Titel:
Fehlendes Rechtsschutzbedürfnis einer Klage gegen eine vorläufige Festsetzung des Solidaritätszuschlags
Normenketten:
GG Art. 106
FGO § 135 Abs. 1, § 155 S. 1
Leitsatz:
Ist der angefochtene Bescheid über den Solidaritätszuschlag zur Einkommensteuer 2020 gem. § 165 I 2 Nr. 3 AO vorläufig „hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des SolZG 1995“ ergangen und war bei Erlass des Bescheides das SolZG in der durch das Gesetz zur Rückführung des Solidaritätszuschlags vom 10.12.2019 geänderten Fassung, BGBl 2019 I S. 2115 (im Folgenden: SolZG n.F.) bereits in Kraft getreten sowie das Schreiben BMF, Schreiben v. 4.1.2021, V A 3 - S 0338/19/10006 :001, BStBl 2021 I S. 49, bereits veröffentlicht, so erstreckt sich die Vorläufigkeit materiell-rechtlich bereits auf die Verfassungsmäßigkeit des SolZG n.F. nach dem Auslaufen des Solidarpakts II und verfahrensrechtlich auf alle einschlägigen offenen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, Az beim BVerfG 2 BvL 6/14, Az beim BVerfG 2 BvR 1421/19, Az beim BVerfG 2 BvR 1505/20, sowie die Revisionsverfahren, Az beim BFH IX R 15/20 bzw. Az beim BFH IX R 9/22. Dem Steuerpflichtigen fehlt daher das Rechtsschutzbedürfnis für eine Klage zur Klärung der Frage, ob das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 vom 15.10.2002, BGBI 2002 I S. 4130, in der durch das Gesetz zur Rückführung des Solidaritätszuschlags vom 10.12.2019 geänderten Fassung, BGBl 2019 I S. 2115 ab dem Jahr 2020, verfassungsgemäß ist (Abgrenzung zu FG Baden-Württemberg, Urteil v. 16.5.2022, 0 K 1693/21, EFG 2022 S.1397). (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Fehlendes Rechtsschutzbedürfnis einer Klage gegen eine gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufige Festsetzung des Solidaritätszuschlags, Anfechtungsklage
Rechtsmittelinstanz:
BFH München, Urteil vom 26.09.2023 – IX R 16/22
Fundstellen:
StEd 2022, 789
EFG 2023, 151
LSK 2022, 32554
BeckRS 2022, 32554
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Entscheidungsgründe
1
Streitig ist, ob die Klägerin ein Rechtsschutzbedürfnis für ihre Klage gegen die Festsetzung des Solidaritätszuschlags (SolZ) 2020 hat und ob das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 vom 15. Oktober 2002 (Bundesgesetzblatt -BGBII 2002, 4130; im Folgenden SolZG a.F.) in der durch das Gesetz zur Rückführung des SolZ vom 10. Dezember 2019 geänderten Fassung (BGBl I 2019, 2115; im Folgenden SolZG n.F.) ab dem Jahr 2020 verfassungsgemäß ist.
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Die Klägerin wurde im Streitjahr einzeln zur Einkommensteuer veranlagt.
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Der Beklagte (Finanzamt -FA-) setzte mit Bescheid vom 6. September 2021 neben der erklärungsgemäß festgesetzten Einkommensteuer 2020 auch einen SolZ zur Einkommensteuer 2020 i.H.v. 1.232, 45 € fest. Der Bescheid erging gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufig hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des SolZG 1995.
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Den nur gegen den SolZ-Bescheid 2020 erhobenen Einspruch begründete die Klägerin damit, dass die Erhebung des SolZ an sich ab dem Jahr 2020 verfassungswidrig sei. Dies ergebe sich aus dem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 21. Juli 2011 II R 50/09, wonach das SolzG a.F. als zeitlich befristete Ergänzungsabgabe mit dem Auslaufen des Solidaritätspakts II, also mit Ablauf des Jahres 2019, seine Legitimation verliere. Das SolZG n.F. sei auch insoweit verfassungswidrig, als höhere Einkommen ab 2021 weiter mit dem SolZ belastet würden. Die durch das SolZG n.F. beschränkte Erhebung des SolZ von Steuerbürgern mit höherem Einkommen sei willkürlich bzw. eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung. Das SolZG n.F. verstoße gegen Art. 106 Grundgesetz (GG) sowie die Art. 2, Art. 3 und Art. 14 GG und sei deshalb insgesamt verfassungswidrig. Der SolZ-Bescheid 2020 sei daher aufzuheben und der SolZ ab 2021 auf 0 € festzusetzen.
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Nach entsprechendem Hinweis verwarf das FA den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 18. Januar 2022 als unzulässig. Dem Einspruch fehle mit Blick auf den o.g. Vorläufigkeitsvermerk das Rechtsschutzbedürfnis, da im Schreiben des Bundesfinanzministeriums (BMF) vom 4. Januar 2021, BStBl I 2021, 49, klargestellt sei, dass der Vorläufigkeitsvermerk ab dem Jahr 2020 auch die Frage umfasse, ob die fortgeltende Erhebung des SolZ nach dem Auslaufen des Solidarpakts II zum 31. Dezember 2019 verfassungsgemäß sei.
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Ihre hiergegen erhobene Klage begründete die Klägerin damit, dass der Vorläufigkeitsvermerk im SolZ-Bescheid 2020 in diesem Wortlaut seit dem Jahr 2013 existiere und auf ein zuletzt beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anhängiges Verfahren Az. 2 BvL 6/14 betreffend den SolZ 2007 zurückzuführen sei. Der Vorläufigkeitsvermerk habe sich daher nicht auf die Frage der Verfassungsmäßigkeit nach dem Auslaufen des Solidarpakts II erstreckt. Das FA könne sich auch nicht auf das BMF-Schreiben in BStBl I 2021, 49 berufen, da dies nicht in den angefochtenen SolZ-Bescheid 2020 eingeflossen sei und allenfalls die weisungsgebundenen Finanzbehörden binde. Im Streitfall lägen zudem -substantiiert vorgetragenebesondere Gründe materiell-rechtlicher und verfahrensrechtlicher Art vor, die die Durchführung eines Rechtsbehelfsverfahrens gerechtfertigt hätten. Das Rechtsschutzbedürfnis für die Klage sei ebenfalls gegeben, da der Rechtsweg weder verwehrt noch verkürzt werden dürfe (Art. 19 Abs. 4 GG). Das gelte umso mehr, als das SolZG a.F. und das SolZG n.F. mit Blick auf zukünftige Veranlagungszeiträume als verfassungswidrig anzusehen seien. Der Klage stünden weder das beim BVerfG anhängige Verfahren 2 BvR 1505/20 noch das beim BFH anhängige Verfahren IX R 15/20 entgegen, da anderen Klägern dadurch nicht der Zugang zu den Fachgerichten verwehrt werden dürfe, zumal das BVerfG noch nicht einmal über den Normenkontrollantrag in 2 BvL 6/14 entschieden habe. Dass im Streitfall bestehende Rechtsschutzbedürfnis ergebe sich auch aus dem Urteil des FG Baden-Württemberg vom 16. Mai 2022 10 K 1693/21, EFG 2022, 1397. Dort sei auch darauf hingewiesen worden, dass das BVerfG bisher keine Grenze für das Vorliegen einer verfassungswidrigen Aushöhlung der nach Art. 106 Abs. 3 Satz 2 GG vorgesehenen Verteilung der Steuer festgelegt habe.
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Materiell-rechtlich stütze sich die Klägerin auf die bereits in dem Einspruchsverfahren geltend gemachte Begründung. Die Gründe für die materiell-rechtliche Entscheidung des FG Baden-Württemberg, das die Verfassungsmäßigkeit des SolZG auch ab 2020 bejaht habe, seien unzutreffend. Insbesondere ändere ein weiterer finanzieller Mehrbedarf des Bundes und der Länder wegen des Ukrainekriegs und der Corona-Pandemie nichts daran, dass sich mit Auslaufen des Solidarpakts II die Verhältnisse grundlegend im Sinne des BFH-Urteils vom 21. Juli 2011 II R 50/09, BFH/NV 2011 1685 geändert hätten. Eine Umwidmung des SolZG, das seine Grundlage bereits im Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms FKPG im Jahr 1993 gehabt habe, könne ab dem Jahr 2020, also nach 27 Jahren, nicht ohne Gesetzgebungsakt allein aufgrund tagespolitischer Ereignisse erfolgen. Die Gesetzgebungskompetenz liege allein beim Bundesgesetzgeber, weshalb Gründe für die Umwidmung und damit einen gerechtfertigten Fortbestand des SolZG auch nicht durch die Fachgerichte ersetzt werden könnten.
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Die Klägerin beantragt,
den Bescheid über die Festsetzung des Solidaritätszuschlags 2020 vom 6. September 2021 und die Einspruchsentscheidung vom 18. Januar 2022 aufzuheben, und hilfsweise,
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Das FA habe den Einspruch der Klägerin aufgrund einer Weisung der vorgesetzten Finanzbehörde unter Bezugnahme auf das BMF-Schreiben in BStBl I 2021, 49, an das das FA gebunden sei, als unzulässig verworfen. Im Übrigen werde auf die Einspruchsentscheidung verwiesen.
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Die Klägerin beantragte zuletzt das Ruhen des Verfahrens. Das FA stellte ausdrücklich keinen Antrag auf Ruhen des Verfahrens, erklärte aber sein Einverständnis für den Fall, dass das Gericht zu dem Ergebnis komme, das Verfahren ruhen zu lassen.
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Die Klage ist mangels eines Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig.
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1. Einer Klage fehlt in der Regel das Rechtsschutzbedürfnis, wenn der angefochtene Steuerbescheid in einem verfassungsrechtlichen Streitpunkt vorläufig (§ 165 AO) ergangen ist, die verfassungsrechtliche Streitfrage sich in einer Vielzahl im Wesentlichen gleichgelagerter Verfahren stellt und bereits ein nicht von vornherein aussichtsloses Musterverfahren beim BVerfG anhängig ist (z.B. BFH-Beschlüsse vom 30. November 2007 III B 26/07, BFH/NV 2008, 374; vom 22. März 1996 III B 173/95, BFHE 180, 217, BStBl II 1996, 506, m.w.N.). Dann kann der Steuerpflichtige im Allgemeinen die Klärung der Streitfrage in dem Musterverfahren abwarten, ohne dadurch unzumutbare Rechtsnachteile zu erleiden.
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1.1. Die Grenzen des infolge eines Vorläufigkeitsvermerks fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses richten sich nach Umfang und Grund der nach § 165 Abs. 1 Satz 3 AO anzugebenden Vorläufigkeit. Eine -wie im Streitfallnach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO angeordnete Vorläufigkeit erstreckt sich, wenn es nicht ausdrücklich anders formuliert ist, auch auf später anhängig werdende einschlägige Verfahren zur Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht (vgl. BFH in BStBl. II 2011, 11 Rz. 42; BFH-Urteil vom 23. Januar 2013 - X R 32/08, BStBl. II 2013, 423 Rz. 61; Seer, a.a.O., § 165, Rz. 17: einschränkend nur dann, wenn der Vorläufigkeitsvermerk in dem jeweiligen Steuerbescheid entsprechend weit gefasst ist). Eine Vorläufigkeitserklärung bzw. ein Vorläufigkeitsvermerk kann auch noch im Einspruchsverfahren hinzugefügt werden (BFH-Urteil vom10. November 1993 X B 83/93, BStBl II 1994, 119).
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Vorliegend ist der angefochtene Bescheid über den SolZG zur Einkommensteuer 2020 vom 6. September 2021 gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufig „hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des SolZG 1995“ ergangen. Zu diesem Zeitpunkt war das SolZG n.F. bereits in Kraft getreten und das BMF-Schreiben in BStBl I 2021, 49 bereits veröffentlicht. Die Vorläufigkeit hat sich demnach materiell-rechtlich bereits auf die Verfassungsmäßigkeit des SolZG n.F. nach dem Auslaufen des Solidarpakts II und verfahrensrechtlich auf alle einschlägigen offenen Verfahren vor dem BVerfG (2 BvL 6/14; 2 BvR 1421/19; 2 BvR 1505/20) und Revisionsverfahren beim BFH (IX R 15/20) erstreckt. Nach den oben genannten Rechtsgrundsätzen hat sie sich auch auf das später anhängige Revisionsverfahren IX R 9/22) erstreckt. Das Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin ist damit grundsätzlich entfallen.
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1.2. Ausnahmen von dem regelmäßig fehlenden Rechtsschutzinteresse sind aber möglich, wenn besondere Gründe materiell-rechtlicher oder verfahrensrechtlicher Art substantiiert geltend gemacht werden, die es rechtfertigen, trotz Anhängigkeit des Musterverfahrens Rechtsschutz gegen den im Streitpunkt für vorläufig erklärten Bescheid zu gewähren (BFH in BFH/NV 2008, 374; Gräber/von Groll, FGO vor § 33 a Rz. 4a). Ein Rechtsschutzbedürfnis kann beispielsweise dann vorliegen, wenn der Steuerpflichtige aus berechtigtem Interesse ein weiteres Verfahren einleiten will, weil er bisher in den Musterverfahren nicht geltend gemachte Gründe substantiiert vorträgt und diese an das BVerfG oder den EuGH herantragen möchte (BFH-Urteil vom 30. September 2010 III R 39/08, BStBl II 2011, 11). Dem Steuerpflichtigen darf dann nicht die Möglichkeit abgeschnitten werden, die verfassungsrechtlichen Bedenken in seinem eigenen Verfahren zu verfolgen (Seer in Tipke/Kruse, AO und FGO, § 165 AO, Rz. 18).
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a) Demnach ist der Klägerin zwar insoweit Recht zu geben, als das Rechtsschutzbedürfnis für ihre Klage nicht bereits wegen der beim BVerfG anhängigen Musterverfahren 2 BvL 6/14 und 2 BvR 1421/19 entfällt. Denn diese Verfahren betreffen die Veranlagungszeiträume 2007 und 2011 und damit nur die Verfassungsmäßigkeit des SolZG a.F. und nur vor dem Auslaufen des Solidarpakts II, während die Klägerin mit ihrer Klage die Verfassungswidrigkeit des ab 2020 geltenden SolZG n.F. geltend macht. Sie trägt hierzu auch ausreichend substantiiert Gründe besonderer materiell-rechtlicher Art vor, nämlich einerseits das Auslaufen des Solidarpakts II und damit das Ende der mit dem SolZG a.F. intendierten zeitlichen Befristung der Erhebung des SolZ, und andererseits die ihrer Auffassung nach insb. dem Gleichheitsgebot (Art. 3 Abs. 1 GG) widersprechenden Neuregelungen im SolZG n.F..
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Weiter hat sie dargelegt, dass sich erst mit dem SolZG n.F. gezeigt habe, dass die bisherige BVerfG-Rechtsprechung die Grenzen für das Vorliegen einer verfassungswidrigen Aushöhlung der nach Art. 106 Abs. 3 Satz 2 GG vorgesehenen Steuerverteilung noch nicht ausreichend konkretisiert habe. Ferner ist, weil die Klägerin die Revisionszulassung beantragt und bereits einmal ein Revisionsverfahren zum SolZG durchgeführt hat, davon auszugehen, dass sie, falls erforderlich, in Bezug auf die genannten Gründe auch dieses Mal den Rechtsweg ausschöpfen wird, um ihre Klagebegründung ggfs. an das BVerfG herantragen zu können (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 30. September 2010 III R 39/08, BStBl II 2011, 11).
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b) Dem Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin stehen auch nicht die beim BFH einschlägigen anhängigen Revisionsverfahren entgegen, da nach den o.g. Rechtsgrundsätzen nur die beim BVerfG anhängige Musterverfahren das Rechtsschutzbedürfnis entfallen lassen.
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c) Das Gericht kommt jedoch zu der Auffassung, dass das Rechtsschutzbedürfnis wegen des beim BVerfG anhängigen Musterverfahrens 2 BvR 1505/20 entfallen ist. Im Unterschied zu der vom FG Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 16. Mai 2022 10 K 1693/21, EFG 2022, 1397 vertretenen Rechtsmeinung schätzt das Gericht das Musterverfahren nicht von vornherein als aussichtslos ein.
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aa) Zwar ist in dem Musterverfahren nicht, wie das nach Art. 94 Abs. 2 Satz 2GG, § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG grundsätzlich erforderlich ist, vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde der Rechtsweg ausgeschöpft worden. Den Beschwerdeführern stand entsprechender fachgerichtlicher Rechtsschutz offen und es kam in Bezug zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit insb. die konkrete Normenkotrolle (Art. 100 Abs. 1 GG) über den fachgerichtlichen Rechtsweg in Betracht (vgl. auch FG Baden-Württemberg in EFG 2022, 1397).
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bb) Jedoch erscheint das Musterverfahren als sog. Rechtssatzverfassungsbeschwerde i.S. d. Art. 94 Abs. 2 Satz 2 GG, § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG nicht von vornherein als aussichtslos.
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Das BVerfG hat die Pflicht zur Rechtswegerschöpfung ausnahmsweise verneint, wenn sie dem Beschwerdeführer im Hinblick auf einen in zeitlicher und tatsächlicher Hinsicht effektiven Rechtsschutz nicht zumutbar ist. Das kann dann der Fall sein, wenn die Rechtswegbeschreitung offensichtlich sinn- und aussichtslos wäre, weil das angegriffene Gesetz keinen Auslegungs-, Ermessens- oder Beurteilungsspielraum offenlässt, der es den Fachgerichten erlauben würde, die geltend gemachte Grundrechtsverletzung kraft eigener Entscheidungskompetenz zu vermeiden. Weitere ist Voraussetzung dann, dass von einer vorausgegangenen fachgerichtlichen Prüfung auch keine verbesserten Entscheidungsgrundlagen für das BVerfG zu erwarten wären (vgl. BVerfG-Beschluss vom 5. Mai 2021 1 BvR 781/21, NJW 2021, 1808; BVerfG-Beschluss vom 12. Mai 2009 2 BvR 890/06, BVerfGE 123, 148-185). Das wiederum kann nur der Fall sein, wenn die Beurteilung einer Norm allein spezifisch verfassungsrechtliche Fragen aufwirft und die Klärung dieser Fragen weder umfangreiche vorherige Sachverhaltsfeststellungen noch eine vorausgehende Klärung einfachrechtlicher Fragen erfordert (vgl. BVerfG-Beschluss vom 5. Mai 2021 1 BvR 781/21, NJW 2021, 1808; BVerfG-Beschluss vom 12. Mai 2009 2 BvR 890/06, BVerfGE 123, 148-185; BVerfG-Beschluss vom 30. Januar 2008 BvR 829/06, Juris).
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In diesem Sinne haben offenbar die Beschwerdeführer des Musterverfahrens argumentiert, die die Verfassungsbeschwerde auch ohne Ausschöpfung des Rechtswegs für zulässig erachten, weil sich keine aufklärungsbedürftigen tatsächlichen Fragen stellten (vgl. FG Baden-Württemberg in EFG 2022, 1397, Rz. 36). Nach Auffassung des Gerichts ist aufgrund der klaren Neuregelungen des SolZG n.F. auch keine vorausgehende Klärung einfachrechtlicher Fragen erforderlich und offengeblieben.
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Das Gericht kommt außerdem zu der Einschätzung, dass das Musterverfahren 2 BvR 1505/20 schon aufgrund der Anzahl einschlägig betroffener Fälle (im Jahr 2020 noch alle einkommensteuerpflichtigen Einkommen) und des Widerhalls, den die Frage der Verfassungsmäßigkeit des SolZG n.F. unter Rechtsexperten und in der Öffentlichkeit gefunden hat, allgemeine Bedeutung i.S.d. § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG aufweist. Wegen der zeitlich nicht absehbaren Auswirkungen des SolZ für höhere Einkommen, der aber als Ergänzungsabgabe grundsätzlich begriffsnotwendig nicht auf Dauer erhoben werden darf, sowie wegen der deswegen anhaltenden Rechtsdiskussion über die Verfassungsmäßigkeit des SolZG n.F. gilt dies auch unter der Prämisse, dass die Beurteilung der „allgemeinen Bedeutung“ stets nur ein Moment der Abwägung für und wider die sofortige Sachentscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist (vgl. BVerfG-Beschluss vom 30. Januar 2008 BvR 829/06, Juris). Eine allgemeine Bedeutung könnte der Verfassungsbeschwerde 2 BvR 1505/20 auch mit Blick auf die lang- bzw. mehrjährig anhängigen Verfahren 2 BvL 6/14 und 2 BvR 1421/19 zukommen, weil dies zeigt, dass sich die Fragestellungen zur Verfassungsmäßigkeit des SolZG als nicht dauerhafte Ergänzungsabgabe nicht erledigen oder an Bedeutung verlieren, sondern seit dem Auslaufen des Solidarpakts II im Gegenteil vermehren und deshalb Entscheidungen des BVerfG in absehbarer Zeit erfordern bzw. erwarten lassen.
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Der Klägerin ist das Abwarten des Ausgangs des Musterverfahrens mit Blick auf den Zweck und Schutzwirkung des Vorläufigkeitsvermerks auch zumutbar. Denn für den Fall, dass das BVerfG die Verfassungsbeschwerde 2 BvR 1505/20 mangels Rechtswegausschöpfung für unzulässig hält, ist im Sinne des Gebots eines effektiven Rechtsschutzes von einer zeitnahen Entscheidung der BVerfG auszugehen. Für den Fall, dass das BVerfG die Muster-Verfassungsbeschwerde für ausnahmsweise zulässig erachtet, ist wegen der bereits dargestellten „allgemeinen Bedeutung“ und der bereits langjährig anhängigen anderen Musterverfahren ebenfalls mit einer Entscheidung in zumindest absehbarer Zeit zu rechnen. In diesem Falle erscheint ein Abwarten einer Entscheidung des BVerfG über das Musterverfahren 2 BvR 1505/20 auch deshalb zumutbar, weil diese dann die materiell-rechtlichen Fragestellungen umfasst, die, soweit ersichtlich, wegen der der breiten Öffentlichkeit zugänglichen Rechtsdiskussion bisher in allen Rechtsbehelfen identisch sind, jedenfalls aber die drei Punkte der Klagebegründung der Klägerin mitumfasst (Entfallen des Zwecks des SolZ mit Auslaufen des Solidarpakts II, Aushöhlung der Verteilung des Steueraufkommens nach Art. 106 Abs. 3 Satz 2 GG, gleichheitswidrige Belastung höherer Einkommen).
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2. Die Klage lässt sich auch nicht mit Erfolg in eine isolierte Anfechtungsklage gegen die Einspruchsentscheidung zur Klärung des streitigen Rechtsschutzbedürfnisses umdeuten. Denn dies stünde nicht nur in Widerspruch zum klaren Wortlaut der Klage, sondern führte nur zu dem Ergebnis, dass die Klage aus den oben dargestellten Erwägungen zum Rechtsschutzbedürfnis, die gleichermaßen für das Einspruchsverfahren gelten, als unbegründet zurückzuweisen wäre.
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3. Der Antrag der Klägerin auf Ruhen des Verfahrens wird abgelehnt.
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Gemäß § 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 251 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) hat das Gericht das Ruhen des Verfahrens anzuordnen, wenn beide Parteien dies beantragen und anzunehmen ist, dass wegen Schwebens von Vergleichsverhandlungen oder aus sonstigen wichtigen Gründen diese Anordnung zweckmäßig ist.
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Im Streitfall liegen schon keine übereinstimmenden Anträge vor. Das FA hat ausdrücklich keinen Antrag gestellt, sondern sich lediglich bereit erklärt, dem Ruhen zuzustimmen, wenn das Gericht das Ruhen des Verfahrens aus wichtigen Gründen für zweckmäßig erachtet. Letztere Erklärung ist aber nicht nur wegen der Bedingungsfeindlichkeit von Prozesshandlungen unwirksam, sie würde auch die gesetzlich vorgesehene zeitliche Reihenfolge der Tatbestandsvoraussetzungen des § 251 ZPO umkehren.
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Eine Verfahrensruhe erscheint zudem selbst unter Berücksichtigung des Urteils des FG Baden-Württemberg in EFG 2022, 1397 und des dazu beim BFH anhängigen Revisionsverfahrens IX R 9/22 nicht zweckmäßig. Der im angefochtenen Einkommensteuerbescheid enthaltene Vorläufigkeitsvermerk, der sich auch auf diese Verfahren erstreckt, bietet nämlich materiell-rechtlich einen ausreichenden und der Verfahrensruhe gleichwertigen Rechtsschutz.
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Wegen des Vortrags der Klägerin, dass sie mit Blick auf die Verfahrensdauer bereits anhängiger Verfassungsbeschwerden eine zügige fachgerichtliche Rechtswegbeschreitung anstrebt, erscheint eine schnelle Entscheidung über die Frage der Zulässigkeit ihrer Klage und die diesbezügliche Revisionszulassung zweckmäßiger.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
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5. Die Revision wird wegen der von dem Urteil des FG Baden-Württemberg in EFG 2022, 1397 in Bezug auf das Rechtsschutzbedürfnis abweichenden Rechtsauffassung zur Sicherung der einheitlichen Rechtsprechung zugelassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO).
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6. Das Gericht entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 FGO). Es erscheint wegen des unstreitigen Sachverhalts sachgerecht, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden (§ 90 a FGO).