Titel:
Keine Haftung des Automobilherstellers gemäß § 823 Abs. 2 BGB wegen Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen
Normenketten:
BGB § 823 Abs. 2, § 826
ZPO § 148
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
Leitsätze:
1. Das wirtschaftliche Selbstbestimmungsrecht und damit der Schutz des Käufers eines mit unzulässigen Abschaltvorrichtungen versehenen Fahrzeugs vor dem Abschluss eines ungewollten Vertrags wird vom Schutzzweck der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV und den Vorgaben der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 nicht erfasst. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bereits das bestehende deutsche Vertrags- und Deliktsrecht hält zahlreiche - abgestufte - Instrumente bereit, die hinreichend wirksam das Interesse eines Erwerbers schützen, nicht ein mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattetes Fahrzeug zu erwerben und zugleich auch einen erheblichen Anreiz für die Hersteller von Motoren bedingen, unionsrechtliche Vorschriften einzuhalten. Vor diesem Hintergrund bedarf es in der deutschen Rechtsordnung über die bestehenden Institute des Vertrags- und Deliktsrechts hinaus nicht der Einordnung der Vorschriften der EG-FGV als Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, um das Interesse der Käufer von Fahrzeugen, die mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet sind, angemessen zu schützen. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Schutzgesetz, unzulässige Abschalteinrichtung, Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof, Thermofenster
Vorinstanz:
LG Memmingen vom -- – 32 O 1641/21
Fundstelle:
BeckRS 2022, 32291
Tenor
Der Antrag des Klägers, das Verfahren gemäß § 148 ZPO bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden: EuGH) im Verfahren C-100/21 auszusetzen, wird zurückgewiesen.
Gründe
1
Der Antrag des Klägers auf Aussetzung des Verfahrens nach § 148 ZPO war zurückzuweisen. Ebenso wenig war das Ruhen des Verfahrens anzuordnen.
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Zur Begründung seines Aussetzungsantrags stützt sich der Kläger auf die Schlussanträge des Generalanwalts des EuGH (Az. C-100/21) und den Vortrag, der Bundesgerichtshof habe im Verfahren VII ZR 412/21 „den Verhandlungstermin v. 30.06.2022 im Lichte des Votums des GA EuGH Rs C 100/21 aufgehoben und [das] Verfahren ausgesetzt“.
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1. Es besteht keine Verpflichtung der Instanzgerichte, Verfahren aus dem Bereich der sogenannten Abgasthematik bis zu einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs auszusetzen. Eine solche Verpflichtung besteht nach gefestigter Rechtsprechung sowohl des Europäischen Gerichtshofs als auch des Bundesgerichtshofs im Falle von Vorabentscheidungsersuchen anderer nationaler Gerichte gerade nicht. Demzufolge hat der Senat auch aufgrund der Formulierung keinen Anlass anzunehmen, dass der Bundesgerichtshof mit seiner Presseerklärung vom 01.07.2022 im Verfahren VIa ZR 335/21 hiervon abweichen und eine Wartepflicht der Instanzgerichte statuieren wollte.
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Der Senat ist nach gefestigter Rechtsprechung nicht bereits deshalb zur Anrufung des EuGH verpflichtet, weil einzelstaatliche Gerichte in Rechtssachen, die der beim Senat anhängigen ähneln und die gleiche Problematik betreffen, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung nach Art. 267 Abs. 1 - 3 AEUV vorgelegt haben (vgl. EuGH, Urteil vom 09.09.2015 - C-72/14, C-197/14, BeckRS 2015, 81095; BGH, NVwZ-RR 2020, 436 Rn. 51). Ebenso wenig ist der Senat verpflichtet, die Antwort auf diese Frage abzuwarten und das bei ihm rechtshängige Verfahren analog § 148 ZPO auszusetzen (vgl. EuGH, Urteil vom 09.09.2015 - C-72/14, C-197/14, BeckRS 2015, 81095; BGH, NVwZ-RR 2020, 436 Rn. 51). Der Bundesgerichtshof hat dies jüngst mit Beschluss vom 14.06.2022, VIII ZR 409/21 für eine Vorlage zum Europäischen Gerichtshof (wiederum durch das Landgericht Ravensburg) zum Verhältnis zwischen Verbraucherkreditlinie und Kilometerleasingverträgen nochmals ausdrücklich bestätigt.
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In Anwendung seines richterlichen Ermessens hält der Senat weiterhin eine Aussetzung des Verfahrens nicht für sachgerecht.
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Die Schlussanträge des Generalanwalts R. vom 02.06.2022 erfordern ein Abwarten durch den Senat nicht. Selbst wenn entsprechend der in den Schlussanträgen (dort Rn. 50 und Rn. 78 Ziff.1) vertretenen Auffassung davon ausgegangen würde, die RL 2007/46/EG solle (auch) das Interesse des individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs schützen, kein Fahrzeug zu erwerben, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, handelt es sich bei den zur Umsetzung der Richtlinie erlassenen §§ 6 und 27 EG-FGV nicht um Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB. Der VO (EG) Nummer 715/2007, die unmittelbar anwendbar ist, misst selbst der Generalanwalt keine Schutzwirkung zugunsten von Vermögensinteressen von Fahrzeugerwerbern zu.
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Bereits das bestehende deutsche Vertrags- und Deliktsrecht hält zahlreiche - abgestufte - Instrumente bereit, die hinreichend wirksam das Interesse eines Erwerbers schützen, nicht ein mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattetes Fahrzeug zu erwerben und zugleich auch einen erheblichen Anreiz für die Hersteller von Motoren bedingen, unionsrechtliche Vorschriften einzuhalten. Vor diesem Hintergrund bedarf es in der deutschen Rechtsordnung über die bestehenden Institute des Vertrags- und Deliktsrechts hinaus nicht der Einordnung der Vorschriften der EG-FGV als Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, um das Interesse der Käufer von Fahrzeugen, die mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet sind, angemessen zu schützen (im gleichen Sinne OLG Stuttgart, Urteil vom 28.06.2022, 24 U 115/22, Seite 27 ff; dort auch eingehend zu entstehenden nicht hinnehmbaren Wertungswidersprüchen, wollte man den Bestimmungen der §§ 6 und 27 EG-FGV Schutzgesetzcharakter im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB beimessen).
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2. Abgesehen davon, dass auch die Aussetzung eines individuellen Verfahrens durch den Bundesgerichtshof nicht zur Folge hätte, dass der Senat gehalten wäre, andere individuelle Verfahren ebenfalls auszusetzen, ist entgegen dem Vortrag des Klägers nicht erkennbar, dass der Bundesgerichtshof das bei ihm unter dem Aktenzeichen VII ZR 412/21 anhängige Verfahren tatsächlich ausgesetzt hätte. Der Kläger verweist insoweit über einen Link auf eine offenbar von Professor Dr. ... eingerichtete Internetseite mit der Überschrift: „Projekt Dieselskandal: Herstellerhaftung“, auf der sich, wenn man im Menü den Punkt „Bundesgerichtshof“ anklickt, die vor Nr. 1 zitierte Aussage findet. Dem Senat ist jedoch nicht erkennbar, weshalb Professor Dr. anzunehmen scheint, der Bundesgerichtshof habe das Verfahren ausgesetzt.
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Auf der Internetseite des Bundesgerichtshofs findet sich (unter Presse/Terminhinweise) lediglich der Eintrag: „Verhandlungstermin am 30. Juni 2022 in Sachen VII ZR 412/21 aufgehoben! Ein neuer Termin wird von Amts wegen anberaumt“. Von einer Aussetzung des Verfahrens ist also nicht ansatzweise die Rede.
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Die Mitteilung des Bundesgerichtshofs hat offenbar die in „Dieselverfahren“ ebenfalls häufig auf der Klägerseite auftretende Rechtsanwaltskanzlei ...zum Anlass genommen, den Grund für die Terminsaufhebung beim Bundesgerichtshof zu erfragen ‒ mit folgendem Ergebnis: „Auf Nachfrage beim BGH teilte man uns aber mit, dass der Termin lediglich verschoben wurde. Ein neuer Termin steht noch nicht fest. Erfahrungsgemäß und nach Auslastung des Gerichts ist mit einer Ansetzung in den nächsten zwei Monaten zu rechnen.“ (https://www. - Rechtsanwaelte.de/schlagzeile/bghwichtigerterminimdieselskandalverschobenwarum)
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Auch auf ausdrückliche Nachfrage hat der Bundesgerichtshof also offenbar gerade nicht erklärt, das Verfahren sei (bis zur Entscheidung des EuGH) ausgesetzt worden.