwägung nicht auch zu Grunde gelegt.
73
2.1.4.2. Diesem normierten besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse stehen das besonders schwerwiegende Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. AufenthG, weil der Kläger eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, und die normierten schwerwiegenden Bleibeinteressen gemäß § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG, weil der Kläger minderjährig ist und eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und gemäß § 55 Abs. 2 Nr. 4 AufenthG, weil der Kläger minderjährig ist und sich die Eltern rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, gegenüber. Dem normierten schwerwiegenden Bleibeinteresse gemäß § 55 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG, weil die Belange oder das Wohl eines Kindes zu berücksichtigen sind, kommt vorliegend keine eigenständige Bedeutung zu. Es erfasst zwar grundsätzlich auch Fälle, in denen - wie vorliegend - ein Kind als Adressat von einer Ausweisung betroffen ist. Weil den nach Art. 6 GG schutzwürdigen Belangen eines Minderjährigen jedoch bereits gemäß § 55 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 4 AufenthG als schwerwiegende Bleibeinteressen Rechnung getragen wird, kommt die Norm vorliegend nicht zum Tragen. Sie hat nämlich eine Auffang- und Ergänzungsfunktion (Bergmann/Dienelt, AufenthG, § 55 Rn. 25; Katzer in BeckOK, MigR, § 55 Rn. 42). Unabhängig davon werden die Belange und das Wohl eines Kindes ohnehin in jedem Fall in die Gesamtabwägung nach § 53 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG eingestellt und mit dem ihnen in dem jeweiligen Einzelfall zukommenden besonderen Gewicht berücksichtigt.
74
2.1.4.3. Bei der nach § 53 Abs. 1 AufenthG erforderlichen Abwägung zwischen Ausweisungs- und Bleibeinteressen überwiegt vorliegend unter Berücksichtigung insbesondere der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien und aller sonstigen Umstände des Einzelfalls insbesondere unter Berücksichtigung der Minderjährigkeit des Klägers sowie der Inlandsbezogenheit der Ausweisung das öffentliche Interesse an der Ausreise dessen Bleibeinteresse. Die Ausweisung ist angesichts der Gesamtumstände und unter Berücksichtigung der Anforderungen des Art. 6 GG und Art. 8 EMRK auch nicht unverhältnismäßig.
75
Eine arithmetische Abwägung im Hinblick auf die normierten Ausweisungs- und Bleibeinteressen erfolgt nicht. Der 17-jährige Kläger hält sich im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung seit zwölf Jahren und fast vier Monaten im Bundesgebiet auf; er hat also mehr als zwei Drittel seines bisherigen Lebens im Bundesgebiet verbracht. Er hat in der Haft einen Schulabschluss erworben und vor einer Woche eine Ausbildung begonnen. Wirtschaftliche Bindungen im Bundesgebiet in relevantem Umfang sind indes trotz des Ausbildungsbeginns im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung nicht ersichtlich. Dass der Kläger aufgrund seiner Jugend zu deren Aufbau noch nicht viel Gelegenheit hatte, fällt zu seinen Gunsten nicht entscheidend ins Gewicht, weil es bei der Ermittlung der Bindungen in einem ersten Schritt zunächst nur um deren objektives Vorliegen geht. Soweit ersichtlich, hat der Kläger persönliche Bindungen im Wesentlichen innerhalb seiner irakischen Familie, die auch während seiner Inhaftierung intensiven und regelmäßigen Kontakt mit ihm gehalten hat. Auch die Familienpatin hat den Kläger in der Haft besucht. Es ist andererseits jedoch zu berücksichtigen, dass mittlerweile alle Geschwister des Klägers volljährig sind, seine Kernfamilie somit nur aus ihm und seinen Eltern besteht. Der Kläger spricht deutsch. Sonstige Bindungen im Bundesgebiet sind - auch unter Berücksichtigung der soeben aufgenommenen Ausbildung - nicht ersichtlich. Der Kläger besitzt die irakische Staatsangehörigkeit und hat in seinem Herkunftsstaat die ersten fünfeinhalb Jahre seines Lebens verbracht; er spricht und versteht die kurdische Sprache. Mit seiner Mutter verständigt er sich auf Kurdisch, da sie keine andere Sprache, insbesondere nicht deutsch, spricht. Soweit eine polizeiliche Anhörung des Klägers auf Arabisch erfolgt sein soll, weil der Kläger der deutschen Sprache nicht mächtig gewesen sei, teilt das Gericht die diesbezüglichen Zweifel das Prozessbevollmächtigten an der inhaltlichen Korrektheit dieses Aktenbestandteils; das Gericht geht ausdrücklich nicht davon aus, dass der Kläger die arabische Sprache beherrscht. Soweit der Kläger vorträgt, an einer rezeptiven Sprachentwicklungsstörung zu leiden, ergibt sich hieraus ausweislich des kriminalprognostischen Gutachtens vom August 2021, dass diese Störung mit einer hohen Rate begleitender sozialer und emotionaler Verhaltensstörungen einhergeht und die Verständigung mit dem Kläger erschwert. Aus ihr ergibt sich aber nicht, dass der Kläger nicht in der Lage wäre, seine Sprachkenntnisse in Kurdisch, zu verbessern, sofern er sie für zu mangelhaft hält. Diese Störung hat auch den deutschen Spracherwerb nicht verhindert; der Kläger hat im Abschlusszeugnis in Deutsch die Note „Sehr gut“. Dem Kläger ist es auch zuzumuten, seine Sprachkenntnisse ggf. zu verbessern. Seine intellektuellen Fähigkeiten dürften ihn daran nicht hindern. Die Gutachterin bescheinigt dem Kläger eine „große Ressource“, die „unbedingt“ genutzt werden soll. Der Kläger sei intelligent und zu ordentlichen Leistungen in der Schule fähig. Dass das Intelligenzniveau des Klägers „nach klinischem Eindruck“ im „eher unterdurchschnittlichen Leistungsbereich“ liege, sei durch die psychologische Testung nicht bestätigt worden. Das Gericht legt seiner Entscheidung auch den Vortrag des Klägers zu Grunde, dass im Irak keine Verwandten mehr leben. Zu einer Trennung des Minderjährigen von seinen Eltern führt die Ausweisung vorliegend faktisch nicht, weil der Kläger bis zum Erreichen der Volljährigkeit von der Beklagten geduldet wird. Rechtstreu hat sich der Kläger ersichtlich nicht verhalten. Der Kläger hat Sexual-, Gewalt- und Eigentumsstrafen begangen, die sich im Bereich der mittleren bis schweren Kriminalität bewegen. Seit der Begehung der letzten verurteilten Straftat vom 10. Oktober 2019 sind noch keine drei Jahre vergangen. Das Verhalten nach den Taten ist durch zahlreiche erzieherische Maßnahmen innerhalb der Justizvollzugsanstalten sowohl erzieherischer als auch disziplinarischer Art und den Abbruch einer erforderlichen Therapie für Sexualstraftäter aufgrund des klägerischen Verhalten geprägt. Einer für erforderlich erachteten externen Unterbringung nach der Haftentlassung hat sich der Kläger nachhaltig und erfolgreich widersetzt. Der Kläger steht unter Führungsaufsicht. Er befindet sich seit drei Monaten auf freien Fuß, und hat vor einer guten Woche eine Ausbildung begonnen. Zum Gastland bestehen - mit Ausnahme des Spracherwerbs und des Erwerbs des Mittelschulabschlusses - keine gefestigten sozialen oder kulturellen Bindungen, solche wurden auch weder vorgetragen noch sind sie, auch unter Berücksichtigung der langjährigen Betreuung durch eine Familienpatin, ersichtlich. Die Kernfamilie des Klägers umfasst den minderjährigen Kläger als Adressaten der Ausweisungsverfügung und seine irakischen Eltern. Die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen im Gastland beziehen sich auf die Kernfamilie mit den Eltern, die erweiterte Familie mit den Geschwistern und sonstigen Verwandten und die Familienpatin. Die sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Zielland dürften sich auf den Spracherwerb in Kurdisch, das Aufwachsen im Irak in den ersten fünfeinhalb Lebensjahren und auf das Aufwachsen innerhalb einer irakischen Großfamilie im Gastland und die dadurch vermittelte Kenntnis sozialer irakischer Gepflogenheiten beschränken. Sie gehen damit aber deutlich über das „rein formale Band der Staatsangehörigkeit“ hinaus; der Kläger ist damit im Irak nicht entwurzelt. Soweit der Kläger mit seinem Vorbringen zielstaatsbezogen vorträgt, ist diesbezüglich das Bundesamt zuständig (§ 42 AsylG), das der Minderjährigkeit des Klägers, soweit ersichtlich, mit Bescheid vom 12. Januar 2021 durch Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG Rechnung getragen hat. Soweit der Kläger zielstaatsbezogene Gefahren geltend macht, die ihrer Art nach nicht einer Prüfung durch das Bundesamt vorbehalten sind, sind sie als Umstände des Einzelfalls, insbesondere als persönliche, wirtschaftliche oder sonstige Bindungen im Herkunftsstaat i.S.v. § 53 Abs. 2 AufenthG zwar in die nach § 53 Abs. 1 AufenthG erforderliche Abwägung einzustellen. Vorliegend sind indes weitere zielstaatsbezogene Beeinträchtigungen im Herkunftsstaat, die das Gewicht eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nicht erreichen, aber gleichwohl so erheblich sind, dass sie sich auf die durch Art. 7 GRC und Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Belange des Ausländers auswirken können (vgl. BVerwG, U.v. 16.12.2021 - 1 C 60.20 - juris Rn. 50 ff. mwN; U.v. 16.2.2022 - 1 C 6.21 - juris Rn. 35) weder vorgetragen noch ersichtlich.
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Die einzelnen Interessen sind zu gewichten. Bei der Gewichtung der Bleibeinteressen des minderjährigen Klägers ist zu berücksichtigen, dass dieser nur noch wenige Monate vom Erreichen der Volljährigkeit entfernt ist und die Beeinträchtigung seiner Bleibeinteressen durch Ausreise oder Abschiebung aufgrund der Inlandsbezogenheit der Ausweisung wegen des noch bestehenden Flüchtlingsschutzes und der Duldung zunächst bis zur Volljährigkeit im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung nicht konkret droht. Demgegenüber ist als Interesse an der Ausweisung einerseits zwar die erhebliche Gefährdung höchster Rechtsgüter durch den Kläger maßgeblich zu berücksichtigen, aber andererseits auch, dass der Kläger das Bundesgebiet mangels Abschiebungsandrohung und Duldung tatsächlich nicht verlassen wird, so dass ein effektiver Schutz der redlichen Bevölkerung vor dem Kläger durch eine Ausweisung in seiner Wirksamkeit erheblich reduziert ist. Allerdings verlieren auch die aus spezialpräventiven Gründen für das Ausweisungsinteresse sprechenden Gesichtspunkte vorliegend deshalb nicht völlig ihre Bedeutung. Denn auch vor diesem Hintergrund ist die Ausweisung dennoch als geeignet anzusehen, die festgestellte Gefahr für die Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland zumindest zu verringern. Hierbei sind die ausländerrechtlichen Rechtsfolgen und sonstigen Wirkungen der Ausweisung in den Blick zu nehmen. Denn eine Ausweisung kann ihren ordnungsrechtlichen Charakter auch dann erreichen, wenn sie nicht zu einer Abschiebung des Ausländers in sein Heimatland, sondern „nur“ zu einer Verschlechterung seiner aufenthaltsrechtlichen Position im Bundesgebiet führt, etwa indem einer weiteren Aufenthaltsverfestigung entgegengewirkt wird oder Aufenthaltsbeschränkungen ausgelöst werden (vgl. BayVGH, U.v. 28.6.2016 - 10 B 15.1854 - juris Rn. 40 f.; Fleuß in BeckOK AuslR, AufenthG, Stand: 1.4.2022, § 53 Rn. 6). Das Aufenthaltsgesetz knüpft nämlich verschiedene Wirkungen einer Ausweisung bereits allein an deren Erlass. Das betrifft etwa das Erlöschen des Aufenthaltstitels nach § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG, die Befreiung vom Erfordernis des Aufenthaltstitels nach § 51 Abs. 5 AufenthG, die Versagung einzelner spezieller Aufenthaltstitel (§ 37 Abs. Nr. 1 AufenthG; § 25 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 2 AufenthG) und das Eingreifen von Überwachungsmaßnahmen nach § 56 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 AufenthG. Der Ausweisung kommt damit trotz des dann bestehenden Duldungsanspruchs eine verhaltenssteuernde Wirkung zu. Um überhaupt wieder eine Chance auf die Erteilung eines Aufenthaltstitels zu bekommen und einen gesicherten Aufenthalt zu erhalten, darf kein neues Ausweisungsinteresse entstehen, d.h. der Kläger darf nicht erneut straffällig werden (vgl. BayVGH, U.v. 28.6.2016 - 10 B 15.1854 - juris Rn. 41). Insofern ist auch die inlandsbezogene Ausweisung geeignet und erforderlich, um die vom Kläger ausgehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung durch Verhaltenssteuerung wirksam einzudämmen. Weiter ist auch zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber die Ausweisung als gebundene Entscheidung ausgestaltet hat, die von der Ausländerbehörde zu treffen ist, wenn der Tatbestand erfüllt ist. Eine Ermessensentscheidung, in deren Rahmen auch die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne und damit der Grad der Eignung im Verhältnis zur Intensität der Rechtsbeeinträchtigung zu prüfen wäre, ist gerade nicht vorgesehen (vgl. VG Freiburg, U.v. 17.5.2022 - 10 K 5070/19 - juris Rn. 108). Damit führt die Abwägung vorliegend zum Ergebnis, dass das Interesse an der Beendigung des Aufenthalts des Klägers auch dann überwiegt, wenn die Ausweisung nicht zu einer Beendigung des Aufenthalts führt.
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Die Ausweisung des Klägers erweist sich damit als rechtmäßig, insbesondere verhältnismäßig.
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2.2. Die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots in Nr. 3 des Bescheids ist aufzuheben, weil sie rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Sie erweisen sich als rechtswidrig, weil eine Rückkehrentscheidung nicht ergangen ist.
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Der EuGH sieht insbesondere auf der Grundlage von Art. 6 RückführungsRL eine wirksame Rückkehrentscheidung als zwingende Voraussetzung für den Bestand eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Art. 11 der RückführungsRL an (EuGH, U.v. 3.6.2021, a.a.O., juris Rn. 55 ff., 61). Auch wenn das nationale Recht die Ausländerbehörde zum Erlass eines Einreise- und Aufenthaltsverbots gegen einen Ausländer, der ausgewiesen worden ist, verpflichtet (§ 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) und das Einreise- und Aufenthaltsverbot zusammen mit der Ausweisungsverfügung zu erlassen (§ 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) und bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen ist (§ 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG), sind diese Regelungen unionsrechtskonform dahingehend auszulegen, dass die Anordnung und Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots ohne den Erlass einer Abschiebungsandrohung unzulässig ist.
80
Eine Rückkehrentscheidung in Form einer Abschiebungsandrohung ist bei der vorliegenden inlandsbezogenen Ausweisung indes gerade nicht ergangen (s.o.).
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Angesichts der Urteile des Europäischen Gerichtshofs vom 3. Juni 2021 und des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Februar 2022 (1 C 6.21 - BeckRS 2022, 10733 Rn. 53) sieht sich das Gericht auch daran gehindert, die Anwendbarkeit der RückführungsRL vorliegend zu verneinen (wie hier: VG Freiburg, U.v. 26.1.2022 - 7 K 826/20 - juris Rn. 49 ff., U.v. 21.6.2022 - 10 K 542/20 - juris Rn. 38 ff.; anders noch VG Freiburg, U.v. 21.12.2021 - 8 K 1235/20 - juris Rn. 57 ff.). Denn der Europäische Gerichtshof hat auf die ausdrückliche Frage des Bundesverwaltungsgerichts (B.v. 9.5.2019 - 1 C 14.19 - juris) deutlich gemacht, dass auch ein Einreise- und Aufenthaltsverbot, das aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auf der Grundlage einer früheren strafrechtlichen Verurteilung zu „nichtmigrationsbedingten Zwecken“ verhängt wurde, unter den Anwendungsbereich der RückführungsRL fällt (EuGH, U.v. 3.6.2021 - C-546/19 - juris Rn. 48; BVerwG, U.v. 16.2.2022 - 1 C 6.21 - juris Rn. 53) und somit am Maßstab der RückführungsRL zu messen ist (a.A. noch VGH BW, U.v. 15.4.2021 - 12 S 2505/20 - juris). Von der Möglichkeit in Art. 2 Abs. 2 lit. b) RückführungsRL, die Richtlinie auf Drittstaatsangehörige, die - wie vorliegend - aufgrund oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind, nicht anzuwenden, hat der deutsche Gesetzgeber gerade keinen Gebrauch gemacht. Danach ist die RückführungsRL generell anwendbar auf Drittstaatsangehörige, die - wie vorliegend - über keinen Aufenthaltstitel oder keine sonstige Aufenthaltsberechtigung im Aufnahmestaat verfügen.
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Auch unter Berücksichtigung der sich hieraus ergebenden Folgen für die Wirksamkeit der Ausweisung als ausländerrechtliches Instrument der Gefahrenabwehr und der hieran anknüpfenden Kritik des Verwaltungsgerichtshofs Mannheim (U.v. 15.4.2021 - 12 S 2505/20 - juris Rn. 139 ff.) kann die Anwendbarkeit der RückführungsRL im vorliegenden Fall nicht verneint werden.
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Die Anordnung - und in der Folge auch die Befristung - des Einreise- und Aufenthaltsverbots in Nr. 3 des Bescheids war somit rechtswidrig und ist aufzuheben.
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II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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III. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.