Inhalt

VG Augsburg, Urteil v. 22.06.2022 – Au 6 K 20.31313, Au 6 K 22.31332
Titel:

Verpflichtung zur Anerkennung als politisch Verfolgter (Myanmar)

Normenketten:
GG Art. 16a Abs. 1
AsylG § 3, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Leitsatz:
Treffen durch myanmarische Sicherheitsbehörden feststellbare politische Aktivitäten vor der Ausreise mit einer exilpolitischen Betätigung nach dem Putsch im Februar 2021 zusammen, ist davon auszugehen, dass das myanmarische Regime dem Betroffenen eine regimekritische Ansicht unterstellt; bei der Rückkehrerbefragung besteht die akute Gefahr von Folter, Verurteilung in einem nicht rechtsstaatlichen Verfahren und anschließender langjähriger Inhaftierung. (Rn. 48) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Myanmarische Staatsangehörige buddhistischer Glaubenszugehörigkeit, Klage auf Asyl, Flüchtlingsanerkennung und subsidiären Schutz sowie Abschiebungsverbote, Anerkennung nur des Ehemanns als Asylberechtigter, Vermittlung von zwei Personen an gegen das myanmarische Militär kämpfende Rebellengruppe vor dem Militärputsch, Ausreise mit Touristenvisum nach Deutschland auf dem Luftweg, Teilnahme an einer militärkritischen Kundgebung in Deutschland und Veröffentlichung von regimekritischen Beiträgen auf Facebook unter Klarnamen, Myanmar, Arakan Army, Rakhine-Rebellen, National League for Democracy (NLD), exilpolitische Betätigung, Haftbedingungen
Fundstelle:
BeckRS 2022, 32349

Tenor

I. Im Verfahren Au 6 K 20.31313 wird der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 15. September 2020 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen. Im Übrigen wird die Klage im Verfahren Au 6 K 20.31332 abgewiesen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens Au 6 K 20.31313 zu tragen. Die Kosten des Verfahrens Au 6 K 20.31332 haben die Kläger dieses Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Der Kläger im Verfahren Au 6 K 20.31313 (im Folgenden: Kläger zu 1) und die Klägerinnen im Verfahren Au 6 K 20.31332 (im Folgenden: Klägerinnen zu 2 und 3) bilden eine Familie myanmarischer Staatsangehörigkeit und buddhistischen Glaubens. Sie begehren mit ihrer Klage unter Aufhebung von Bescheiden der Beklagten die Anerkennung als Asylberechtigte, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, des subsidiären Schutzes und die Feststellung, dass Abschiebungsverbote vorliegen.
2
Die Kläger zu 1 bis 3 reisten am 14. Oktober 2019 aufgrund eines vom 12. Oktober 2019 bis zum 26. November 2019 gültigen Schengenvisums (vgl. Behördenakte im Verfahren Au 6 K 20.31313 Bl. 32) aus Myanmar auf dem Luftweg nach Deutschland aus und stellten am 3. Februar 2020 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen förmlichen Asylantrag.
3
Mit Schreiben vom 21. November 2019 beantragte der Klägerbevollmächtigte beim Bundesamt die Anerkennung der Kläger zu 1 bis 3 als Asylberechtigte und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise des subsidiären Schutzstatus, hilfsweise der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Kläger zu 1 bis 3 seien aufgrund politischer Verfolgung aus Myanmar geflüchtet, zudem bestehe für sie die Gefahr von Folter und unmenschlicher bzw. erniedrigender Behandlung oder Strafe im Sinne des Art. 3 EMRK (vgl. Behördenakte im Verfahren Au 6 K 20.31313 Bl. 20 f.).
4
Ausweislich des Antrages auf Erteilung eines Schengenvisums wurde als Hauptzweck der Reise ein Besuch bzw. Tourismus angegeben; als einladende Person wurde eine deutsche Staatsangehörige, die laut am 5. Juli 2019 abgegebener Verpflichtungserklärung (vgl. Behördenakte im Verfahren Au 6 K 20.31313 Bl. 159) die Nichte des Klägers zu 1 sei, angegeben. Ferner wurde angegeben, dass der Kläger zu 1 die Kosten der Reise selbst trägt; laut eines Kontoauszugs der KBZ-Bank (vgl. Behördenakte im Verfahren Au 6 K 20.31313 Bl. 179 f.) hinterlegte er 25 Millionen myanmarische Kyat am 13. August 2019.
5
Im Rahmen seiner am 7. September 2019 vor dem Bundesamt geführten Anhörung (vgl. Behördenakte im Verfahren Au 6 K 20.31313 Bl. 205 ff.) gab der Kläger zu 1 im Wesentlichen an, er gehöre der Volksgruppe der Myanmaren an. Seit 2011 bis zum Tag seiner Ausreise habe er in R.-Stadt in einem nach seiner Hochzeit selbst erworbenen Haus gelebt. Ab und zu sei er in Myanmar gereist; vom 8. Oktober 2019 bis 9. Oktober 2019 sei er nicht zu Hause gewesen.
Nachdem er am 28. September 2007 in der B. Straße in R. bei den Shwewaryaung-Demonstrationen politischer Aktivisten verhaftet worden sei, sei er zunächst in Gebäude in GIT und RIT in R. und anschließend in das Gefängnis ... gebracht worden, ehe er dort verurteilt und nach K.-Stadt in der Chin-Region verlegt worden sei. Am 5. Januar 2012 sei er nach einer Sondergenehmigung wieder freigelassen worden; Dokumente über die Verurteilung oder den Gefängnisaufenthalt habe er nicht, es könne aber sein, dass er auf Fotos des Geheimmilitärs von Demonstrationen zu sehen sei. Im Jahr 2007 sei er bei politischen Aktivitäten dabei gewesen; dies sei auch bereits 1988 der Fall gewesen.
Am 14. Oktober 2019 habe er Myanmar auf dem Luftweg nach Deutschland verlassen. Die Reise habe für ihn, seine Frau (Klägerin zu 2) und die gemeinsame Tochter (Klägerin zu 3) insgesamt 15.000 Euro gekostet. Am 12. September 2019 hätten sie in R. den Visumantrag gestellt und einen Schleuser beauftragt, der Dokumente organisiert habe, da sie nicht gewusst hätten, wie man ein Visum beantragt. Den Entschluss, Asyl zu beantragen, habe er erst in Deutschland, zwei Wochen nach seiner Einreise, gefasst.
In Myanmar würden ein Bruder und eine Schwester, Cousins und Cousinen sowie die ca. 80 Jahre alte Mutter des Klägers zu 1 leben. In R. habe der Kläger zu 1 Geographie studiert, ehe er bei verschiedenen Firmen im Im- und Exportbereich gearbeitet habe und zuletzt 18 Jahre lang bei einer Firma tätig gewesen sei. Sein Verdienst sei durchschnittlich gewesen; zudem habe er auch Reisfelder gehabt. Wehrdienst habe er nicht geleistet. Der Kläger zu 1 sowie die Klägerinnen zu 2 und 3 seien zusammen mit zwei Cousinen, den Klägerinnen in den Parallelverfahren Au 6 K 20.31370 und Au 6 K 20.31372, sowie deren Neffen, dem Kläger im Parallelverfahren Au 6 K 20.31360, nach Deutschland ausgereist.
Ihr Problem hätte wegen des Klägers im Parallelverfahren Au 6 K 20.31360 angefangen, der ausweislich seines Personalausweises Sunnit sei, sich aber als Buddhist bezeichne und der buddhistische Verwandte in der Rakhine-Region habe, wo es Konflikte zwischen den AA-Rebellen (Arakan Army, AA) und dem Militär gebe. Das Militär habe diese Verwandten aus der Rakhine-Region unter Verdacht gehabt und diesen Fragen gestellt; bei einer Befragung sei der Schwiegervater der Cousine des Klägers im Parallelverfahren Au 6 K 20.31360 aufgrund von Schlägen verstorben. Anschließend hätten die Verwandten den Kläger im Parallelverfahren Au 6 K 20.31360 gebeten, sie aus der Region abzuholen, weshalb dieser und dessen Mutter in das Gebiet gefahren seien und neun Leute am 16. September 2019 von dort geholt und nach R. gebracht hätten. Wie er dies geschafft habe, wisse er nicht; allerdings sei zu dieser Zeit das Gebiet nicht abgeriegelt gewesen, da der Konflikt zwischen Militär und AA-Rebellen woanders ausgetragen worden sei. Fünf dieser Personen hätten in R. bei der Mutter des Klägers im Parallelverfahren Au 6 K 20.31360 gelebt, die vier weiteren bei den Klägerinnen in den Parallelverfahren Au 6 K 20.31370 und Au 6 K 20.31372.
Bereits am 24. Juni 2019 habe die Nichte der beiden Klägerinnen in den Parallelverfahren Au 6 K 20.31370 und Au 6 K 20.31372 und deren Schwester, die in Deutschland leben würden, die Kläger besucht. Während ihres Besuchs hätten sie alle schon geplant, nach Deutschland zu kommen und die Nichte zu besuchen. Erst nach ihrer Rückkehr nach Deutschland hätten sie erfahren, dass die Cousine des Klägers im Parallelverfahren Au 6 K 20.31360, deren Schwiegervater getötet worden sei, und deren Mann den AA-Rebellen beitreten hätten wollen; weitere Verwandte der beiden in R. seien umgebracht worden, das Militär sei häufig zu ihnen gekommen und sie hätten Schießereien mitbekommen, weshalb ihre Situation sehr schlimm gewesen sei.
Die Klägerinnen im Parallelverfahren Au 6 K 20.31370 und Au 6 K 20.31372 hätten dem Kläger zu 1 von deren Problemen berichtet; der Besuch aus R. könne nicht lange bei ihnen bleiben, da man dies beim Gemeinderat anmelden müsse, was gefährlich sei. Wegen der politischen Aktivitäten des Klägers zu 1 habe er Kontakt zu einer Person, mit der er zusammen mit einigen Journalisten am 28. September 2007 bei Demonstrationen verhaftet und gemeinsam im Gefängnis gewesen sei. Diese Person sei auch Aktivist und nach seinem Gefängnisaufenthalt Mitglied der AA-Rebellen gewesen. Der Kläger zu 1 habe daher diese Person kontaktiert, die Cousine des Klägers im Parallelverfahren Au 6 K 20.31360 und deren Mann am 8. Oktober 2019 abgeholt und sie selbst nach M. gebracht, um sie ihm dort vorzustellen und den Kontakt aufzubauen. Der Bekannte aus dem Gefängnis habe dann gesagt, er würde die beiden nehmen, Kontakt mit der AA-Armee herstellen und sie könnten dann AA-Mitglieder werden. Der Kläger zu 1 habe um die Gefährlichkeit gewusst, habe aber helfen wollen. Alleine habe er sie nicht losfahren lassen können, da es fremde Leute gewesen seien; zudem sei viel zwischen R. und M. kontrolliert worden und er politischer Aktivist gewesen, der Leuten in Schwierigkeiten habe helfen wollen. Auf der Fahrt sei er zweimal kontrolliert worden, habe nur seinen Personalausweis gezeigt und die beiden Mitfahrer als seine Geschwister ausgegeben; die Kontrolleure habe er bestochen. Am 9. Oktober 2019 sei er dann zurück nach R. gefahren, die Cousine des Klägers im Parallelverfahren Au 6 K 20.31360 und deren Mann seien in M. bei dem Bekannten des Klägers zu 1 geblieben; diesem habe er auch gesagt, dass es in R. noch drei weitere junge Männer aus R.gebe, er den Kontakt aber nun selbst herstellen könne, da der Kläger zu 1 bereits geplant habe, nach Deutschland zu können.
Anschließend hätten sie sich um die Ausreise gekümmert. In Europa hätten sie bei dem Vater der Nichte der Klägerinnen im Parallelverfahren Au 6 K 20.31370 und Au 6 K 20.31372 übernachtet, die Niederlande, Belgien und Köln besucht. Nach nicht ganz zwei Wochen habe der Kläger zu 1 am 25. Oktober 2019 einen Anruf aus Myanmar unter der Telefonnummer des Bekannten aus dem Gefängnis erhalten, allerdings habe der Anrufer einen anderen Akzent gehabt und gefragt, wo sie seien und dass nach ihnen gesucht würde. Der Anruf sei per Viper aus Myanmar gekommen. Daraufhin habe er bemerkt, dass etwas nicht in Ordnung sei; er habe Angst gehabt, aufgrund seiner politischen Aktivität und der Hilfe für die Leute aus R.verdächtigt zu sein und habe das Gespräch beendet sowie die SIM-Karte des Telefons entfernt. Die SIM-Karte habe er wegen der Gefahr und dem zu diesem Zeitpunkt noch bestehenden Entschluss, nach Myanmar zurückzukehren, entsorgt; an die Telefonnummer erinnere er sich nicht mehr. Er habe dann mit seinem Bruder in R. gesprochen und ihn gebeten, sein Haus zu beobachten. Dieser habe sich dann gemeldet und mitgeteilt, dass Leute vom Gemeinderat, die Polizei und das Geheimmilitär sie suchen würden. Zudem habe es bei den anderen Verwandten, bei denen die Personen aus R. übernachtet hätten, Probleme gegeben: Die ältere Schwester der Klägerinnen in den Parallelverfahren Au 6 K 20.31370 und Au 6 K 20.31372, die Mutter des Klägers im Parallelverfahren Au 6 K 20.31360 und sieben der Personen aus R. seien verhaftet worden. Ferner hätten sie die Nachricht erhalten, dass die Schwester des Führers der AA-Rebellen an einem Flughafen verhaftet worden sei. Aufgrund der Verhaftungen hätten sie nicht mehr zurückkehren können und entschieden, Asyl zu beantragen. Den Entschluss, in Deutschland zu bleiben, hätten sie am 29. Oktober 2019 gefasst; die Flugtickets seien bis zum 29. Oktober 2019 gültig gewesen.
Nachdem sein Bruder von den Nachbarn des Klägers zu 1 erfahren habe, dass nach ihm gesucht werde, sei der Bruder nicht mehr bei dessen Haus gewesen. Eine Woche nach dieser Mitteilung habe der Bruder ihm gesagt, dass immer noch nach ihnen gesucht würde; auch der Bruder selbst sei gefragt worden, wo sie seien. Der Kläger zu 1 habe nicht versucht herauszufinden, ob und warum gegen ihn ermittelt würde, da er selbst politischer Aktivist gewesen sei, die Verwandten festgenommen worden seien und er den Leuten aus R. geholfen habe. Von den festgenommenen Verwandten habe er nichts mehr gehört. Ferner habe er während seiner Zeit im Gefängnis versprochen und unterschrieben, sich nicht mehr politisch zu betätigen.
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Mit Bescheid vom 15. September 2020 lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers zu 1 auf Asylanerkennung, auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf subsidiären Schutz ab (Ziffer 1 bis 3), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen (Ziffer 4), drohte die Abschiebung nach Myanmar an (Ziffer 5) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6).
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter lägen nicht vor. Der Sachvortrag des Klägers zu 1 genüge nicht den Kriterien einer glaubhaften Darstellung eines Verfolgungsschicksals. Die Angaben zu den fluchtauslösenden Ereignissen blieben arm an Details, vage und oberflächlich. Dies betreffe speziell die entscheidungserheblichen Stellen des Sachvortrages; während der Kläger zu 1 an einigen Stellen frei und ohne Aufforderung Details nenne, verbleibe er an anderen Stellen vage und gebe ausweichende Antworten. Bei der eigenen Motivationslage, den Verwandten zu helfen, verbleibe der Kläger zu 1 bei vagen Antworten. Eine Darstellung eigener Gedankengänge oder Emotionen, die im Hinblick auf das Wohl seiner Familie sicherlich hätten erfolgen müssen, blieben aus. Ferner weise der Sachvortrag Steigerungen auf, die Zweifel an der Glaubhaftigkeit aufkommen ließen: Zunächst habe er ausgeführt, seinen Bruder gebeten zu haben, sein Haus zu beobachten. Erst auf Nachfrage, ob dann noch etwas geschehen sei, gab er an, nach einer Woche erneut mit seinem Bruder gesprochen und erfahren zu haben, dass weiter nach ihm gesucht würde. Auf Nachfrage, ob der Bruder von Behörden aufgesucht worden sei, habe der Kläger zu 1 erneut gesteigert und dies bejaht. Selbiges gelte auch hinsichtlich der Reise nach M.; auf Nachfrage, ob er nicht mit Taxi oder Bus habe fahren können, habe er zunächst erklärt, es habe Kontrollen gegeben. Auf weitere Nachfrage habe er vorgetragen, selbst in zwei Kontrollen geraten zu sein und schließlich habe er erst auf eine nochmalige Nachfrage angegeben, Kontrollpersonen bestochen zu haben. Die Ausreisemodalitäten ließen den Schluss darauf zu, dass der Kläger zu 1 die dauerhafte Ausreise und Asylantragstellung bereits im Heimatland geplant habe: Die Zahlung von 15.000 Euro für einen zweiwöchigen Urlaub in Deutschland sei vor dem Hintergrund des durchschnittlichen Verdienstes unglaubhaft.
Die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes lägen nicht vor; der Kläger zu 1 habe derartige Gefahren weder substantiiert geltend gemacht, noch seien diese ersichtlich.
Abschiebungsverbote seien ebenfalls nicht gegeben. Auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände des Klägers zu 1 sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung nicht beachtlich: Er verfüge über einen überdurchschnittlichen Bildungsabschluss, sei 18 Jahre in einem Unternehmen tätig gewesen und habe einen zweiwöchigen Urlaub für 15.000 Euro finanzieren können.
Die Befristung des Einreiseund Aufenthaltsverbotes sei angemessen; weitere schutzwürdige Belange seien weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
7
Hiergegen ließ der Kläger zu 1 durch seinen Bevollmächtigten am 22. September 2020 Klage erheben und beantragen,
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Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 15. September 2020, zugestellt am 21. September 2020, Az.:, wird aufgehoben.
Die Bundesrepublik Deutschland wird verpflichtet, die Kläger als Asylberechtigte gem. Art. 16a GG anzuerkennen.
Die Bundesrepublik Deutschland wird verpflichtet, festzustellen, dass die Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG vorliegt.
Hilfsweise wird beantragt, die Bundesrepublik Deutschland zu verpflichten, festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes gem. § 4 AsylG vorliegen.
Höchst hilfsweise wird beantragt, die Bundesrepublik Deutschland zu verpflichten, festzustellen, dass die Voraussetzungen für nationale Abschiebungsverbote nach §§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG vorliegen.
9
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dem Kläger zu 1 drohe bei einer Rückkehr nach Myanmar eine Verfolgung gemäß § 3 AsylG durch das myanmarische Militär, da er Personen aus dem R.-Staat geholfen habe, sich der Rakhine-Rebellengruppe Arakan Army anzuschließen. Ferner drohe dem Kläger zu 1 eine Verfolgung bei einer Rückkehr nach Myanmar, da er sich in Deutschland exilpolitisch betätigt habe, indem er an Demonstration gegen den Militärputsch in Myanmar teilgenommen habe und deshalb der Gruppe der Regimegegner zugerechnet werde. Der Kläger zu 1 habe im Rahmen seiner Anhörung glaubhaft geschildert, wie er zwei Personen aus dem R.-Staat an die Arakan Army vermittelt habe. Der Konflikt des myanmarischen Militärs mit der Arakan Army im R.-Staat sei vor dem Putsch des myanmarischen Militärs am 1. Februar 2021 der Konflikt gewesen, der die Innen- und Sicherheitspolitik Myanmars beherrscht habe. Es bestehe ein Generalverdacht, dass alle Menschen, die die Arakan Army unterstützten, Terroristen seien.
Am 10. Februar 2021 habe der Kläger zu 1 in München vor dem chinesischen Konsulat an einer Demonstration gegen den Militärputsch in Myanmar teilgenommen. Bei der Demonstration seien Plakate gegen das Militär und für Aung San Suu Kyi gezeigt und Parolen gegen den Militärputsch in Myanmar gerufen worden. Der Kläger zu 1 habe ein Plakat gezeigt, auf welchem er die Rückgängigmachung des Militärputsches in Myanmar gefordert habe. Am 8. August 2021 habe er an einer Kundgebung gegen das myanmarische Militär auf dem M.platz in München teilgenommen. Die Militärjunta habe am 14. Februar 2021 Sektion 121 und Sektion 124 des myanmarischen Strafgesetzbuches geändert; in Sektion 124 A sei nun geregelt, dass derjenige, der durch seine gesprochenen oder geschriebenen Wörter das Militär verunglimpfe oder zu Unzufriedenheit gegenüber dem Militär führe, mit bis zu 20 Jahren Haftstrafe bestraft werden könne. Zudem würden Personen, die den Militärputsch kritisieren, aufgrund des § 505b des myanmarischen Strafgesetzbuches festgenommen und angeklagt. Es erscheine abwegig, dass das myanmarische Militär mehr als 1.300 Personen erschieße und mehr als 10.000 verhaftete, weil sie sich auf Demonstrationen gegen das Militär geäußert hätten, jedoch einen Rückkehrer, der im Ausland an Demonstrationen teilnehme, bei einer Rückkehr nach Myanmar unbehelligt lasse. Verhaftete Personen würden in Myanmar seit dem Putsch keine fairen Verfahren erwarten können; es drohe Folter und eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bei Ermittlungshandlungen. Es sei davon auszugehen, dass das myanmarische Militär die Burmesen im Ausland nach dem Putsch beobachte, um mögliche Feinde des Militärs zu identifizieren. Die Verfolgung sei bei dem Kläger zu 1 besonders wahrscheinlich, da er in der Vergangenheit schon einmal wegen seiner Beteiligung an pro-demokratischen Demonstrationen in Myanmar festgenommen und inhaftiert worden sei.
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Mit Schriftsatz vom 13. Juni 2022 führte der Klägerbevollmächtigte ergänzend aus, der Kläger zu 1 sei seit dem Jahr 2007 Mitglied der demokratischen myanmarischen Partei NLD (National League for Democracy) und besitze einen Parteiausweis. Der Kläger zu 1 habe zudem militärkritische „Postings“ bei Facebook unter seinem Klarnamen veröffentlicht. Jegliche Kritik am myanmarischen Militär werde in Myanmar bestraft.
11
Die Beklagte beantragt Klageabweisung.
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Die Beklagte halte an der ablehnenden Entscheidung fest. Der Sachvortrag des Klägers zu 1 sei äußerst schwach und konstruiert. Die Beklagte gehe nach wie vor davon aus, dass der Kläger zu 1 Myanmar nicht vorverfolgt verlassen habe und dass die Militärjunta kein Verfolgungsinteresse an ihm habe. Es sei festzustellen, dass Bemühungen, um eventuelle Beweismittel aus Myanmar vorzulegen, die das Verfolgungsschicksal des Klägers zu 1 hätten glaubhaft machen können, nicht unternommen worden seien. Es sei äußerst merkwürdig, dass eine nach eigenen Angaben dem Militärregime seit 2007 als Oppositioneller bekannte Person, die Tage zuvor die Arakan Army tatkräftig unterstützt haben wolle, sich dann aber einer Einladung von in Deutschland ansässigen Verwandten folgend dafür entschieden habe, nach Deutschland zu kommen, um Urlaub zu machen und die Familie zu besuchen. Entweder sei der Kläger zu 1 davon ausgegangen, dass die Militärjunta doch kein Interesse an ihm habe oder sein Verfolgungsschicksal sei konstruiert. Die Beklagte gehe davon aus, dass sich der Kläger zu 1 jetzt für ein Oppositionellen ausgebe, um seine schon seit der Ausreise aus Myanmar vorhandene Absicht, sich in Deutschland niederzulassen, zu sichern. Es lägen keine Anhaltspunkte für eine öffentlich wirksame Verbreitung der vorgelegten Bilder von der Demonstration vor.
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Im Rahmen der Anhörung vor dem Bundesamt am 7. September 2019 gab die Klägerin zu 2 im Wesentlichen an (vgl. Behördenakte im Verfahren Au 6 K 20.31332 Bl. 132 ff.), sie vermisse Myanmar. Sie gehöre zur Volksgruppe der Myanmaren. Seit ihrer Hochzeit bis zu ihrer Ausreise am 14. Oktober 2019 auf dem Luftweg nach Deutschland habe sie in R.-Stadt unter der gleichen Adresse gelebt. In Myanmar würde ihre Mutter sowie zwei Schwestern leben. Die Schule habe sie bis zur Mittelschule vom 5. bis zum 14. Lebensjahr besucht. Beruflich habe sie Kosmetik verkauft; Wehrdienst habe sie nicht geleistet.
Zusammen seien sie zur Beantragung eines Visums gegangen; sie hätten Hilfe bei der Beantragung von einer Person erhalten, da sie nicht verstanden hätten, wie man ein Visum beantragt. Dieser Person hätten sie jeweils 5.000 Euro gezahlt. Ihr Mann, der Kläger zu 1, habe das ganze Leben lang gearbeitet und sie hätten Geld gespart; auch in Myanmar sei Reisen ihr Hobby gewesen. Bereits als die Nichte ihres Mannes zu Besuch gekommen sei, hätten sie geplant, nach Deutschland zu kommen. Zum Zeitpunkt der Visumbeantragung habe sie nicht bereits gewusst, in Deutschland einen Asylantrag zu stellen; ihrer Mutter habe sie versprochen, dass sie nach Myanmar zurückkehren würden.
Nach Deutschland seien sie gereist, um Urlaub zu machen. Nach knapp zwei Wochen, am 25. Oktober 2019, habe der Kläger zu 1 einen Anruf von seinem Freund bekommen. Nach dem Gespräch sei er aufgestanden, rausgegangen und nach einer halben Stunde zurückgekehrt. Er habe nicht gut ausgesehen, gesagt, es sei ein wichtiges Telefongespräch gewesen und die Klägerinnen im Parallelverfahren Au 6 K 20.31370 und Au 6 K 20.31372 mitgenommen. Sie selbst sei auch hinterhergegangen. Der Kläger zu 1 habe erklärt, dass der Anrufer nicht sein Freund gewesen sei, sondern eine andere Person ohne den gleichen Akzent; sie könnten daher nicht zurück nach Hause. Die Klägerin zu 2 habe geweint und gesagt, sie fliege dann alleine zurück, da sie es ihrer Mutter versprochen habe, die anderen hätten sie aber zurückgehalten. Der Kläger zu 1 habe auch gesagt, dass die Situation beobachtet werden und gesehen werden müsse, wann sie die Chance hätten, nach Myanmar zurückzukehren. Es sei dann zu einem großen Streit zwischen ihr, ihrem Mann und den Cousinen gekommen und sie hätten mehrere Tage nicht miteinander gesprochen. Sie habe ihrem Mann vorgeworfen, dass dies nur wegen ihm passiert sei, da er Leuten geholfen habe. Danach habe sie erfahren, dass der Kläger zu 1 seinen Bruder angerufen habe; er habe ihr erklärt, dass sie im Moment nicht nach Hause könnten. Die Kläger in den Parallelverfahren Au 6 K 20.31360, Au 6 K 20.31370 und Au 6 K 20.31372 hätten versucht, deren Familie anzurufen, aber hätten von ihnen nichts gehört. Später habe sie erfahren, dass der Kläger zu 1 die Cousins des Klägers im Parallelverfahren Au 6 K 20.31360 nach M. gefahren habe. Sie habe ihn daher gefragt, warum er dies getan habe, da er bereits wegen seiner politischen Aktivitäten in der Vergangenheit Probleme gehabt habe. Nach dem Anruf hätten sie die Entscheidung getroffen, zu bleiben. Wann der Kläger zu 1 seinen Entschluss gefasst habe, nicht nach Myanmar zurückzukehren, wisse sie nicht. Die Klägerin zu 2 sei dagegen gewesen und habe ihre Schwester anrufen wollen, was die anderen verhindert hätten. Da sie sehr traurig gewesen sei, hätten die anderen Reisen mit dem Auto nach Holland und Belgien arrangiert, die sie drei Tage nach dem Anruf durchgeführt hätten; dies sei nach der geplanten Rückreise gewesen. Danach seien sie nach Deutschland zurückgekehrt; die Klägerin zu 2 habe ihre Schwester angerufen und von den Problemen ihres Mannes berichtet, da diese nicht gewusst habe, dass er Leuten aus R. geholfen habe.
Nach der Arbeit am 25. September 2019 seien die Klägerinnen in den Parallelverfahren Au 6 K 20.31370 und Au 6 K 20.31372 zu ihnen nach Hause gekommen und hätten den Kläger zu 1 gefragt, ob er ihnen helfen könne, es seien viele Leute aus R. bei ihnen zu Hause. Irgendwann im Oktober 2019 habe der Kläger zu 1 die Personen nach M. gefahren. Es sei nur eine Nacht gewesen und als er zurückgekehrt sei, habe er gesagt, er habe mit seinem Bekannten aus dem Gefängnis gesprochen, die Personen dort gelassen und ihn gebeten, die restlichen Personen zu kontaktieren. Der Kläger zu 1 sei Familienvater und passe immer auf die Verwandtschaft auf; er sei auch politischer Aktivist gewesen und habe auch vielen Leuten im Gefängnis geholfen. Am 28. September 2007 sei er bei einer Demonstration gegen die Regierungspartei verhaftet und ins Gefängnis gebracht worden.
Die Klägerin zu 2 habe Angst, bei einer Rückkehr nach Myanmar verschleppt zu werden und zu verschwinden; die Klägerin zu 3 habe die gleichen Gründe. Der Kläger zu 1 habe ihr erklärt, sie würden gleich am Flughafen verhaftet, gefoltert und verschleppt werden.
Bevor der Kläger zu 1 mit den Leuten nach M. gefahren sei, habe er ihr erklärt, dass diese seine Verwandten wären und er ihnen helfen habe wollen, da sie Probleme hätten; in ihrem Dorf hätte es eine Katastrophe gegeben. Sie habe erfahren, dass der Kläger im Parallelverfahren Au 6 K 20.31360 und dessen Mutter ein Auto gemietet und diese Leute abgeholt und nach R. gebracht hätten. Es seien neun Leute gewesen, von denen fünf bei der Mutter des Klägers im Parallelverfahren Au 6 K 20.31360 gewohnt hätten; das Ehepaar, das der Kläger zu 1 nach M. gebracht habe, habe bei der älteren Schwester der Klägerinnen in den Parallelverfahren Au 6 K 20.31370 und Au 6 K 20.31372 gewohnt.
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Mit Bescheid vom 17. September 2020 lehnte das Bundesamt den Antrag der Klägerinnen zu 2 und 3 auf Asylanerkennung, auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf subsidiären Schutz ab (Ziffer 1 bis 3), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen (Ziffer 4), drohte die Abschiebung nach Myanmar an (Ziffer 5) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6).
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigte lägen nicht vor. Die Klägerin zu 2 sei nicht in der Lage, den fluchtbegründenden Sachverhalt umfassend und nachvollziehbar zu schildern. Die Glaubhaftigkeit des Sachvortrages könne auf Grund der Unsubstantiiertheit bzw. der nur eingeschränkten Kenntnislage nur durch Verweis auf die Anhörung des Klägers zu 1 bewertet werden; dieser sei aber als unglaubhaft bewertet worden. Ferner unterscheide sich der Sachvortrag der Klägerin zu 2 von dem des Klägers zu 1, da sie vorgetragen habe, die Entscheidung, in Deutschland zu bleiben, sei direkt nach dem Telefonat getroffen worden, das der Kläger zu 1 mit der unbekannten Person geführt habe; nach Angaben des Klägers zu 1 sei die Entscheidung erst einen Tag vor der Rückreise gefallen. Laut Klägerin zu 2 hätten sie sich in dieser Zeit allerdings im Urlaub in den Niederlanden und Belgien befunden. Ferner spreche die Zahlung der 15.000 Euro dafür, dass sie eine dauerhafte Niederlassung in Deutschland geplant hätten. Die Voraussetzungen subsidiären Schutzes und Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes sei angemessen; weitere schutzwürdige Belange seien weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
15
Hiergegen ließen die Klägerinnen zu 2 und 3 durch ihren Bevollmächtigten am 25. September 2020 Klage erheben und beantragen,
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Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. September 2020, zugestellt am 24. September 2020, Az.:, wird aufgehoben.
Die Bundesrepublik Deutschland wird verpflichtet, die Kläger als Asylberechtigte gem. Art. 16a GG anzuerkennen.
Die Bundesrepublik Deutschland wird verpflichtet, festzustellen, dass die Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG vorliegt.
Hilfsweise wird beantragt, die Bundesrepublik Deutschland zu verpflichten, festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes gem. § 4 AsylG vorliegen.
Höchst hilfsweise wird beantragt, die Bundesrepublik Deutschland zu verpflichten, festzustellen, dass die Voraussetzungen für nationale Abschiebungsverbote nach §§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG vorliegen.
17
Zur Begründung verwies der Klägerbevollmächtigte auf die Klagebegründung im Verfahren des Klägers zu 1. Die Klägerinnen zu 2 und 3 hätten ebenfalls an Demonstrationen in München gegen den Putsch des Militärs in Myanmar teilgenommen. Es handele sich dabei um die Teilnahme an der Demonstration am 10. Februar 2021 in München vor dem chinesischen Konsulat und am 8. August 2021 auf dem M.platz in München.
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Die Beklagte stellte keinen Antrag.
19
Mit der Ladung übersandte das Gericht jeweils die aktuelle Erkenntnismittelliste.
20
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die von der Beklagten vorgelegten Behördenakten sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen. Die Verfahren Au 6 K 20.31313 und Au 6 K 20.31332 wurden im Rahmen der mündlichen Verhandlung zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.

Entscheidungsgründe

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Die Klagen sind hinsichtlich des Klägers zu 1 begründet, im Hinblick auf Klägerinnen zu 2 und 3 sind sie unbegründet.
22
I. Der Kläger zu 1 hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG. Der dies ablehnende Bescheid vom 15. September 2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger zu 1 in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
23
1. Der Kläger zu 1 hat einen Anspruch auf Asylanerkennung nach Art. 16a Abs. 1 GG.
24
a) Nach Art. 16a Abs. 1 GG genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Politisch verfolgt ist, wer wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung eine durch Tatsachen begründete Furcht vor Verfolgung hegen muss, die mit Gefahr für Leib, Leben, persönliche Freiheit oder einem die Menschenwürde verletzenden Eingriff in sonstige Rechtsgüter verbunden ist. Dabei gelten für die Beurteilung, ob ein Asylsuchender politisch Verfolgter i.S. des Art. 16a Abs. 1 GG ist, unterschiedliche Maßstäbe je nachdem, ob er seinen Heimatstaat auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat oder ob er unverfolgt in die Bundesrepublik Deutschland gekommen ist (BVerfG, B.v. 10.7.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 ff.). Dem Vorverfolgten ist die Rückkehr in den Verfolgerstaat grundsätzlich nur dann zuzumuten, wenn an seiner Sicherheit vor abermals einsetzender Verfolgung bei Rückkehr in den Heimatstaat keine ernsthaften Zweifel bestehen (BVerwG, U.v. 25.9.1984 - 9 C 1784 - BVerwGE 70, 169 ff. m.w.N.; BVerwG, U.v. 20.11.1990 - 9 C 72/90 - BVerwGE 87, 141/143). Hat der Asylsuchende sein Heimatland unverfolgt verlassen, kann ihm Asyl nur gewährt werden, wenn bei Würdigung aller Umstände eine politische Verfolgung aufgrund von Nachfluchtgründen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Droht diese Gefahr nur in einem Teil seines Heimatstaates, so kann der Betroffene auf Gebiete verwiesen werden, in denen er vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist, es sei denn, es drohen dort andere nach den oben dargelegten Grundsätzen unzumutbare Nachteile und Gefahren (BVerfG, B.v. 10.7.1989 a.a.O.).
25
Verfolgung im Sinne von Art. 16a Abs. 1 GG ist grundsätzlich staatliche Verfolgung und sie ist politisch, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an seine politische Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen. Allgemein liegt dem Asylgrundrecht die von der Achtung der Unverletzlichkeit der Menschenwürde bestimmte Überzeugung zugrunde, dass kein Staat das Recht hat, Leib, Leben oder die persönliche Freiheit des Einzelnen aus Gründen zu gefährden oder zu verletzen, die allein in seiner politischen Überzeugung, seiner religiösen Grundentscheidung oder in für ihn unverfügbaren Merkmalen liegen, die sein Anderssein prägen (asylerhebliche Merkmale); von dieser Rechtsüberzeugung ist das grundgesetzliche Asylrecht maßgeblich bestimmt. Eine notwendige Voraussetzung dafür, dass eine Verfolgung sich als eine politische darstellt, liegt darin, dass sie im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen um die Gestaltung und Eigenart der allgemeinen Ordnung des Zusammenlebens von Menschen und Menschengruppen steht, also - im Unterschied etwa zu einer privaten Verfolgung - einen öffentlichen Bezug hat, und von einem Träger überlegener, in der Regel hoheitlicher Macht ausgeht, der der Verletzte unterworfen ist, sowie wegen des asylerheblichen Merkmals erfolgt (vgl. BVerfG, U.v. 10.7.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 ff., juris Rn. 38 f., 44). Auch eine staatliche Verfolgung von Taten, die aus sich heraus eine Umsetzung politischer Überzeugung darstellen, kann grundsätzlich politische Verfolgung sein, und zwar auch dann, wenn der Staat hierdurch das Rechtsgut des eigenen Bestandes oder seiner politischen Identität verteidigt. Es bedarf einer besonderen Begründung, um sie gleichwohl aus dem Bereich politischer Verfolgung herausfallen zu lassen (vgl. grundlegend BVerfG, U.v. 10.7.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 ff., juris Rn. 52 f.). Voraussetzung für eine vom Staat ausgehende oder ihm zurechenbare Verfolgung ist die effektive Gebietsgewalt des Staates im Sinne wirksamer hoheitlicher Überlegenheit. Verfolgungsmaßnahmen Dritter sind dem Staat daher zuzurechnen, wenn er schutzfähig, aber er nicht bereit oder nicht in der Lage ist, mit den ihm verfügbaren Mitteln Schutz zu gewähren (vgl. BVerfG, U.v. 10.7.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 ff., juris Rn. 46). Ist politische Verfolgung hiernach grundsätzlich staatliche Verfolgung, so steht dem nicht entgegen, dass die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung dem Staat solche staatsähnlichen Organisationen gleichstellt, die den jeweiligen Staat verdrängt haben oder denen dieser das Feld überlassen hat und die ihn daher insoweit ersetzen (vgl. BVerfG, U.v. 10.7.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 ff., juris Rn. 40 a.E.).
Daher fehlt es an der Möglichkeit politischer Verfolgung, solange der Staat bei offenem Bürgerkrieg im umkämpften Gebiet faktisch nur mehr die Rolle einer militärisch kämpfenden Bürgerkriegspartei einnimmt, als übergreifende effektive Ordnungsmacht aber nicht mehr besteht. Gleiches gilt in bestimmten Krisensituationen eines Guerilla-Bürgerkriegs. In allen diesen Fällen ist politische Verfolgung allerdings gegeben, wenn die staatlichen Kräfte den Kampf in einer Weise führen, die auf die physische Vernichtung von auf der Gegenseite stehenden oder ihr zugerechneten und nach asylerheblichen Merkmalen bestimmten Personen gerichtet ist, obwohl diese keinen Widerstand mehr leisten wollen oder können oder an dem militärischen Geschehen nicht oder nicht mehr beteiligt sind, vollends wenn ihre Handlungen in die gezielte physische Vernichtung oder Zerstörung der ethnischen, kulturellen oder religiösen Identität eines nach asylerheblichen Merkmalen bestimmten Bevölkerungsteils umschlagen (vgl. grundlegend BVerfG, U.v. 10.7.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 ff., juris Rn. 56 ff.).
26
Wer von nur regionaler politischer Verfolgung betroffen ist, ist erst dann politisch Verfolgter im Sinne von Art. 16a Abs. 2 Satz 2 GG, wenn er dadurch landesweit in eine ausweglose Lage versetzt wird. Das ist der Fall, wenn er in anderen Teilen seines Heimatstaates eine zumutbare Zuflucht nicht finden kann (inländische Fluchtalternative). Eine inländische Fluchtalternative setzt voraus, dass der Asylsuchende in den in Betracht kommenden Gebieten vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm jedenfalls dort auch keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen, sofern diese existentielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde (vgl. grundlegend BVerfG, U.v. 10.7.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 ff., juris Rn. 61 f., 66).
27
Dabei ist es stets Sache des Ausländers, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
28
b) Dem Kläger zu 1 droht in Myanmar aufgrund seiner vorgetragenen - wenn auch nur niedrigschwelligen - exilpolitischen Aktivität in Verbindung mit der bereits in Myanmar jedenfalls seit dem Jahr 2007 ausgeübten politischen Betätigung im konkreten Fall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unverhältnismäßige Strafverfolgung oder Bestrafung wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung und somit politische Verfolgung.
29
aa) Der Kläger zu 1 hat einen in sich stimmigen Sachverhalt geschildert, aus dem sich ergibt, dass er jedenfalls im Jahr 2007 aufgrund seiner Teilnahme an den Demonstrationen und seiner anschließenden Festnahme im Visier myanmarischer Behörden stand.
30
(1) Das Gericht erachtet es für glaubhaft, dass der Kläger zu 1 sich bereits in Myanmar politisch für die National League for Democracy (NLD) engagiert hat, bereits im Jahr 2007 an Demonstrationen teilgenommen und anschließend inhaftiert wurde sowie in Verbindung zu einer Kontaktperson der AA-Rebellen stand und zwei Personen von R. nach M. gefahren hat, um einen Kontakt zu vorgenannter Person zu vermitteln. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung gelang es dem Kläger zu 1 insbesondere, die Angabe vor dem Bundesamt, er habe seit 2011 in seinem nach seiner Hochzeit erworbenen Haus gewohnt, obwohl er nach eigenen Angaben erst 2012 aus der Haft entlassen worden sei, aufzulösen. So stellte er klar, dass seine Eltern das Haus 2011 gekauft hätten und er nach seiner Haftentlassung dort hingegangen sei (vgl. Protokoll S. 4). Ferner war der Kläger zu 1 in der Lage, anschaulich und schlüssig darzustellen, wie er die Kontaktperson bei den AA-Rebellen kennengelernt und sich der Kontakt bis zu seiner Ausreise im Oktober 2019 gestaltet hat (vgl. Protokoll S. 6 ff.). Gegen eine Verfolgung spricht auch nicht, dass der Kläger zu 1 unbehelligt und legal mittels Visum im Oktober 2019 auf dem Luftweg nach Deutschland ausgereist ist. Es scheint nicht unplausibel, dass die Kontaktperson des Klägers zu 1 in Myanmar erst nach der Ausreise aufgedeckt wurde und von Seiten myanmarischer Sicherheitsbehörden danach versucht wurde, den Kläger zu 1 aufgrund der erst wenige Wochen zuvor erfolgten Vermittlung der beiden Personen an die AA-Rebellen ausfindig zu machen. Aus dem Vortrag des Klägers zu 1 im Rahmen der mündlichen Verhandlung ergeben sich keine wesentlichen Widersprüche zu seinen Angaben vor dem Bundesamt und auch keine durchgreifenden Zweifel des Gerichts.
31
(2) Der Kläger zu 1 hat in glaubhafter und schlüssiger Weise seine politischen Aktivitäten in Myanmar dargelegt. In der mündlichen Verhandlung hat er angegeben, seit 2007 Mitglied in der Partei „National League for Democracy“ (NLD) zu sein (vgl. Protokoll S. 3). Ferner habe er im Jahr 2007 an mehrtägigen Demonstrationen in Myanmar teilgenommen, bis er erkannt worden sei. Er sei gefunden, festgenommen und bis 2012 in Haft gehalten worden (vgl. Protokoll S. 3 f.). Bei seiner Entlassung habe er unterschrieben, sich nicht mehr politisch zu engagieren (vgl. Protokoll S. 4). Insoweit entsprechen seine Angaben denen bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt. Daraus folgt, dass der Kläger zu 1 aufgrund seiner politischen Aktivitäten bereits in Myanmar im Visier der Sicherheitsbehörden stand und wegen dieser verfolgt wurde.
32
(3) Ferner konnte der Kläger zu 1 in glaubhafter Weise eine parteipolitische Aktivität für die NLD darlegen. Er habe sich erst wieder in der Zeit von 2016 bis 2019, nachdem Aung San Suu Kyi an die Macht gekommen sei, engagiert. Dabei habe er im Rahmen seiner Parteimitgliedschaft um Mitglieder geworben und Treffen mit Regierungsverantwortlichen in seinem Viertel organisiert (vgl. Protokoll S. 4). Zwar mag er vor dem Bundesamt keine expliziten Angaben über seine Parteizugehörigkeit und Aktivitäten ab 2016 angeführt haben, allerdings ist zu beachten, dass die Anhörung am 7. September 2020 vor dem Putsch im Februar 2021 stattgefunden hat. Sowohl zum Zeitpunkt der Ausreise als auch der Anhörung vor dem Bundesamt war die NLD unter Aung San Suu Kyi die regierende Partei in Myanmar und mag der Kläger zu 1 die zum damaligen Zeitpunkt von der NLD gestellte Regierung Myanmars nicht als einen Verfolger angesehen haben, sondern das (mittlerweile alleine) regierende myanmarische Militär:
33
Die Republik der Union Myanmar (Republic of the Union of Myanmar) ist in der Verfassung formell als parlamentarische Demokratie mit starkem Militäreinfluss konzipiert. Nach jahrzehntelanger Militärdiktatur begann unter Präsident Thein Sein ab 2011 eine Phase der Öffnung und Demokratisierung. Gleichwohl blieb der Einfluss des Militärs gewahrt, so sieht die Verfassung vor, dass ein Viertel der Parlamentssitze im aus zwei Kammern bestehenden Unionsparlament (Oberhaus/Nationalitätenkammer/Amyo tha und Unterhaus/Volkskammer/Pyitthus Hluttaw) an Militärs im aktiven Dienst vergeben werden. Dadurch besteht ein Vetorecht im Falle von Verfassungsänderungen, für welche eine Mehrheit von drei Vierteln der Stimmen erforderlich ist. Das Militär (Tatmadaw) verfügt auch über die Autorität, die Minister für Verteidigung, Inneres und Grenzangelegenheiten und einen von zwei Vizepräsidenten zu ernennen. Darüber hinaus verfügt das Militär über ein Zugriffsrecht auf alle Regierungsbereiche, wenn der nationale Notstand ausgerufen wird. Somit ist Myanmars politisches System eine Mischung aus ziviler und militärischer Herrschaft. Es handelt sich letztlich um zwei Machtzentren im Land, die um die Macht und die politische Legitimität miteinander wetteifern - die gewählte Regierung und das Militär (BFA, Länderinformationsblatt Myanmar vom 8.7.2020 i.d.F.v. 2.4.2021 S. 14 f.; Heiduk, SWP-Aktuell Nr. 67/2018, S. 1).
34
Im November 2015 fanden nach fast 60 Jahren die ersten freien Parlamentswahlen statt, aus denen Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi und die von ihr geführte National League for Democracy (NLD) als Sieger hervorgingen. Die NLD gewann etwa 80 Prozent aller Mandate in Ober- und Unterhaus in einer von zahlreichen internationalen Wahlbeobachtern als in ihrem Ablauf als ordentlich eingeschätzten Wahl. Von Verfassungs wegen war es der Parteiführerin der NLD Aung San Suu Kyi allerdings nicht erlaubt, Präsidentin zu werden; für sie wurde daher das neue Amt eines State Counsellor geschaffen, das mit Vollmachten ausgestattet ist, die der Position eines in der Verfassung nicht vorgesehenen Ministerpräsidenten nahekommen. Die von ihr geführte Regierung übernahm 2016 die Amtsgeschäfte. Die Abgeordneten des Militärs, die frühere Regierungspartei, die Union Solidary and Development Party (USDP), bilden die Opposition im Parlament und verfolgen einen buddhistisch-nationalistischen Kurs (BFA, Länderinformationsblatt Myanmar vom 8.7.2020 i.d.F.v. 2.4.2021 S. 14 f.).
35
Die National League for Democracy (NLD) hatte auch die zweiten freien Wahlen seit der Demokratisierung am 8. November 2020 mit großer Mehrheit gewonnen und 396 Sitze im Unter- und Oberhaus des Parlaments und damit mehr als die 322 für eine Mehrheit erforderlichen Sitze erreicht. Aung San Suu Kyi hatte sich so eine zweite Amtszeit gesichert (BFA, Länderinformationsblatt Myanmar vom 8.7.2020 i.d.F.v. 2.4.2021 S. 11).
36
Als Reaktion hat das Militär nach einem Putsch gegen die demokratisch gewählte Regierung von Aung San Suu Kyi am 1. Februar 2021 die Macht übernommen, Suu Kyi und weitere hochrangige Mitglieder der Regierungspartei NLD „wegen Wahlbetrugs“ festgesetzt und die Macht an den Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Militärchef Min Aung Hlaing, übertragen sowie den früheren General und bisherigen Vize-Präsidenten Myint Swe als Übergangs-Staatsoberhaupt eingesetzt sowie den Ausnahmezustand gemäß Art. 417 der Verfassung von 2008 verhängt (BFA, Länderinformationsblatt Myanmar vom 8.7.2020 i.d.F.v. 2.4.2021 S. 9). Landesweite Massenproteste waren die Folge, denen das Militär mit zunehmender Härte gegen die Bevölkerung begegnet, den Druck auf Medien durch Razzien, Beschlagnahmen von Geräten und Lizenzentzug erhöht (BFA, Länderinformationsblatt Myanmar vom 8.7.2020 i.d.F.v. 2.4.2021 S. 7 f.).
37
Vor diesem Hintergrund erschließt sich auch, dass der Kläger zu 1 erst nach Erlass des Bundesamtsbescheids am 15. September 2020 seinen Parteimitgliedsausweis vorgelegt hat. Zuvor bestand kein Anlass. Dieser stellt zugleich einen Beleg seiner politischen Aktivität dar.
38
(4) Es stellt keinen Widerspruch dar, dass der Kläger zu 1 in Myanmar Mitglied in der Regierungspartei NLD gewesen ist und zugleich Personen an die AA-Rebellen vermittelt hat. Wie aus den Erkenntnismaterialien hervorgeht, wurde Myanmar vor dem im Februar 2021 erfolgten Putsch von zwei Machtzentren bestimmt, zum einen der demokratisch legitimierten Regierungspartei NLD unter Aung San Suu Kyi, zum anderen das auch nach jahrzehntelanger Militärdiktatur einflussreiche Militär (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Myanmar vom 8.7.2020 i.d.F.v. 2.4.2021 S. 15). Die (indirekte) Unterstützung einer Rebellengruppe, die gegen das Militär kämpft, steht daher nicht zwingend der Mitgliedschaft in der die zum damaligen Zeitpunkt die Regierung stellende Partei entgegen.
39
Dies hat der Kläger zu 1 auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung dargestellt: Er habe keine Probleme bekommen, solange Aung San Suu Kyi an der Macht war; daher habe er auch die Fahrt nach M. und die Vermittlung der beiden Personen aus R. an seine Kontaktperson für nicht so gefährlich gehalten (vgl. Protokoll S. 4, 6). Zwar hätte man auch damals Schwierigkeiten bekommen, wenn man sich als Unterstützer der Arakan Army bekannt hätte, er habe die beiden aber nur von einem Ort zum anderen mitgenommen (vgl. Protokoll S. 6). Die AA sei nicht gegen die Partei NLD gewesen, sondern gegen das Militär, auf das aber Aung San Suu Kyi keinen Einfluss gehabt habe. Zu diesem Zeitpunkt seien das Militär und die Regierung/Partei zwei verschiedene Institutionen gewesen; die NLD hätte keinen Einfluss auf das Militär gehabt und es handele sich um einen Konflikt zwischen dem Militär und der AA. Diese Ausführungen decken sich insoweit mit der aus den Erkenntnismaterialien folgenden Beschreibung der politischen Situation in Myanmar vor dem Putsch.
40
(5) Zu dieser bereits in Myanmar wahrgenommenen politischen Betätigung tritt im konkreten Fall eine in Deutschland nach dem Putsch im Februar 2021 durch den Kläger zu 1 ausgeübte exilpolitische Aktivität hinzu.
41
Der Kläger zu 1 hat geltend gemacht, am 10. Februar 2021 bei einer Demonstration vor dem chinesischen Konsulat gegen den Militärputsch in Myanmar teilgenommen, dabei Plakate gegen das Militär und für Aung San Suu Kyi gezeigt sowie Parolen gegen den Militärputsch in Myanmar gerufen zu haben. Ferner habe er am 8. August 2021 an einer Kundgebung gegen das myanmarische Militär auf dem M.platz in München teilgenommen. Der Kläger zu 1 habe zudem militärkritische Beiträge bei Facebook unter seinem Klarnamen geteilt.
42
Zwar ist nach den ausgewerteten Erkenntnisquellen und unter Heranziehung der Recherchemöglichkeiten beispielsweise des Auswärtigen Amts derzeit nicht weiter aufklärbar, ob und wie weit der Umstand einer Asylantragstellung im Ausland in Verbindung mit exilpolitischen Aktivitäten (Teilnahme an regimekritischen Kundgebungen in Deutschland, regimekritische und personenbezogen nachverfolgbare regimekritische Äußerungen in sozialen Medien) für sich zu einer (unverhältnismäßigen) Strafverfolgung und politischen Verfolgung bei einer Rückkehr nach Myanmar führt:
43
Die Beantragung von Asyl in Deutschland führt als solche nicht zu Repressalien bei einer Rückkehr nach Myanmar, doch kann dies anders zu beurteilen sein, wenn weitere Umstände wie z.B. die Begehung einer Straftat nach myanmarischem Recht, insbesondere die illegale bzw. dokumentenlose Ausreise aus Myanmar und/oder (Wieder-)Einreise nach einem illegalen Auslandsaufenthalt, hinzuträten (vgl. VG München, U.v. 25.7.2017 - M 17 K 17.35494 - Rn. 23). So wurden seit 2015 mehr als 2.200 Rohingya-Muslime von Myanmars Behörden festgenommen, als sie versuchten, das Land illegal auf dem Seeweg zu verlassen (BFA, Länderinformationsblatt Myanmar vom 8.7.2020 i.d.F.v. 2.4.2021 S. 53 f.).
44
Das myanmarische Strafgesetzbuch („Penal Code“) wurde geändert und wird in dieser Fassung seit dem 14. Februar 2021 angewandt; das Auswärtige Amt hatte aber keine Anhaltspunkte, dass eine Asylantragstellung im Ausland vor dem Putsch am 1. Februar 2021 einen pauschalen Straftatbestand nach diesen Normen darstellt (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 16.8.2021 an das BAMF, S. 2). Dass Rückkehrer, die nach dem Militärputsch vom 1. Februar 2021 ausgereist sind und sich hierauf in ihrem Asylantrag berufen haben, deswegen dort verfolgt werden, ist hingegen nicht auszuschließen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 17.8.2021 an das VG Gelsenkirchen, S. 2).
45
Aktuelle Informationen über die Behandlung nach dem Militärputsch zurückgeführter myanmarischer Staatsangehöriger liegen nicht vor, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2021 auch niemanden nach Myanmar abgeschoben hat (vgl. BT-Drs. 20/890 S. 3). Es besteht offenbar auch kein Rücknahmeabkommen der Europäischen Union mit Myanmar (vgl. Europ. Rechnungshof, Sonderbericht: Zusammenarbeit der EU mit Drittländern bei der Rückübernahme, 2021, S. 12), was die fehlenden Erfahrungen deutscher Behörden mit Rückführungen dorthin erklären mag.
46
(6) Allerdings ist aufgrund der oben bezeichneten exilpolitischen Aktivität des Klägers zu 1 im Zusammenhang mit seinem politischen Engagement vor seiner Ausreise sowie den Bedingungen einer Rückkehr nach Myanmar mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von bereits niedrigschwellig ansetzenden Sanktionen durch myanmarische Behörden im Fall einer Rückführung auszugehen.
47
Ob myanmarische Stellen exilpolitische Betätigungen wie insbesondere Demonstrationen beobachten, ist offen; an der Identifizierung der Teilnehmer dürften sie aber ein Interesse haben, auch wenn offen ist, ob zurückkehrende Personen deswegen (straf-)verfolgt werden (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 17.8.2021 an das VG Gelsenkirchen, S. 1). Bei einer Rückführung ist anzunehmen, dass den myanmarischen Behörden die Identitäten der Rückzuführenden bekannt gegeben werden. Somit ist diesen bereits vorab eine Überprüfung möglich (vgl. VG Leipzig, U.v. 8.3.2022 - 8 K 44/21.A - S. 10, juris). Bei einer solchen können eventuell nicht nur die veröffentlichten regimekritischen Beiträge des Klägers zu 1 unter seinem Klarnamen festgestellt werden, sondern insbesondere politische Aktivitäten vor seiner Ausreise, wie seine Parteimitgliedschaft bei der NLD, sein Haftaufenthalt bis 2012 und die von ihm unterschriebene Bestätigung bei Haftentlassung, sich politisch nicht mehr zu engagieren. So gab der Kläger zu 1 in der mündlichen Verhandlung an, staatliche Behörden wüssten, dass er auf einer Liste stehe und welche Aufgaben er in der Partei gehabt habe (vgl. Protokoll S. 4).
48
Aufgrund dieses Zusammentreffens von durch myanmarische Sicherheitsbehörden feststellbaren politischen Aktivitäten vor der Ausreise des Klägers zu 1 sowie einer exilpolitischen Betätigung nach dem Putsch im Februar 2021 ist davon auszugehen, dass das myanmarische Regime dem Kläger zu 1 eine regimekritische Ansicht unterstellt. Die Erkenntnislage zeigt ein äußerst brutales und rigides Vorgehen gegen regimekritische Äußerungen, die nicht zuletzt, wie vom Kläger zu 1 vorgetragen, strafbar sind. In Myanmar herrscht nach dem Militärputsch vom 1. Februar 2021 erneut offen ein sehr repressives System, das im Wesentlichen seit 1962 durch das Militär bestimmt wurde. Schon eine friedliche Meinungsäußerung kann zu Freiheitsstrafen führen, es gibt keine unabhängige Justiz. Die myanmarischen Behörden unterhalten einen Staatssicherheitsdienst, der mutmaßliche regimekritische Aktivitäten unter Zuhilfenahme eines personalintensiven Überwachungsapparates und des Einsatzes moderner technischer Mittel beobachtet (vgl. VG Leipzig, U.v. 8.3.2022 - 8 K 44/21.A - S. 10 f. m.w.N., juris). Es besteht bei der Rückkehrerbefragung die akute Gefahr von Folter, Verurteilung in einem nicht rechtsstaatlichen Verfahren und anschließender langjähriger Inhaftierung. Angesichts der durch ein systematisches, brutales Vorgehen auch gegen nur vermeintliche Oppositionelle gekennzeichneten Situation in Myanmar ist davon auszugehen, dass bekannte frühere Fälle von früher sanktionierten Rückkehrern keine vergangenen Einzelfälle sind, sondern die generelle Praxis des Regimes Myanmars im Umgang mit zurückkehrenden Asylsuchenden widerspiegelt (vgl. VG Leipzig, U.v. 8.3.2022 - 8 K 44/21.A - S. 11, juris). Aufgrund seiner bereits in der Vergangenheit durch den myanmarischen Staat erlittenen Verfolgung nach Teilnahme an Demonstrationen im Jahr 2007, des jedenfalls seit 2016 wieder praktizierten politischen Engagements sowie der erneuten (exil-)politischen Betätigung des Klägers zu 1 in Deutschland gegen das myanmarische Militär stand der Kläger zu 1 bereits in der Vergangenheit im Fokus myanmarischer Behörden und droht ihm wegen seiner weiteren politischen Aktivitäten bei einer Rückkehr nach Myanmar auch zur Überzeugung des Verwaltungsgerichts mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch den myanmarischen Staat.
49
Eine Gefängnisstrafe für die dem Kläger zu 1 zur Last gelegte abweichende politische Meinung sowie deren Kundgabe über soziale Medien bzw. der Teilnahme an Demonstrationen und damit verbundenen Straftat ist zur Überzeugung des Gerichts unverhältnismäßig. Es handelt sich lediglich um eine friedliche Meinungsäußerung und die Haftbedingungen in myanmarischen Gefängnissen sind sehr unzureichend.
50
Die Haftbedingungen für die geschätzt 100.000 Häftlinge (bei nur 66.000 Haftplätzen) in den ca. 47 Gefängnissen und ca. 48 Arbeitslagern in Myanmar sind u.a. aufgrund unzureichenden Zugangs zu hochwertiger medizinischer Versorgung und Grundbedürfnissen wie Nahrung, Unterkunft und Hygiene weiterhin hart und manchmal lebensbedrohlich. Mehr als 20.000 Häftlinge verbüßen ihre Strafen in den über das Land verteilten Arbeitslagern, wobei sich die Häftlinge auch dafür entscheiden können, einen Teil ihrer Haftstrafe in Form von „harter Arbeit“ zu verbüßen - was von vielen als wünschenswerter angesehen wird. In vielen Gefängnissen werden Untersuchungshäftlinge zusammen mit verurteilten Häftlingen untergebracht, ausnahmsweise auch politische Gefangene (im Dezember 2019 74 politische Gefangene in Haft und 164 in Untersuchungshaft) mit gewöhnlichen Kriminellen untergebracht (BFA, Länderinformationsblatt Myanmar vom 8.7.2020 i.d.F.v. 2.4.2021 S. 34). Die Haftbedingungen im Bundesstaat Rakhine zählen zu den schlechtesten; Hunderte Rohingya wurden willkürlich festgenommen und ohne ordentliches Gerichtsverfahren in Haft und sonstigen Einrichtungen untergebracht, wo sie Folter und Misshandlungen durch Gefängnispersonal und Sicherheitsbeamten ausgesetzt waren. Die verhängten Informationsblockaden erschweren eine Überprüfung von Berichten über willkürliche Inhaftierungen, Folter und Todesfällen in Militärgewahrsam sowie über Gefängnisrevolten. Das IKRK (Internationale Komitee des Roten Kreuzes) hat nur bedingten Zugang zu Gefängnissen und Arbeitslagern und keinen Zugang zu militärischen Haftanstalten (BFA, Länderinformationsblatt Myanmar vom 8.7.2020 i.d.F.v. 2.4.2021 S. 35). Nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amts müssen die Haftbedingungen für Inhaftierungen insbesondere seit der Machtergreifung durch das Militär am 1. Februar 2021 als oft grausam und unzumutbar dargestellt werden; Berichte über Folterungen, sexuelle Übergriffe und schwere Fälle von Infizierung mit Krankheiten an inhaftierten Regimegegnern liegen vor (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 16.8.2021 an das BAMF, S. 2).
51
2. Aufgrund der Asylberechtigung des Klägers zu 1 sind die nachrangigen negativen Entscheidungen über die beantragte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, die hilfsweise beantragte Zuerkennung subsidiären Schutzes und die Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten, die Ausreiseaufforderung (vgl. § 38 Abs. 1 AsylG) und die Abschiebungsandrohung (vgl. § 34 Abs. 1 AsylG) rechtswidrig und deshalb aufzuheben. Ebenso ist mangels Ausreiseverpflichtung des Klägers zu 1 die gemäß § 11 AufenthG ergangene Befristungsentscheidung rechtswidrig und aufzuheben.
52
II. Die Klägerinnen zu 2 und 3 haben zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Asyl, auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes ist daher rechtmäßig und verletzt die Klägerinnen zu 2 und 3 nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
53
1. Die auf dem Luftweg eingereisten Klägerinnen zu 2 und 3 haben keinen Anspruch auf Asylanerkennung nach Art. 16a Abs. 1 GG.
54
a) Die Klägerin zu 2 war nach ihren eigenen Angaben vor dem Bundesamt nicht an der Fahrt des Klägers zu 1 von R. nach M. beteiligt (vgl. Behördenakte im Verfahren Au 6 K 20.31332 Bl. 136). Es ist daher nicht ersichtlich, inwiefern sie und die Klägerin zu 3 in den Fokus des myanmarischen Staates gerückt sein sollten.
55
b) Anhaltspunkte für eine Reflexverfolgung bzw. Sippenhaft in Myanmar aufgrund einer (Vor-)Verfolgung des Klägers zu 1 sind weder aus den zur Verfügung stehenden Erkenntnismaterialien ersichtlich, noch durch die Klägerin zu 2 und 3 hinreichend substantiiert vorgetragen.
56
c) Auch die niedrigschwelligen exilpolitischen Betätigungen in Deutschland stellen für die vor ihrer Ausreise politisch nicht aktiven Klägerinnen zu 2 und 3 keinen subjektiven Nachfluchttatbestand dar, der ihre Verfolgung nun beachtlich wahrscheinlich machte und daher ihrer Rückkehr nach Myanmar entgegenstünde.
57
Die Klägerinnen zu 2 und 3 haben geltend gemacht, am 10. Februar 2021 vor dem chinesischen Konsulat in München sowie am 8. August 2021 auf dem M.platz in München an Demonstrationen gegen den Putsch des Militärs in Myanmar teilgenommen zu haben.
58
aa) Wie soeben ausgeführt, erlitten die Klägerinnen zu 2 und 3 zur Überzeugung des Gerichts keine Vorverfolgung. Maßgeblich ist somit, ob ein asylrelevanter Nachfluchtgrund durch ihr o.g. Verhalten in Deutschland entstanden ist, ihnen also bei einer unterstellten Rückkehr oder Rückführung nach Myanmar mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 16) politische Verfolgung droht.
59
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 16).
60
Das Tatsachengericht hat sich im Rahmen der o.g. tatrichterlichen Würdigung volle Überzeugung zur Gefahrenprognose zu bilden, also ob bei einer hypothetisch unterstellten Rückkehr des Schutzsuchenden in den behaupteten Verfolgerstaat diesem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht. Für die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit bedarf es weder einer eindeutigen Faktenlage noch einer mindestens 50%-igen Wahrscheinlichkeit. Vielmehr genügt, wenn bei zusammenfassender Würdigung die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 22). Lückenhafte Erkenntnisse, eine unübersichtliche Tatsachenlage oder nur bruchstückhafte Informationen aus einem Krisengebiet stehen ebenso wie gewisse Prognoseunsicherheiten einer Überzeugungsbildung nicht grundsätzlich entgegen, wenn eine weitere Sachaufklärung keinen Erfolg verspricht. Die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit darf aber nicht unter Verzicht auf die Feststellung objektivierbarer Prognosetatsachen auf bloße Hypothesen und ungesicherte Annahmen gestützt werden (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 22). Kann das Tatsachengericht dennoch keine Überzeugung gewinnen und bestehen keine Anhaltspunkte für eine weitere Sachverhaltsaufklärung, hat es die Nichterweislichkeit des behaupteten Verfolgungsschicksals festzustellen und nach o.g. Maßstäben eine Beweislastentscheidung zu treffen.
61
bb) Vorliegend sind folgende individuelle Umstände bei einer hypothetisch unterstellen Rückkehr nach Myanmar zu berücksichtigen:
62
Erstens haben die Klägerinnen zu 2 und 3 nicht vorgetragen, Angehörige einer ethnischen oder religiösen Minderheit in Myanmar zu sein und deswegen wahrscheinlicher von Repressalien bedroht zu sein. Zweitens stützen die Klägerinnen zu 2 und 3, die deutlich vor dem Militärputsch ausgereist sind, ihren Asylantrag nicht maßgeblich auf diesen, sondern auf eine individuelle Verfolgung des Klägers zu 1, wobei sie weder an dessen Fahrt nach M., noch an der Kontaktvermittlung zu dem Bekannten des Klägers zu 1 oder sonst an dessen Aktivitäten beteiligt gewesen sind. Drittens haben sich weder die Klägerin zu 2 noch die Klägerin zu 3 in Myanmar vor ihrer Ausreise politisch betätigt, sondern haben erst in Deutschland an zwei Demonstrationen gegen den Militärputsch in Myanmar teilgenommen. Es dürften also für beide bei myanmarischen Stellen keine Vorerkenntnisse vorliegen, die sie als Oppositionellen erscheinen ließen. Schließlich bewegten sich die Kundgebungen hier sowohl nach der auf den Fotos erkennbaren Personenzahl als auch den mitgeführten Kundgebungsmitteln eher am unteren Rand eines Engagements (zweimalige Teilnahme an einer Demonstration, Plakatehalten und Sich-Fotografieren). Auf den davon gefertigten Fotos sind größtenteils FFP 2-Masken tragende Personen zu sehen (vgl. Gerichtsakte Bl. 31 ff.); unabhängig von etwaigen Identifikationsmöglichkeiten myanmarischer Sicherheitsbehörden vor diesem Hintergrund haben die Klägerinnen zu 2 und 3 jedenfalls nicht dargelegt, inwiefern diese Bilder überhaupt öffentlich zugänglich sein sollten.
63
Dies zusammen genommen besteht trotz der Asylantragstellung in Verbindung mit der niederschwelligen exilpolitischen Betätigung zur Überzeugung des Verwaltungsgerichts nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer bereits niedrigschwellig ansetzenden Sanktion durch myanmarische Behörden.
64
2. Die Klägerinnen zu 2 und 3 haben aus diesen Gründen auch keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
65
a) Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 - Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.
66
Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in den §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen - den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG - muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
67
Eine Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
68
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 16) entspricht.
69
b) Hier lag bereits zur Überzeugung des Verwaltungsgerichts keine Vorverfolgung der Klägerinnen zu 2 und 3 vor (vgl. oben), so dass für eine Annahme einer Verfolgung bei Rückkehr auch keine Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU greift.
70
c) Auch ohne Beweiserleichterung und für sich betrachtet ist eine Rückkehrverfolgung nicht beachtlich wahrscheinlich. Wegen der Einzelheiten wird auf die o.g. Ausführungen (unter II. 1. c) bb)) verwiesen.
71
3. Die Klägerinnen zu 2 und 3 haben aus diesen Gründen auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG. Es ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass ihnen bei einer Rückkehr nach Myanmar ein ernsthafter Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht.
72
a) Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Alle drei Gefahrensituationen müssen auf das zielgerichtete Handeln einer Person oder Gruppe im Sinne des § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c AsylG zurückgehen; Defizite der allgemeinen Lebensumstände und Unzulänglichkeiten des Gesundheitssystems ohne zielgerichtete Anwendung auf den Ausländer (anders z.B. bei bewusster Vorenthaltung von verfügbarer Versorgung) genügen hierfür nicht (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 - 1 C 11.19 - juris Rn. 12 f.).
73
Die Aufenthaltsbeendigung eines Ausländers durch einen Konventionsstaat kann Art. 3 EMRK verletzen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen und bewiesen sind, dass der Ausländer im Zielstaat einer Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt zu werden. Dann ergibt sich aus Art. 3 EMRK die Verpflichtung für den Konventionsstaat, den Betroffenen nicht in dieses Land abzuschieben (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 - 41738/10 - NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 173 m.w.N.).
74
b) Die Klägerinnen zu 2 und 3 haben eine ernsthafte Bedrohung, so sie eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG in Gestalt der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe begründen würde, nicht glaubhaft gemacht.
75
Die Todesstrafe ist in Myanmar noch vorgesehen, die letzte Hinrichtung wurde aber 1988 durchgeführt. Am 2. Januar 2014 wandelte der Präsident alle Todesurteile in Freiheitsstrafen um, aber 2019 wurden vier Personen zum Tode verurteilt (AI 4.2020). Im Jahr 2019 warteten über 100 Menschen auf ihre Hinrichtung (BFA, Länderinformationsblatt Myanmar vom 8.7.2020 i.d.F.v. 2.4.2021 S. 36). Es gibt Berichte über außergerichtliche und willkürliche Tötungen, wie auch das „Verschwindenlassen“ von Personen durch Sicherheitskräfte (ebenda S. 29). Soweit bei den Massenprotesten auf Demonstranten geschossen wurde, handelt es sich um übermäßigen Einsatz polizeilicher Gewalt, aber nicht um gezielte Hinrichtungen in Vollzug von Todesurteilen.
76
Für die Klägerinnen zu 2 und 3 ist die Verhängung der Todesstrafe weder abstrakt noch konkret hinreichend wahrscheinlich. Wie der Klägerbevollmächtigte selbst ausführt, wurden einige myanmarische Strafnormen verschärft und angedrohte Haftstrafen erhöht. Die Todesstrafe wurde dafür aber nicht eingeführt. Sie droht daher nicht abstrakt. Aber auch konkret ist nicht ersichtlich, dass der myanmarische Staat ein Interesse hätte, die Klägerinnen zu 2 und 3 zu töten. Die Klägerinnen zu 2 und 3 waren beide nicht an der Fahrt des Klägers zu 1 nach M. und an der Kontaktvermittlung dort zu den AA-Rebellen beteiligt. Nichts Anderes folgt aus der dargestellten niedrigschwelligen exilpolitischen Aktivität der Klägerinnen zu 2 und 3 in Deutschland.
77
c) Die Klägerinnen zu 2 und 3 haben eine ernsthafte Bedrohung, so sie eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wegen Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung begründen würde, nicht glaubhaft gemacht.
78
Als Menschenrechtsverletzungen werden aus Myanmar Folter, Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt sowie willkürliche Inhaftierungen - auch von politischen Akteuren und Journalisten - und strafrechtliche Verfolgungen durch die Regierung sowie unrechtmäßige Eingriffe in die Privatsphäre der Bürger berichtet. Strenge Einschränkungen gelten hinsichtlich der freien Meinungsäußerung, der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und der Tätigkeiten der Zivilgesellschaft sowie der Religionsfreiheit und der Bewegungsfreiheit, insbesondere für Rohingya (BFA, Länderinformationsblatt Myanmar vom 8.7.2020 i.d.F.v. 2.4.2021 S. 29; Amnesty International AI, Amnesty Report Myanmar 2019 vom 29.1.2020, S. 3).
79
Schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen werden aus den Unruhegebieten der Bundesstaaten Kachin und Shan gemeldet, insbesondere gegenüber der Volksgruppe der Rohingya; es kam auch zu Menschenrechtsverletzungen durch bewaffnete ethnische Gruppen wie zu Zwangsarbeit und Menschenhandel mit Erwachsenen und Kindern sowie Rekrutierungen von Kindersoldaten. In Konfliktgebieten waren die Behörden nicht in der Lage, die Bevölkerung vor Tötungen, schweren Übergriffen und Vertreibung zu schützen (BFA, Länderinformationsblatt Myanmar vom 8.7.2020 i.d.F.v. 2.4.2021 S. 29, 46).
80
Alle Formen von Zwangs- und Pflichtarbeit oder deren Auferlegung sind gesetzlich verboten und Verstöße unter Strafe gestellt, aber für den Einsatz beim Militär und in Strafvollzugsanstalten sind sie erlaubt (BFA, Länderinformationsblatt Myanmar vom 8.7.2020 i.d.F.v. 2.4.2021 S. 30). Rechtliche Mechanismen, um Missbrauch durch Sicherheitskräfte zu untersuchen und zu verfolgen, werden selten genutzt und allgemein als unwirksam empfunden (BFA, Länderinformationsblatt Myanmar vom 8.7.2020 i.d.F.v. 2.4.2021 S. 30).
81
Vorliegend ist bereits mangels Beteiligung der Klägerinnen zu 2 und 3 an den Aktivitäten des Klägers zu 1 in Myanmar nicht davon auszugehen, dass ihnen beachtlich wahrscheinlich eine Bestrafung mit Gefängnisstrafe droht. Auf die möglicherweise gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Haftbedingungen in Myanmar kommt es daher nicht an (vgl. dazu oben).
82
d) Die Klägerinnen zu 2 und 3 haben eine ernsthafte Bedrohung, so sie eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG wegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts darstellte, nicht glaubhaft gemacht. Sie stammen und lebten auch zuletzt nicht in einer der von den aktuellen Auseinandersetzungen betroffenen Regionen Myanmars:
83
Seit Januar 2018 intensivierten sich die Kampfhandlungen der schätzungsweise sieben bewaffneten ethnischen Gruppierungen und 20 weiteren Milizgruppen gegen die Regierung im Bundesstaat Shan und eskalierten nach koordinierten Angriffen mehrerer Rebellengruppen auf eine Militärakademie und mehrere Polizeiwachen im August 2019, welche das Militär als Vergeltungsschläge für erfolgte Drogenrazzien im Bundesstaat einstufte. Experten gehen davon aus, dass sich in der Region die größte Methamphetamin-Produktion der Welt befindet. Militärische Operationen zielen auf militante ethnische Gruppen ab, vertreiben aber auch Tausende von Zivilisten. Die ethnischen Minderheiten im Bundesstaat leiden unter weit verbreiteten Menschenrechtsverletzungen durch die myanmarischen Behörden, Kämpfe der Rebellengruppen auch untereinander und sowohl die Regierung als auch nationalistische Mönche sollen ihren Einfluss und ihre Ressourcen nutzen, um in mehrheitlich christlichen Gebieten, darunter in Shan, als Teil eines gegen den Willen der lokalen Bevölkerung geführten Prozesses einer „Birmanisierung“ buddhistische Infrastruktur zu errichten (BFA, Länderinformationsblatt Myanmar vom 8.7.2020 i.d.F.v. 2.4.2021 S. 21 f.; Amnesty International AI, Amnesty Report Myanmar 2019 vom 29.1.2020, S. 2; zur birmanischen Umbenennung von Ortschaften Auswärtiges Amt, Auskunft vom 21.1.2020 an das BAMF, S. 1 f.).
84
Die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen dem Militär Myanmars und den bewaffneten ethnischen Gruppen verschärften sich mit der Folge hoher ziviler Opfer- und Vertriebenenzahlen in den Bundesstaaten Rakhine und Shan 2019 und zu Beginn 2020; ebenso setzten sich die Kampfhandlungen zwischen dem Militär und der Palaung State Liberation Front/Ta'ang National Liberation Army (PSLF/TNLA) weiter fort mit einem Eskalationshöhepunkt im November bis Dezember 2019 (BFA, Länderinformationsblatt Myanmar vom 8.7.2020 i.d.F.v. 2.4.2021 S. 20). Ein Ende des Konflikts ist trotz der erheblichen Verluste auf beiden Seiten nicht absehbar, ebenso ist es unwahrscheinlich, dass die Arakan Army (AA) ihr Ziel einer größeren politischen Autonomie mit Waffengewalt erreichen kann. Das Kernland der Mehrheits-Volksgruppe der Bamar ist von den Auswirkungen des Konflikts weitgehend verschont geblieben (BFA, Länderinformationsblatt Myanmar vom 8.7.2020 i.d.F.v. 2.4.2021 S. 20).
85
Die Klägerinnen zu 2 und 3 lebten zusammen mit dem Kläger zu 1 bis zu ihrer Ausreise in R. (vgl. Behördenakte im Verfahren Au 6 K 31332 Bl. 133). Sie haben daher keinen Bezug zu den von möglicherweise einen innerstaatlichen Konflikt darstellenden Kämpfen betroffenen Regionen Myanmars.
86
4. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor. Auf den Bescheid des Bundesamts wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
87
a) Die Klägerinnen zu 2 und 3 haben keinen Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG.
88
aa) Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Dies ist auch der Fall, wenn es dem Betroffenen nicht (mehr) gelingen würde, seine elementaren Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 - 13a B 14.30285 - Asylmagazin 2015, 197) und die aus zu erwartenden schwierigen Lebensbedingungen resultierenden Gefährdungen im Einzelfall eine solche Intensität aufweisen, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist. Die Gefahren müssen ein Mindestmaß an Schwere unter Berücksichtigung der Gesamtumstände aufweisen. Eine bloße Verschlechterung der Lebensumstände oder Verringerung der Lebenserwartung im Zielstaat gegenüber den Verhältnissen im Aufenthaltsstaat genügt nicht; es muss sich vielmehr um einen so außergewöhnlichen Fall handeln, dass humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 - 1 C 11.19 - juris Rn. 10 f.).
89
bb) Hier liegen diese besonders strengen Voraussetzungen nicht vor:
90
Die erwachsene, gesunde und erwerbsfähige Klägerin zu 2 würde im Fall einer Abschiebung nach Myanmar keiner besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass ihre elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht gesichert wären.
91
Der Lebensstandard für die Mehrheit der Menschen Myanmars ist als Vermächtnis der Isolationspolitik der früheren Regierungen und des wirtschaftlichen Missmanagements - schlechte Infrastruktur, Korruption, unterentwickelte Humanressourcen und unzureichender Zugang zu Kapital - weiterhin niedrig. Myanmar ist ein ressourcenreiches Land, das über große Erdgasvorräte, Edelsteine und andere Rohstoffe und umfangreiche landwirtschaftliche Nutzflächen verfügt. Schätzungsweise zwei Drittel der Bevölkerung Myanmars sind in der Landwirtschaft beschäftigt, etwa ein Viertel im Dienstleistungssektor und unter zehn Prozent in der Industrie. Durch sein niedriges Bruttonationaleinkommen zählt das Land weiterhin zu den ärmsten der Welt; etwa ein Drittel der Bevölkerung lebt unter der absoluten Armutsgrenze. Die schlechte sozioökonomische Situation hat dazu geführt, dass viele Myanmaren ins Ausland gehen; allein in Thailand leben schätzungsweise mehr als zwei Millionen Arbeitsmigranten, deren Überweisungen erheblich zum Bruttosozialprodukt des Landes beitragen (BFA, Länderinformationsblatt Myanmar vom 8.7.2020 i.d.F.v. 2.4.2021 S. 49 f.).
92
Soziale Hilfen sind begrenzt; die Hauptverantwortung für die Bewältigung sozialer Probleme liegt nach wie vor bei den Familien; auch religiöse Einrichtungen wie eine Reihe von Klöstern unterhalten Schulen oder Krankenhäuser und andere soziale Einrichtungen. Eine der größten Nicht-Regierungs-Organisationen des Landes, die 1991 gegründete Myanmar Maternal Child Welfare Association (MMCWA), bildet ein Gegengewicht gegen die Ortsverbände der von Aung San Suu Kyi geführten National League for Democracy (NLD) und nimmt in zahlreichen Regionen des Landes auch soziale Aufgaben wie die Versorgung von Kindern armer Familien und die Durchführung von Veranstaltungen zur Gesundheitsfürsorge wahr. Abgesehen von den Pensionskassen für Staatsbedienstete gibt es kein staatlich gestütztes Rentensystem. Auch Versicherungen können nur privat abgeschlossen werden (BFA, Länderinformationsblatt Myanmar vom 8.7.2020 i.d.F.v. 2.4.2021 S. 50).
93
Die medizinische Versorgung in Myanmar ist schlecht. Das Gesundheitssystem in Myanmar zählt zu den schlechtesten in ganz Asien. Es mangelt an medizinischen Geräten, ausgebildeten Ärzten und an Hygiene. Entgegen offizieller Angaben, wonach es in jeder Region ein größeres Krankenhaus gibt, erstreckt sich das Gesundheitssystem jedoch tatsächlich gerade einmal auf das zentrale Drittel des Landes. Im Süden ist eine ärztliche Behandlung kaum vorhanden. Schwerwiegende Erkrankungen von Personen mit entsprechendem Einkommen werden daher in Thailand oder in Europa behandelt (BFA, Länderinformationsblatt Myanmar vom 8.7.2020 i.d.F.v. 2.4.2021 S. 51).
94
Das Sozialversicherungssystem des Landes ruht auf zwei Säulen: Einem Pensionssystem für Beamte und einem Sozialversicherungssystem zur Deckung der formellen Beschäftigung im privaten Sektor. Während die militärischen Organisationen für die soziale Sicherheit ihrer Soldaten sorgen, ist der Schutz für die übrige Bevölkerung mit weniger als zwei Millionen Versicherten unzureichend. „Staatenlose“ sind offiziell von einer Versorgung durch das Gesundheitssystem ausgeschlossen; die Gebiete ethnischer Minderheiten werden medizinisch vernachlässigt und das kaum vorhandene Personal ist chronisch unterbezahlt und überlastet. Auch die Versorgung mit den einfachsten Medikamenten gestaltet sich außerhalb der größeren Städte sehr schwierig. Generell wenden sich die Einwohner bei einer Erkrankung erst einmal an ihren traditionellen Heiler, denn Aufenthalte in den wenigen staatlichen Krankenhäusern sind kostenpflichtig und Angehörige verschulden sich daher schnell (BFA, Länderinformationsblatt Myanmar vom 8.7.2020 i.d.F.v. 2.4.2021 S. 51 f.). „Staatenlose“ sind offiziell von einer Gesundheitsversorgung ausgeschlossen (BFA, Länderinformationsblatt Myanmar vom 8.7.2020 i.d.F.v. 2.4.2021 S. 52).
95
Die Klägerin zu 2 hat in Myanmar die Mittelschule bis zum 14. Lebensjahr besucht und zuletzt vor ihrer Ausreise Kosmetik verkauft (vgl. Behördenakte im Verfahren Au 6 K 31332 Bl. 134). In Myanmar leben noch ihre Mutter sowie zwei Schwestern (vgl. Behördenakte im Verfahren Au 6 K 31332 Bl. 133 f.). Vor diesem Hintergrund ist nicht ersichtlich, dass es der Klägerin zu 2 nicht möglich wäre, nach einer Rückkehr nach Myanmar sich wenigstens einen Lebensunterhalt in Höhe des Existenzminimums zu sichern.
96
Anderweitige Umstände sind im Hinblick auf die fünfzehnjährige Klägerin zu 3 nicht geltend gemacht.
97
cc) Die Klägerinnen zu 2 und 3 würden im Fall einer Abschiebung nach Myanmar auch nicht wegen ihrer Asylantragstellung oder Ausreise unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Auf die o.g. Ausführungen wird verwiesen.
98
b) Ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 ff. AufenthG wegen einer zielstaatsbezogenen erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen, die eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung voraussetzt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, liegt im Fall der Klägerinnen zu 2 und 3 nicht vor. Vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin zu 2 nicht vorgetragen, an einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung zu leiden; nicht anderes gilt im Hinblick der Klägerin zu 3.
99
5. Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots (§ 11 Abs. 1 AufenthG) stellt sich ebenfalls als rechtmäßig dar. Die Befristung hält sich innerhalb des von § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eröffneten gesetzlichen Rahmens von bis zu fünf Jahren und berücksichtigt die Belange des Antragstellers in angemessener Weise. Das nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eröffnete Ermessen wurde erkannt und ermessensfehlerfrei ausgeübt.
100
III. Die Kostenentscheidung beruht jeweils auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.