Titel:
Asylantrag aus der Abschiebehaft
Normenkette:
AsylG § 30 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1, Nr. 4, § 36 Abs. 4 S. 1
Leitsatz:
Wird ein Asylantrag aus der Abschiebungshaft heraus mit der nach objektiven Kriterien erkennbaren Absicht, eine drohende Aufenthaltsbeendigung abzuwenden, ist die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet nicht zu beanstanden. (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Einstweiliger Rechtsschutz, Asylrecht, Herkunftsland: Vietnam, Ablehnung als offensichtlich unbegründet, Asylantragstellung zur Abwendung der Abschiebung, Asyl, Vietnam, Abschiebungsandrohung, Abschiebehaft
Fundstelle:
BeckRS 2022, 33068
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe
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Der Antragsteller wendet sich im Wege des Eilrechtsschutzes gegen die sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung nach Vietnam.
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Der Antragsteller ist vietnamesischer Staatsangehöriger und dem Volk der Kinh zugehörig. Er reiste nach eigenen Angaben erstmals im April oder Mai 2017 von Frankreich kommend in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 22. Mai 2022 reiste der Antragsteller als Insasse eines Nahverkehrszugs aus Österreich kommend erneut in die Bundesrepublik Deutschland ein. Mit Beschluss des Amtsgerichts L* … (* …*) vom 23. Mai 2022 (Az.: * … … *) wurde gegen den Antragsteller Haft zur Sicherung der Abschiebung angeordnet. Seitdem ist der Antragsteller inhaftiert. Der Antragsteller stellte mit Schreiben vom 27. Juli 2022, bei der Beklagten eingegangen am 28. Juli 2022, einen Asylantrag.
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In seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 9. August 2022 gab er im Wesentlichen an, dass er sein Heimatland im Dezember 2015 verlassen habe. Er sei von Hanoi nach Moskau geflogen, habe sich dort aufgehalten und sei etwa im Februar 2016 in Frankreich angekommen. Dort habe er als Tagelöhner gearbeitet, über die Facebook-Gruppe „… … … …“ habe er die Annoncen gefunden. Nach Deutschland sei er das erste Mal im April oder Mai 2017 gereist. Am *. Mai 2017 sei er mit dem Flixbus von Berlin nach München gefahren und ich eine Polizeikontrolle geraten. Da er keine Ausweispapiere dabei gehabt habe, sei er festgenommen worden. Der Antragsteller habe dort falsche Personalien angegeben. Er sei in eine Flüchtlingsunterkunft verbracht worden. Dort sei er von der Person kontaktiert worden, die ihm bei seiner Ausreise aus Vietnam geholfen habe und aufgefordert worden, wieder nach Frankreich zurückzukehren, um dort zu arbeiten. Am 20. Mai 2017 sei der Antragsteller von den deutschen Behörden nach „unbekannt“ abgemeldet worden. Von 2017 bis Anfang 2020 habe sich der Antragsteller in Frankreich aufgehalten und in einem Lager gearbeitet. Im April oder Mai 2020 sei er wieder nach Deutschland bekommen. Im Oktober 2020 habe er eine Anzeige auf Facebook gesehen, wonach für ihn ein spanischer Reisepass besorgt werden könne. Danach habe er manchmal bei Vietnamesen übernachten können. Dies sei bis November 2021 so gegangen. Dann habe der Antragsteller eine Person aus Österreich kennengelernt und sei nach Bregenz gezogen, um dort den Beruf des … zu erlernen. Bis zu seinem polizeilichen Aufgriff am … Mai 2022 habe er in Bregenz gelebt. In Vietnam hab er die 9. Klasse abgeschlossen und anschießend als Straßenverkäufer gearbeitet. Befragt zu seinem Verfolgungsschicksal gab der Antragsteller an, dass er in Deutschland bleiben wolle und deshalb einen Asylantrag gestellt habe. Deutschland halte sich an die Menschenrechte, außerdem habe er bereits sechs oder sieben Jahre hier verbracht und er habe in Deutschland eine Freundin. 2014 bzw. 2015, als er noch als Straßenverkäufer gearbeitet habe, habe er an einer Demonstration gegen zu hohe Steuern teilgenommen. Das sei von der Polizei fotografiert und er sei festgenommen worden. An dem Tag seien alle Verkaufswaren des Antragstellers beschlagnahmt worden und er von der Polizei geschlagen worden. In diesem Zusammenhang sei gegen den Kläger eine Strafe wegen Widerstandes gegen die Polizei verhängt worden. Aufgrund dieser Vorstrafe würde er bei einer Rückkehr nach Vietnam diskriminiert werden. Insgesamt sei drei Mal etwas passiert. Er habe drei Mal demonstriert und drei Mal seien seine Sachen beschlagnahmt worden. Er sei auch für eine Woche festgehalten worden. Der letzte konkrete Zusammenstoß mit der Polizei sei im Februar 2015 gewesen. Nach seiner Ausreise sei seine Mutter von der Polizei zu seinem Verbleib befragt worden. Nachdem diese angegeben habe, dass sie das nicht wisse, sei die Polizei gegangen.
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Mit Bescheid vom 17. August 2022 lehnte das Bundesamt die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und subsidiären Schutz (Nr. 3) als offensichtlich unbegründet ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 4). Der Antragsteller wurde aufgefordert, die Bundesrepublik innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen. Andernfalls wurde ihm die Abschiebung nach Vietnam bzw. in einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht (N. 5). Zudem wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
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Der Antragsteller hat hiergegen Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht München erhoben (M 17 K 22.31739).
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Gleichzeitig beantragte der Antragsteller,
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die aufschiebende Wirkung der Klage hinsichtlich der Abschiebungsandrohung anzuordnen.
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Zur Antragsbegründung trug der Bevollmächtigte des Antragstellers vor, dass eine Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet nach § 30 Abs. 1 AsylG bzw. § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG hier nicht in Betracht komme, da der Antragsteller seine Ausreisegründe in der Bundesamtsanhörung zusammenhängend, stringent und ausführlich geschildert habe. Der Vortrag des Antragstellers weise Bezüge zu einer möglichen menschenunwürdigen Behandlung und damit zu den tatbestandlichen Voraussetzungen des §§ 3 ff. AsylG auf.
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Die Antragsgegnerin beantragte,
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den Antrag abzulehnen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte in diesem Verfahren und im Verfahren M 17 K 22.31739 sowie den Inhalt der vorgelegten Behördenakte des Bundesamts Bezug genommen.
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Der statthafte Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO und § 75 Abs. 1 AsylG ist zulässig, aber unbegründet.
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Nach § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung in den Fällen der Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten nicht angegeben worden sind, bleiben unberücksichtigt, es sei denn, sie sind gerichtsbekannt oder offenkundig (§ 36 Abs. 4 Satz 2 AsylG). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG).
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I. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes liegen vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Abschiebungsandrohung (§ 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG) einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält. Ernstliche Zweifel sind nur dann gegeben, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 - 2 BvR 1516/93 - juris Rn. 99; Pietzsch in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, Stand: 1.1.2020, § 36 AsylG Rn. 37).
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Anknüpfungspunkt der gerichtlichen Überlegungen muss dabei die Prüfung sein, ob das Bundesamt den Asylantrag zu Recht als offensichtlich unbegründet abgelehnt hat und ob diese Qualifizierung auch weiterhin Bestand haben kann. Nur im Falle der Richtigkeit des „Offensichtlichkeitsurteils“ des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge überwiegt das öffentliche Interesse an der Ausreise schon vor der bestandskräftigen Asylablehnung das Interesse des Asylbewerbers an einem fortdauernden Aufenthalt im Bundesgebiet bis zur rechtskräftigen Entscheidung über sein Asylbegehren. Trägt dagegen das „Offensichtlichkeitsurteil“ des Bundesamts nicht, so bedarf es keiner weiteren Erörterung mehr, ob das Schutzbegehren letztlich begründet oder aber (schlicht) unbegründet erscheint. Vielmehr ist dann die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage verfassungsrechtlich geboten (VG Regensburg, B.v. 3.9.2014 - 9 S 13.30394 - juris Rn. 11 unter Bezugnahme auf BVerfG, B.v. 2.5.1984 - 2 BvR 1413/83 - juris Rn. 38 f.).
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Das Gericht hat im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auch die Entscheidung des Bundesamtes, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (§ 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG), zum Gegenstand der Prüfung zu machen. Dies ist zwar der gesetzlichen Regelung des § 36 AsylG nicht ausdrücklich zu entnehmen, folgt jedoch aus § 34 Abs. 1 Nr. 3 AsylG (vgl. Pietzsch in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, Stand: 1.10.2020, AsylG § 36 Rn. 42.1; vgl. zur vergleichbaren Rechtslage nach § 51 Ausländergesetz 1990 auch BVerfG, U.v. 14.5.1996 - 2 BvR 1516/93 - juris Rn. 172).
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II. Nach diesen Maßstäben begegnet die ausführlich begründete Entscheidung des Bundesamts keinen ernstlichen Zweifeln. Das Bundesamt hat den Asylantrag zu Recht als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG stehen der Abschiebung des Antragstellers nach Vietnam nicht entgegen.
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Zur Begründung wird auf die Ausführungen des Bundesamts im angefochtenen Bescheid Bezug genommen, denen das Gericht folgt (§ 77 Abs. 2 AsylG).
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Ergänzend wird Folgendes ausgeführt:
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1. Das Bundesamt hat den Asylantrag zu Recht als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Der Antragsteller hat keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter, Art. 16a Abs. 1 GG (vgl. Textziffer a)), keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß §§ 3 ff. AsylG (vgl. Textziffer b)) und keinen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG (vgl. Textziffer c)), § 30 Abs. 1 AsylG. Ein Grund für die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet liegt vor (vgl. Textziffer d)).
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a) Eine Anerkennung des Antragstellers als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG kommt nicht in Betracht, da der Antragsteller aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist, Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG. Der Antragsteller gab bei seiner Anhörung an, dass er erstmals im April oder Mai 2017 von Frankreich kommend in die Bundesrepublik Deutschland einreiste; seine Festnahme erfolgte anlässlich einer Einreise mit der Bahn von Österreich kommend.
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b) Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtstellung der Flüchtlinge, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten politischen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
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Als Verfolgungshandlung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Verfolgung muss stattfinden, weil der Verfolger dem Ausländer das in Rede stehende Merkmal, z.B. eine bestimmte politische Überzeugung, zuschreibt. Ist dies der Fall, kommt es weder darauf an, ob der Betroffene die ihm zugeschriebene Überzeugung tatsächlich aufweist (§ 3b Abs. 2 AsylG) noch ob er aufgrund dieser tatsächlich tätig geworden ist (§ 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG).
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Nach § 3c AsylG kann die Verfolgung ausgehen von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3).
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Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die oben genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen. Hinsichtlich des Prognosemaßstabs ist bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft in Orientierung an der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK („real risk“) der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen, wie er vormals auch in Art. 2 Buchst. c) RL 2004/83/EG enthalten war und nunmehr in Art. 2 Buchst. d) RL 2011/95/EU in der Umschreibung „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ zu Grunde liegt (vgl. BVerwG, U.v. 1.3.2012 - 10 C 7.11 - juris Rn. 12). Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 32). Wenn sich aus den Gesamtumständen des Falles die reale Möglichkeit einer Verfolgung ergibt, riskiert kein verständiger Mensch die Rückkehr in das Herkunftsland. Bei der Abwägung aller Umstände bezieht der verständige, besonnen und vernünftig denkende Betrachter auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in gewissem Umfang ein (vgl. BVerwG, U.v. 5.11.1991 - 9C 118/90 - juris Rn. 17).
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Des Weiteren kommt sog. Vorverfolgten die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (Qualifikationsrichtlinie) zugute. Danach ist die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (vgl. BVerwG, B.v. 17.9.2019 - 1 B 43.19 - juris Rn. 7 unter Verweis auf U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 - juris Rn. 19). Die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie greift auch bei der Prüfung, ob für den Vorverfolgten im Gebiet einer internen Schutzalternative gemäß § 3 AsylG keine begründete Furcht vor Verfolgung besteht. Die hinter der Beweiserleichterung stehende Teleologie - der humanitäre Charakter des Asyls - verbietet es, einem Schutzsuchenden, der das Schicksal der Verfolgung bereits einmal erlitten hat, das Risiko einer Wiederholung solcher Verfolgung aufzubürden (vgl. BVerwG, U.v. 5.5.2009 - 10 C 21.08 - juris Rn. 22 ff. in Bezug auf die Vorgängervorschrift Art. 8 Abs. 1 RL 2004/83/EG).
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Das Gericht muss dabei sowohl von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Schicksals als auch von der Richtigkeit der Prognose drohender Verfolgung bzw. Schadens die volle Überzeugung gewinnen. Wegen der häufig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Asylbewerbers kann schon allein sein eigener Sachvortrag zur Asylanerkennung führen, sofern sich das Tatsachengericht unter Berücksichtigung aller Umstände von dessen Wahrheit überzeugen kann (BVerwG, B.v. 21.7.1989 - 9 B 239.89 - juris Rn. 3). Dem persönlichen Vorbringen des Rechtssuchenden und dessen Würdigung kommt dabei besondere Bedeutung zu. Es ist Sache des Ausländers, die Gründe seiner Verfolgung und Bedrohung in schlüssiger Form vorzutragen (vgl. §§ 15, 25 AsylG). Dabei hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmige Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei dessen Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten hat. Hierzu gehört, dass der Asylbewerber zu den in seine eigene Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Asylanspruch lückenlos zu tragen (BVerwG, B.v. 26.10.1989 - 9 B 405.89 - juris Rn. 8).
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Der Antragsteller ist nicht vorverfolgt aus den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten flüchtlingsrelevanten Gründen ausgereist.
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Entgegen der Ansicht des Bevollmächtigten des Antragstellers liegt hier keine Vorverfolgung des Antragstellers vor. Die Ausführungen des Bevollmächtigten des Antragstellers zu Ausführungen des Bundesamts zu körperlichen Misshandlungen durch die örtliche Polizei im Zusammenhang mit Schmiergeldern (vgl. S. 9 der Klagebegründung vom 8. September 2022) erschließen sich dem Gericht nicht. Weder geht das Bundesamt in seinem Bescheid auf die genannte „private Streitigkeit“ oder Schmiergelder ein, noch machte der Antragsteller hierzu Angaben.
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Der Vortrag des Bevollmächtigten, dass der Antragsteller politisch aktiv gewesen sei, indem er sich in der Öffentlichkeit für eine Gesellschaft ohne Korruption in Vietnam eingesetzt habe (vgl. S. 9 der Klagebegründung vom 8. September 2022), stimmt nicht mit dem Vortrag des Antragstellers beim Bundesamt überein. Nach den eigenen Angaben des Antragstellers hat er gegen zu hohe Steuern demonstriert.
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Die vom Antragsteller geschilderten drei Vorfälle über einen längeren Zeitraum im Zusammenhang mit Demonstrationen stellen keine Vorverfolgung dar. Es ist schon nicht ersichtlich, welcher Verfolgungsgrund des § 3b AsylG hier einschlägig sein sollte. Darüber hinaus erreichen die pauschal vorgebrachten Handlungen der Polizei nicht die von § 3a AsylG geforderte Intensität einer Verfolgungshandlung. Zudem fehlt es auch aus Sicht des Gerichts am notwendigen (zeitlichen) Zusammenhang zwischen vorgetragener Verfolgung und Ausreise.
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Eine flüchtlingsrelevante Verfolgung lässt sich auch nicht aus der Befürchtung des Antragstellers schließen, im Falle einer Rückkehr aufgrund seiner Vorstrafe von der Polizei diskriminiert zu werden. Der diesbezügliche Vortrag ist schon viel zu pauschal, um von einer beachtlich wahrscheinlichen Verfolgungshandlung auszugehen. Darüber hinaus ist nicht ersichtlich, aufgrund welches Verfolgungsgrundes (vgl. §§ 3b, 3a Abs. 3 AsylG) der Antragsteller „diskriminiert“ werden sollte. Das Bundesamt führt in diesem Zusammenhang zurecht aus, dass keinerlei Interesse des Staates am Antragsteller - abgesehen von drei „anlassbezogenen“ Vorfällen im Zusammenhang mit Demonstrationen - zu erkennen ist.
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Überdies ist der Antragsteller auf internen Schutz nach § 3e AsylG zu verweisen.
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c) Ein Ausländer ist subsidiäre Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).
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Ein beachtlicher Schaden ist im Fall einer Rückkehr des Antragstellers nicht beachtlich wahrscheinlich. Die Ausführungen des Bevollmächtigen zum Hochverrat (vgl. S. 10 der Klagebegründung vom 8. September 2022), zur Teilnahme an öffentlichen Demonstrationen gegen ungerechtfertigte Enteignung von Grundstücken durch die vietnamesische Regierung (vgl. S. 10 der Klagebegründung vom 8. September 2022) und die Verhängung einer hohen Haftstrafe ohne Durchführung eines Verfahrens aufgrund Teilnahme an öffentlichen Demonstrationen (vgl. S. 11 der Klagebegründung vom 8. September 2022) betreffen erkennbar nicht das vorgetragenen Verfolgungsschicksal des Antragstellers.
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d) Die Ablehnung des Asylantrags (Anerkennung als Asylberechtigter, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Zuerkennung des subsidiären Schutzes) als offensichtlich unbegründet ist nicht zu beanstanden.
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Das Bundesamt begründet die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet mit § 30 Abs. 3 Nr. 4 AsylG. Demnach ist ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn der Antragsteller den Asylantrag gestellt hat, um eine drohende Aufenthaltsbeendigung abzuwenden, obwohl er zuvor ausreichend Gelegenheit hatte, einen Asylantrag zu stellen.
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Die Voraussetzungen des § 30 Abs. 3 Nr. 4 AsylG liegen vor. Der Antragsteller reiste nach eigenen Angaben bereits im April oder Mai 2017 erstmals in die Bundesrepublik Deutschland ein und hielt sich im Mai 2017 zeitweise auch in einer Flüchtlingsunterkunft auf, ohne einen Asylantrag zu stellen. Gerade während seiner Zeit in der Flüchtlingsunterkunft hätte es ich dem Antragsteller aufdrängen müssen, dass die Stellung eines Asylantrags bedeutsam für seinen weiteren Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland ist. Weiterhin hielt sich der Antragsteller von April oder Mai 2020 bis November 2021 in der Bundesrepublik Deutschland auf, ohne einen Asylantrag zu stellen. Vielmehr beschaffte er sich in dieser Zeit einen gefälschten spanischen Reisepass, um seinen Aufenthalt zu „legalisieren“. Die Asylantragstellung erfolgte auch zur Abwendung einer drohenden Aufenthaltsbeendigung. Dabei kann offen bleiben, ob hinsichtlich der drohenden Aufenthaltsbeendigung objektive Kriterien vorliegen müssen (Möglichkeit einer zwangsweisen Durchsetzung der Ausreisepflicht und die konkretisierte Absicht zuständigen Behörde, aufenthaltsbeendigende Maßnahmen in naher Zukunft zu ergreifen; enger zeitlicher Zusammenhang der Asylantragstellung mit der Durchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen) oder ob die subjektive Absicht des Ausländers ausreichend ist (der Ausländer geht im Zeitpunkt der Asylantragstellung davon aus, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen zeitlich so nah bevorstehen, dass sie jederzeit oder jedenfalls alsbald erfolgen können) (vgl. zum Streitstand VG Augsburg, B.v. 209.11.2019 - Au 4 S 19.31512 - juris Rn. 15). Im vorliegenden Fall erfolgte die Asylantragstellung am 28. Juli 2022 aus der Abschiebungshaft heraus. Zu diesem Zeitpunkt war der Antragsteller bereits über zwei Monate inhaftiert. Das Vorliegen objektiver Kriterien ist damit zu bejahen.
39
Das Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamts gestützt auf § 30 Abs. 3 Nr. 4 AsylG wurde auch vom Bevollmächtigten des Antragstellers nicht angegriffen. Vielmehr beschränkt sich dieser auf Ausführungen zu § 30 Abs. 1 AsylG und § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG und erachtet eine derartige Ablehnung aufgrund der zusammenhängenden, stringenten und ausführlichen Schilderung beim Bundesamt als rechtswidrig. Damit hat das Bundesamt seine Entscheidung jedoch nicht begründet.
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2. Abschiebungsverbote nach §§ 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Vietnams sind in Bezug auf den Antragsteller ebenfalls nicht ersichtlich.
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Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt im Zielstaat ergeben, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 25). Soweit ein für die Verhältnisse eindeutig maßgeblich verantwortlicher Akteur fehlt, können in ganz außergewöhnlichen Fällen auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse im Zielstaat Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung zwingend sind (vgl. BayVGH, U.v. 7.6.2021 - 13a B 21.30342 - juris Rn. 16 m.w.N.; BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45.18 - juris Rn. 12; B.v. 23.8.2018 - 1 B 42.18 - juris Rn. 9: „nur in besonderen Ausnahmefällen“; U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12 - NVwZ 2013, 1167 - juris Rn. 25 unter Bezugnahme auf EGMR, U.v. 28.6.2011 - Sufi u. Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 - NVwZ 2012, 681 Rn. 278 ff.). Der Gerichtshof der Europäischen Union stellt in seiner neueren Rechtsprechung zum inhaltlich Art. 3 EMRK entsprechenden Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) darauf ab, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, U.v. 19.3.2019 - Ibrahim, C-297/17 - juris Rn. 89 ff.; U.v. 19.3.2019 - Jawo, C-163/17 - juris Rn. 92 ff.; vgl. auch BVerwG, U.v. 18.2.2021 - 1 C 4.20 - juris Rn. 65.). In zeitlicher Hinsicht geht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR, U.v. 13.12.2016 - Paposhvili/Belgien, 41738/10- NVwZ 2017, 1187 Rn. 183) davon aus, dass ein schwerwiegender, irreversibler Zustand schnell eintreten müsse. Diese Rechtsprechung bezieht sich zwar auf eine Erkrankung, kann aber auf die hier maßgebliche Befriedigung der elementarsten Bedürfnisse bzw. den Zustand der Verelendung übertragen werden (BayVGH, U.v. 7.6.2021 - 13a B 21.30342 - juris Rn. 16 m.w.N.).
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Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Feststellung, dass beim Antragsteller ein entsprechendes Gefährdungsniveau nicht vorliegt, bestehen nicht. Es bestehen keinerlei Anhaltpunkte dafür, dass dem Antragsteller in Vietnam eine Existenzgrundlage gänzlich fehlen würde. Er ist jung, gesund und arbeitsfähig. Der Antragsteller arbeitete bereits in Vietnam als Straßenverkäufer und konnte so seinen eigenen Unterhalt sichern als auch seine Mutter finanziell unterstützen. In Frankreich arbeitete er bereits in einem Lager, in Österreich in einem Nagelstudio. Weiterhin hat der Antragsteller in Vietnam noch seine Mutter, zu der er Kontakt hat.
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Auch die individuellen Umstände des Antragstellers lassen keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit nach § 60 Abs. 7 AufenthG erkennen. Insbesondere ist der Antragsteller gesund.
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III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
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IV. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).