Titel:
Sozialgerichtsverfahren: Erfordernis der Ermessensausübung bei Verhängung eines Ordnungsgelds
Normenketten:
SGG § 202
ZPO § 141 Abs. 3
Leitsatz:
Aus dem Ordnungsgeldbeschluss gegen einen nicht erschienenen Beteiligten, dessen persönliches Erscheinen angeordnet war, muss erkennbar sein, dass bei der Verhängung des Ordnungsgeldes eine Ermessensentscheidung getroffen worden ist. (Rn. 20 – 21)
Schlagworte:
Sozialgerichtsverfahren, Verhängung eines Ordnungsgelds, Ermessensausübung, Ermessenskriterien für Ob und Wie, Bewusstsein des Gerichts, Erkennbarkeit der Ermessensausübung
Vorinstanz:
SG München, Beschluss vom 18.10.2022 – S 58 AS 2796/18
Fundstelle:
BeckRS 2022, 32771
Tenor
I. Auf die Beschwerde der Beschwerdeführerin wird der Ordnungsgeldbeschluss des Sozialgerichts München vom 18.10.2022 aufgehoben.
II. Die außergerichtlichen Kosten der Beschwerdeführerin für die Beschwerde trägt die Staatskasse.
Gründe
1
Die Beschwerdeführerin (im Folgenden: Bf.) wendet sich gegen den Ordnungsgeldbeschluss vom 18.10.2022, den das Sozialgericht München (SG) gegen sie wegen unentschuldigten Nichterscheinens zum Termin zur mündlichen Verhandlung am 18.10.2022 verhängt hat.
2
Die Bf. und ihre Tochter K sind Klägerinnen im Klageverfahren vor dem SG gegen das Jobcenter Al. unter dem Az. S 58 AS 2796/18. Die Bf. wird als Klägerin zu 1) und ihre Tochter wird als Klägerin zu 2) geführt. Außerdem ist die Bf. Bevollmächtigte ihrer Tochter im Klageverfahren.
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Das SG hat mit getrennten Ladungsschreiben vom 29.07.2022 beide Klägerinnen und die Zeugen S und M zur mündlichen Verhandlung am 18.10.2022 um 11:30 Uhr geladen. Mit den Ladungsschreiben hat das SG das persönliche Erscheinen der beiden Klägerinnen angeordnet. Die Ladung ist der Bf. laut Postzustellungsurkunde (PZU) am 02.08.2022 zugestellt worden.
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Mit Schreiben des SG vom 07.09.2022 ist der Bf. mitgeteilt worden:
A. u.a. ./. Jobcenter Al. wird das persönliche Erscheinen der Klägerin zu 2) zum Termin zur mündlichen Verhandlung am 18.10.2022 aufgehoben.“
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Ein gleichlautendes Schreiben hat die Tochter der Bf., die Klägerin zu 2), unter ihrer Adresse erhalten.
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Im Termin am 18.10.2022 ist keine der beiden Klägerinnen erschienen; auch der Zeuge S ist ausgeblieben. Die Kammer hat nach geheimer Beratung gegen die Bf. ein Ordnungsgeld in Höhe von 250,00 Euro festgesetzt. Tenor und Gründe lauten:
„Gegen die unentschuldigt ausgebliebene Klägerin zu 1) wird ein Ordnungsgeld in Höhe von 250,00 € festgesetzt.
Die ordnungsgemäß geladene Klägerin zu 1) ist trotz Anordnung des persönlichen Erscheinens unentschuldigt nicht erschienen. Gegen sie war gemäß § 202 SGG iVm § 141 Abs. 3 Satz 1 ZPO Ordnungsgeld zu verhängen. Die Höhe des verhängten Ordnungsgeldes bestimmt sich nach Art. 6 Abs. 1 EGStGB. Vorliegend erschien die festgesetzte Höhe angemessen.“
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Die den Beschluss enthaltende Niederschrift zur mündlichen Verhandlung ist der Bf. laut PZU am 21.10.2022 durch Einwurf in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten zugestellt worden.
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Am 25.10.2022 ist beim SG ein Schreiben der Bf. vom 23.10.2022 eingegangen, mit dem diese gegen den Beschluss vom 18.10.2022 „Widerspruch“ eingelegt hat. Die Bf. hat auf das Schreiben des Gerichts vom 07.09.2022 verwiesen und weiter ausgeführt, dass ein persönliches Erscheinen ohnehin für sie fast unmöglich bzw. enorm anstrengend wäre, da sie mittlerweile Pflegegrad 4 habe.
9
Das Schreiben ist an das Bayerische Landessozialgericht (LSG) weitergeleitet worden.
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Da sich die Bf. mit ihrem „Widerspruch“ gegen den Ordnungsgeldbeschluss des SG vom 18.10.2022 wendet, legt sie sinngemäß das Rechtsmittel der Beschwerde ein. Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde erweist sich im Ergebnis auch als begründet.
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Voraussetzung für die Festsetzung eines Ordnungsgeldes ist eine ordnungsgemäße Ladung und das unentschuldigte Ausbleiben des Beteiligten, dessen persönliches Erscheinen angeordnet war, §§ 111 Abs. 1, 106 Abs. 2 und 3 Nr. 7, 202 SGG in Verbindung mit (i.V.m.) §§ 141, 380, 381 Zivilprozessordnung (ZPO).
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Nach den §§ 111 Abs. 1, 106 Abs. 2 und 3 Nr. 7, 202 SGG i.V.m. § 141 ZPO kann das persönliche Erscheinen eines Beteiligten zu einem Termin zur mündlichen Verhandlung bzw. zur Erörterung des Sachverhalts angeordnet werden und gegen denjenigen, der der Anordnung nicht Folge leistet, Ordnungsgeld wie gegen einen im Vernehmungstermin nicht erschienenen Zeugen festgesetzt werden.
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Ob der Vorsitzende das persönliche Erscheinen eines Beteiligten nach den §§ 111 Abs. 1, 106 Abs. 2 und 3 Nr. 7 SGG anordnen will, steht in seinem pflichtgemäßen Ermessen. Nach § 141 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist die Anordnung des persönlichen Erscheinens eines Beteiligten jedenfalls dann ermessensfehlerfrei, wenn dies zur Aufklärung des Sachverhalts geboten erscheint. Im sozialgerichtlichen Verfahren ist insoweit der Ermessensspielraum aber noch weiter, wie der Wortlaut des § 106 Abs. 2 und 3 Nr. 7 SGG und insbesondere des § 111 Abs. 1 Satz 1 SGG zeigt, wonach die Gebotenheit zur Aufklärung des Sachverhalts nicht vorausgesetzt wird (vgl. LSG Hamburg, Beschluss vom 06.03.2006 - L 5 B 159/04 AL; Hessisches LSG, Beschluss vom 07.09.2010 - L 8 KR 231/09 B; Schmidt, in: Meyer-Ladewig / Keller / Leitherer / Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Auflage 2020, § 111 Rn. 2; Müller, in: Roos / Wahrendorf, Kommentar zum SGG, 1. Auflage 2014, zu § 111 Rn. 3). Im Gesetzgebungsverfahren zur Einführung einer Verwaltungsprozessordnung hat der Gesetzgeber von einer Angleichung der Regelung zur Anordnung des persönlichen Erscheinens im sozialgerichtlichen Verfahren an die Regelung des § 141 Abs. 1 Satz 1 ZPO Abstand genommen; die Bundesregierung war dem Vorschlag des Bundesrates gefolgt, der sich für einen Wegfall der Beschränkung auf den Aufklärungszweck eingesetzt hatte, um klarzustellen, dass die Anordnung des persönlichen Erscheinens eines Beteiligten auch im Interesse der gütlichen Beilegung des Rechtsstreits erfolgen könne (vgl. BT-Drucks. 9/1851, S. 51, S. 120, S. 196 und S. 206; hierzu auch Frehse, SGb 2010, S. 388, 389).
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Neben der Aufklärung des Sachverhalts kann Anordnung des persönlichen Erscheinens nach §§ 106 Abs. 2 und 3, 111 SGG auch zum Zweck einer Untersuchung im Termin, im Interesse einer effektiven Verhandlung oder im Interesse einer zweckmäßigen Erledigung (u.a. Vergleichsgespräche, Erläuterung der Erfolglosigkeit eines Rechtsmittels) erfolgen (vgl. Kühl, in: Jüttner / Fichte, Kommentar zum SGG, 3. Auflage 2020, zu § 111 SGG Rn. 2; Stäbler, in: Juris-Praxiskommentar zum SGG, 2. Auflage 2022, § 111 SGG Rn. 12); auch unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensförderung und der Förderung des Eintritts von Rechtsfrieden kann die Anordnung des persönlichen Erscheinens geboten sein, um eine argumentative Auseinandersetzung zu ermöglichen oder ein Rechtsgespräch mit den Beteiligten zur Erläuterung der Sach- und Rechtslage zu führen (vgl. hierzu Frehse, a.a.O., S. 391; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 02.09.2009 - L 11 KA 8/08 - Juris; Hessisches LSG, Beschluss vom 07.09.2010 - L 8 KR 231/09 B - Juris).
15
Ermessensfehler des Vorsitzenden bei Anordnung des persönlichen Erscheinens der Bf. sind nicht ersichtlich. Die Bf. ist mit Schreiben vom 29.07.2022 ordnungsgemäß zum Termin geladen worden unter Anordnung des persönlichen Erscheinens und unter Hinweis auf die Möglichkeit der Verhängung eines Ordnungsgeldes bei unentschuldigtem Nichterscheinen und die Bf. ist im Termin am 18.10.2022 nicht erschienen.
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Der Senat kann offenlassen, ob das Nichterscheinen der Bf. zum Termin schon deswegen unverschuldet bzw. ausreichend entschuldigt ist, weil ihr mit Schreiben des SG vom 07.09.2022 mitgeteilt worden war, dass die Anordnung des persönlichen Erscheinens „der Klägerin zu 2)“ zum Termin zur mündlichen Verhandlung am 18.10.2022 aufgehoben wird. Dafür spricht, dass aus dem vorangegangenem Schriftwechsel zwischen SG und Bf. einschließlich der Ladung nicht hervorging, wer vom SG als Klägerin zu 1) und wer als Klägerin zu 2) geführt wird, und dass die Bf. als Klägerin und einzige Adressatin eines derart formulierten Schreibens davon ausgehen durfte, dass sich die darin enthaltene gerichtliche Verfügung auch inhaltlich an sie (als Klägerin) richtet, zumal im Schreiben nicht zum Ausdruck gebracht wurde, dass sie das Schreiben nur zur Kenntnis erhalten sollte.
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Der Ordnungsgeldbeschluss vom 18.10.2022 ist jedenfalls mangels erkennbarer Ermessensentscheidung aufzuheben.
18
Das Gericht ist bei unentschuldigtem Nichterscheinen eines Beteiligten, dessen persönliches Erscheinen angeordnet war, - anders als bei Nichterscheinen eines ordnungsgemäß geladenen Zeugen - nicht verpflichtet, ein Ordnungsgeld zu verhängen. Vielmehr steht auch bei Erfüllung aller Tatbestandsvoraussetzungen die Entscheidung, ob überhaupt ein Ordnungsgeld verhängt wird, gemäß § 202 Satz 1 SGG i.V.m. § 141 Abs. 3 ZPO ebenso im Ermessen des Gerichts („kann“) wie die Festsetzung der Höhe des Ordnungsgeldes.
19
Einfließen können in diese Ermessensentscheidung u.a. die Bedeutung des Nichterscheinens des Beteiligten für den Verfahrensfortgang aus Sicht des Gerichts (z.B. Verzögerung des Rechtsstreits, Verhinderung der einvernehmlichen Streitbeilegung, Erschwernis der Sachverhaltsaufklärung, Entscheidungsreife) und darüber hinaus - soweit dazu Erkenntnisse vorliegen - das Maß der Pflichtwidrigkeit (z.B. Grad des Verschuldens; erstmaliges /wiederholtes Ausbleiben), die Art des Verstoßes, das Vorbringen (unzureichender) Entschuldigungsgründe sowie die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Beteiligten. Auswahl und Gewichtung der für die Verhängung von Ordnungsgeld maßgeblichen Gesichtspunkte (hinsichtlich „ob“ und „in welcher Höhe“) obliegen dem entscheidenden Gericht. Dabei können naturgemäß nur die dem Gericht zum Zeitpunkt der Entscheidung bekannten Umstände Berücksichtigung finden. In den Fällen, in denen das Gericht im Entscheidungszeitpunkt keinerlei Anhaltspunkte für die Gründe des Ausbleibens des Beteiligten und für seine finanziellen Verhältnisse hat, kann als maßgeblicher Gesichtspunkt für die Frage, ob und in welcher Höhe das Gericht ein Ordnungsgeld verhängt, häufig nur die aus Sicht des Gerichts zu beurteilende Bedeutung des Nichterscheinens des Beteiligten für den Verfahrensfortgang erwogen werden.
20
Grundvoraussetzung einer ordnungsgemäßen Ermessensentscheidung ist in jedem Fall das Bewusstsein des entscheidenden Gerichts, dass ihm Ermessen auch hinsichtlich der Frage zusteht, ob überhaupt Ordnungsgeld verhängt wird, was auch in dem Beschluss zum Ausdruck kommen muss.
21
Der streitgegenständliche Ordnungsgeldbeschluss der entscheidenden Kammer vom 18.10.2022 lässt aber nicht erkennen, dass die Kammer eine Ermessensentscheidung getroffen hat oder treffen wollte bzw. dass sich die Kammer im Bewusstsein, dass ihr Ermessen über die Verhängung von Ordnungsgeld zusteht, für die Verhängung von Ordnungsgeld entschieden hätte. Im Gegenteil spricht die Formulierung in den Gründen - „Die ordnungsgemäß geladene Klägerin zu 1) ist trotz Anordnung des persönlichen Erscheinens unentschuldigt nicht erschienen. Gegen sie war gemäß § 202 SGG iVm § 141 Abs. 3 Satz 1 ZPO Ordnungsgeld zu verhängen.“ - für die Annahme der entscheidenden Kammer, dass bei Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen ein Ordnungsgeld gegen einen Kläger zu verhängen ist, also zwingend verhängt werden muss. Demgegenüber hat die Kammer zutreffend und erkennbar hinsichtlich der Höhe des Ordnungsgeldes Ermessen ausgeübt, wie der Satz „Vorliegend erschien die festgesetzte Höhe angemessen“ zeigt.
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Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG. Kostenträger ist hier die Staatskasse.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).