Inhalt

OLG Bamberg, Hinweisbeschluss v. 05.09.2022 – 8 U 68/22
Titel:

Keine Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit dem Motor EA 288 (hier: VW Golf 2.0)

Normenketten:
BGB § 823 Abs. 2, § 826
VO (EG) Nr. 715/2007 Art. 5 Abs. 2
ZPO § 148, § 522 Abs. 2
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
VwVfG § 24 Abs. 1 S. 1, S. 2
Leitsätze:
1. Zu – jeweils verneinten – (Schadensersatz-)Ansprüchen von Käufern eines Fahrzeugs, in das ein Diesel-Motor des Typs EA 288 eingebaut ist, vgl. auch BGH BeckRS 2022, 11891; BeckRS 2022, 18404; OLG Koblenz BeckRS 2022, 25180; BeckRS 2022, 25178; BeckRS 2022, 25176; BeckRS 2022, 25174; BeckRS 2022, 25157; BeckRS 2022, 25155; BeckRS 2022, 25138; BeckRS 2022, 25075 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1); OLG Bamberg BeckRS 2021, 55750 mit zahlreichen weiteren Nachweisen (auch zur aA) im dortigen Leitsatz 1; anders durch Versäumnisurteil OLG Köln BeckRS 2021, 2388. (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Verhalten der für einen Kraftfahrzeughersteller handelnden Personen ist nicht bereits deshalb als sittenwidrig zu qualifizieren, weil sie einen Fahrzeugtyp aufgrund einer grundlegenden unternehmerischen Entscheidung mit einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems ("Thermofenster") ausgestattet und in den Verkehr gebracht haben. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein Rückruf des KBA hinsichtlich eines bestimmten Motortyps wegen einer unzulässigen Prüfstandserkennungssoftware stellt regelmäßig einen hinreichenden Anhaltspunkt dafür dar, dass eine entsprechende unzulässige Abschalteinrichtung auch in anderen Fahrzeugen mit demselben Motortyp vorhanden ist; fehlt es an einem solchen Rückruf für den konkreten Motortyp, müssen die erforderlichen hinreichenden Anhaltspunkte in anderer Weise dargelegt werden. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
4. Es ist allgemein bekannt, dass der Straßenbetrieb mit der Prüfstandsituation nicht vergleichbar ist, da auf dem Prüfstand eine bestimmte „ideale“, nicht der Praxis entsprechende Situation vorgegeben wird, sodass der erzielte Wert zwar zu einer relativen Vergleichbarkeit unter den verschiedenen Fahrzeugfabrikaten und -modellen führen mag, absolut genommen aber jeweils nicht mit dem Straßenbetrieb übereinstimmt. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, EA 288, unzulässige Abschalteinrichtung, sittenwidrig, Thermofenster, Fahrkurvenerkennung, NEFZ, Prüfstandserkennungssoftware, Schlussanträge, Generalanwalt Rantos
Vorinstanz:
LG Bamberg, Endurteil vom 23.05.2022 – 21 O 5/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 32236

Tenor

1. Der Antrag des Klägers vom 18.08.2022 auf Aussetzung des Verfahrens wird abgelehnt.
2. Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Bamberg vom 23.05.2022, Az. 21 O 5/22, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil er einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
3. Der Senat beabsichtigt ferner, dem Kläger die Kosten des Berufungsverfahrens aufzuerlegen und den Streitwert für das Berufungsverfahren auf 18.990,91 € festzusetzen.
4. Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme bis spätestens 04.10.2022.

Entscheidungsgründe

I.
1
Der Kläger nimmt die beklagte Motorherstellerin auf Schadensersatz wegen Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung für die Abgasreinigung in einem Pkw Golf in Anspruch.
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Der Kläger erwarb am 23.07.2021 zu einem Kaufpreis von 19.361 € den näher bezeichneten Gebrauchtwagen von der Firma GmbH. Das Fahrzeug ist mit einem von der Beklagten hergestellten 2,0 Liter - Dieselmotor des Typs EA 288 (Euro 6) ausgestattet.
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Der Kläger hat in der ersten Instanz vorgetragen, der in dem Fahrzeug verbaute Dieselmotor sei mit einer Software ausgestattet, die bei der Messung der Abgaswerte, insbesondere der Stickstoffdioxidwerte, auf dem Prüfstand den Motor in einen Modus schalte, der nicht dem Modus entspreche, der im Normalbetrieb verwendet werde. Hierdurch würden die gesetzlichen Emissionswerte auf dem Prüfstand eingehalten, im Realbetrieb dagegen überschritten. Es lägen zureichende Anhaltspunkte dafür vor, dass - neben einem sog. Thermofenster - weitere unzulässige Abschalteinrichtungen, darunter eine Fahrkurvenerkennung, verbaut worden seien.
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Der Kläger hat erstinstanzlich Rückzahlung des Kaufpreises (abzüglich 370,39 € für die erfolgte Nutzung) Zug um Zug gegen Rückübereignung des Fahrzeugs an die Beklagte nebst Zahlung von Zinsen, Feststellung des Annahmeverzugs sowie Zahlung von außergerichtlichen Rechtsverfolgungskosten beantragt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes, des Verfahrenshergangs und der Anträge in erster Instanz wird auf den Tatbestand des Ersturteils Bezug genommen.
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Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Der Kläger habe die Voraussetzungen für eine deliktische Haftung der Beklagten nicht substantiiert vorgetragen.
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Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger seine erstinstanzlichen Anträge unverändert weiter. Er ist der Auffassung, das Landgericht habe zu Unrecht einen Schadensersatzanspruch verneint. Er ist weiter der Auffassung, dass der Vortrag zu der eingebauten Abschalteinrichtung in der Software des Motors ausreichend substantiiert sei. Das Landgericht überspanne die Anforderungen an die Substantiierung. Immerhin sei im Hinblick auf VW T6-Fahrzeuge ein Rückruf von mit Motoren des Typ EA 288 ausgestatteten Fahrzeugen erfolgt. Die Beklagte habe das KBA auch vorliegend und zwar im Rahmen des Typengenehmigungsverfahrens getäuscht. Es wird beantragt, das Verfahren nach § 148 Abs. 1 ZPO auszusetzen. Es bestünde nämlich auch [neben dem gemäß § 826 BGB] ein Anspruch gemäß § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit der RL 2007/46/EG. Dies werde durch die Ausführungen des Generalanwalts Rantos im Rahmen seiner Schlussanträge vom 02.06.2022 in der Rechtssache C-100/21 bestätigt. Auf die Berufungsanträge und die weiteren Ausführungen in der Berufungsbegründung vom 18.08.2022 wird Bezug genommen.
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Die Beklagte verteidigt das Ersturteil unter Aufrechterhaltung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrags. Sie führt auch zu den Schlussanträgen des Generalanwalts beim EuGH Rantos aus. Eine Aussetzung sei nicht veranlasst. Wegen der Einzelheiten wird auf die Berufungserwiderung vom 24.08.2022 Bezug genommen. II.
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Der Senat ist davon überzeugt, dass der Berufung des Klägers die Erfolgsaussicht fehlt und auch die weiteren Voraussetzungen für eine Entscheidung gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO vorliegen. Die gemäß §§ 511 ff. ZPO zulässige Berufung des Klägers erweist sich als unbegründet, weil ihm keine Ansprüche gegen die Beklagte zustehen. Zu Recht hat das Erstgericht die Klage abgewiesen. Auf die zutreffenden Gründe wird Bezug genommen.
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1. Einem Schadensersatzanspruch des Klägers aus § 826 BGB steht entgegen, dass es an der hinreichend substantiierten Darlegung eines vorsätzlichen und sittenwidrigen schädigenden Verhaltens der Beklagten fehlt.
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a) Eine bewusst sittenwidrigschädigende Implementierung einer unzulässigen Abschalteinrichtung durch die Beklagte hat der Kläger nicht hinreichend substantiiert dargestellt.
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Das Verhalten der für einen Kraftfahrzeughersteller handelnden Personen ist nicht bereits deshalb als sittenwidrig zu qualifizieren, weil sie einen Fahrzeugtyp aufgrund einer grundlegenden unternehmerischen Entscheidung mit einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems ausgestattet und in den Verkehr gebracht haben. Dies gilt auch dann, wenn mit der Entwicklung und dem Einsatz dieser Steuerung eine Kostensenkung und die Erzielung von Gewinn erstrebt wird. Die Verwendung eines „Thermofensters“ ist nicht per se, sondern nur unter - hier nicht dargelegten - weiteren Voraussetzungen sittenwidrig (BGH, Beschluss vom 09.03.2021, VI ZR 889/20, juris Rn. 25 ff.).
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Überdies ist der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidungsserie vom 16.09.2021 (Urteile des BGH vom 16.09.2021, VII ZR 190/20, 286/20, 321/20 und 322/20) unabhängig vom konkret verwendeten Typ des Dieselmotors und herstellerübergreifend nunmehr zu dem Ergebnis gelangt, dass es im Hinblick auf die - bis heute bestehende! - unsichere Rechtslage bei der Beurteilung der Zulässigkeit des Thermofensters sowohl an einem besonders verwerflichen Verhalten des Herstellers als auch an dem erforderlichen Schädigungsvorsatz fehlt:
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Danach kann bei einer Abschalteinrichtung wie hier, die im Grundsatz auf dem Prüfstand in gleicher Weise arbeitet wie im realen Fahrbetrieb und bei der sich die Frage der Zulässigkeit nicht eindeutig und unzweifelhaft beantworten lässt, bei Fehlen sonstiger Anhaltspunkte nicht ohne Weiteres unterstellt werden, dass die für die Beklagte handelnden Personen in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen. Eine möglicherweise nur fahrlässige Verkennung der Rechtslage genügt für die Feststellung der besonderen Verwerflichkeit des Verhaltens der Beklagten nicht. Allein aus der - unterstellten - objektiven Unzulässigkeit der Abschalteinrichtung in Form des Thermofensters folgt ferner kein Vorsatz hinsichtlich der Schädigung der Fahrzeugkäufer. Im Hinblick auf die unsichere Rechtslage - hinsichtlich des unstreitig in den Fahrzeugen der Kläger verbauten Thermofenster fehlt es bis heute an einer behördlichen Stilllegung oder einem Zwang zu Umrüstungsmaßnahmen - ist nicht dargetan, dass sich den für die Beklagte tätigen Personen die Gefahr einer Schädigung des Klägers hätte aufdrängen müssen.
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b) Legt man diese Maßstäbe zugrunde, ergeben sich aus dem Vortrag des Klägers sowie den getroffenen Feststellungen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass das Verhalten der Beklagten in diesem Sinne als sittenwidrig zu qualifizieren ist. Der Senat schließt sich der obergerichtlichen Rechtsprechung an, die eine Haftung der Beklagten in Verbindung mit dem von ihr entwickelten Motor Typ EA 288 ablehnt (vgl. Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss v. 20.04.2020, Az. 1 U 103/19; OLG München, Beschluss v. 10.02.2020, Az. 3 U 7524/19; OLG Koblenz, Urteil v. 20.04.2020, Az. 12 U 1570/19).
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Es fehlt bereits an greifbaren Anhaltspunkten dafür, dass der streitgegenständliche Motor mit einer Prüfstandserkennung ausgestattet ist. Die Behauptungen des Klägers stellen sich als reine Spekulation ohne tatsächliche Anknüpfungspunkte dar.
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(1) Der Senat verkennt hierbei nicht, dass eine unter Beweis gestellte Behauptung erst dann unbeachtlich ist, wenn sie ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufgestellt worden ist. Bei der Annahme von Willkür in diesem Sinne ist Zurückhaltung geboten; in der Regel wird sie nur bei Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte gerechtfertigt werden können. Es ist einer Partei grundsätzlich nicht verwehrt, eine tatsächliche Aufklärung auch hinsichtlich solcher Umstände zu verlangen, über die sie selbst kein zuverlässiges Wissen besitzt und auch nicht erlangen kann, die sie aber nach Lage der Verhältnisse für wahrscheinlich oder möglich hält. Dies gilt insbesondere dann, wenn sie sich nur auf vermutete Tatsachen stützen kann, weil sie mangels Sachkunde und Einblick in die Produktion des von der Gegenseite hergestellten und verwendeten Fahrzeugmotors einschließlich des Systems der Abgasrückführung oder -verminderung keine sichere Kenntnis von Einzeltatsachen haben kann (vgl. BGH, Beschluss v. 28.01.2020, Az. VIII ZR 57/19 m.w.N. - verfahrensgegenständlich Motor Daimler OM 651).
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(2) Unstreitig hat das Kraftfahrtbundesamt für den im streitgegenständlichen Fahrzeug eingebauten Motor keinen Rückruf angeordnet. Im Gegenteil hat es nach umfangreichen Untersuchungen festgestellt, dass bei zahlreichen Fahrzeugen, in welchem ein EA 288 Aggregat verbaut wurde, gerade keine unzulässige Abschalteinrichtung festgestellt werden konnte.
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In einer Auskunft an das OLG München vom 25.01.2021 (Anlage BE 28, vorgelegt mit Schriftsatz vom 24.08.2022) heißt es etwa:
„Das hier zu behandelnde Fahrzeug weist in der Motorsteuerung zwar die aus anderen Fahrzeugen des VW-Konzerns bekannte Erkennung des Fahrprofils des gesetzlichen Typprüfzyklus (NEFZ) auf, die daraus resultierenden Umschaltungen wirken dabei nicht als unzulässige Abschalteinrichtung: Im Falle der Fahrzeuge mit nachgeschalteter Abgasnachbehandlung mittels SCR-Katalysator (selektive katalytische Reduktion) wird die Fahrkurvenerkennung zur Umschaltung der Betriebsmodi der Abgasrückführung im Rahmen der Typprüfung genutzt, wobei eine Verringerung der Raten der Abgasrückführung durch die Abgasnachbehandlung kompensiert werden kann. Im Prinzip wird die NOxmindernde Wirksamkeit des AGR-Systems zurückgefahren, sobald das SCR-System seine NOxmindernde Wirkung entfalten kann. Bei einer Betrachtung des gesamten Emissionskontrollsystems bleiben somit die Schadstoffemissionen unterhalb der Grenzwerte. Dies erfolgt nicht nur über die Fahrkurve im Testzyklus, sondern auch unter realen Betriebsbedingungen auf der Straße. Die Umschaltung der Betriebsmodi erfolgt dabei über physikalische Motorparameter, wie z. B. die Temperatur des SCR-Katalysators. Prüfungen im KBA zeigen, dass auch bei Deaktivierung der Fahrkurvenfunktion die Grenzwerte in den Prüfverfahren zur Untersuchung der Auspuffemissionen nicht überschritten werden, sodass die Fahrkurvenerkennung bei Fahrzeugen mit Motor EA288 nicht als unzulässige Abschalteinrichtung bewertet wird.“
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Der Senat geht nicht davon aus, dass ein Rückruf des KBA zwingend erforderlich wäre, um entsprechende Anhaltspunkte zu begründen. Ein Rückruf des KBA hinsichtlich eines bestimmten Motortyps wegen einer nach dessen Ansicht unzulässigen Prüfstandserkennungssoftware würde allerdings regelmäßig einen hinreichenden Anhaltspunkt dafür darstellen, dass eine entsprechende unzulässige Abschalteinrichtung auch in anderen Fahrzeugen mit demselben Motortyp vorhanden ist. Fehlt es aber an einem solchen Rückruf für den konkreten Motortyp, müssen die erforderlichen hinreichenden Anhaltspunkte in anderer Weise dargelegt werden (OLG München, Beschluss vom 01. März 2021 - 8 U 4122/20 -, Rn. 39, juris). Das ist indes dem Kläger nicht gelungen.
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Das BMVI hat zudem nach Bekanntwerden des Dieselskandals Untersuchungen auch in Bezug auf die Motoren des Typs EA 288 in Auftrag gegeben und das KBA angewiesen, spezifische Nachprüfungen durch unabhängige Gutachter zu veranlassen. Diese „KBA-Felduntersuchungen“ umfassten insgesamt 56 Messungen an 53 Fahrzeugmodellen, von denen mehrere mit dem Motortyp EA 288 ausgestattet waren. Ziel der Untersuchung war u.a., die Motorvarianten des Typs EA 288 dahingehend zu überprüfen, ob sie unzulässige Abschalteinrichtungen oder unzulässige Systematiken und Randbedingungen von Prüfstands- und Zykluserkennungen wie die in den EA 189-Fahrzeugen verbaute Umschaltlogik enthielten. Bei diesen Untersuchungen sind keine unzulässigen Vorrichtungen bei Fahrzeugen mit dem Motortyp EA 288 der Emissionsklassen EU 5 und EU 6 festgestellt worden (OLG Dresden, Urteil vom 04. Dezember 2020 - 9a U 2074/19 -, Rn. 30, juris; OLG Frankfurt, Urteil vom 07. Oktober 2020 - 4 U 171/18 -, Rn. 45, juris; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Urteil vom 24. September 2020 - 5 U 47/19 -, Rn. 37, juris).
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Dem hat der Vortrag der Klagepartei nichts Substantielles entgegenzusetzen. Konkrete Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Prüfstandserkennung trägt der Kläger auch im Hinblick auf die gerügte „Fahrkurvenerkennung“ nicht ansatzweise vor.
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(3) Auch der Hinweis auf Messungen der DUH, die ergeben hätten, dass die NOx-Emissionen im realen Fahrbetrieb deutlich höher seien als die im sog. NEFZ - Verfahren gemessenen Werte, ist nicht geeignet, hinreichende Anhaltspunkte für ein sittenwidriges Verhalten der Beklagten zu geben. Die Tatsache, dass ein Fahrzeug im normalen Fahrbetrieb höhere Emissionen aufweist als im - für die Überprüfung der Einhaltung der Werte der Euro 6-Norm maßgeblichen - NEFZ, begründet ebenfalls keinen Anhaltspunkt, sondern ist vielmehr allgemein bekannt. Die für die Einhaltung der Euro 6-Norm relevanten, im sog. NEFZ-Verfahren gemessenen Werte entsprechen grundsätzlich auch ohne unzulässige Beeinflussung des Messverfahrens nicht den im Rahmen des tatsächlichen Gebrauchs des Fahrzeugs anfallenden Emissionswerten (so auch OLG München, Endurteil vom 05.09.2019 - 14 U 416/19, BeckRS 2019, 26072 Rn. 168). Es ist allgemein bekannt, dass der Straßenbetrieb mit der Prüfstandsituation nicht vergleichbar ist. Dies gilt sowohl hinsichtlich der angegebenen Kraftstoffverbräuche als auch hinsichtlich der Grenzwerte für Emissionen. Auf dem Prüfstand wird eine bestimmte „ideale“, nicht der Praxis entsprechende Situation vorgegeben, etwa hinsichtlich der Umgebungstemperatur, der Kraftentfaltung (Beschleunigung und Geschwindigkeit) oder der Abschaltung der Klimaanlage, sodass der erzielte Wert zwar zu einer relativen Vergleichbarkeit unter den verschiedenen Fahrzeugfabrikaten und -modellen führen mag, absolut genommen aber jeweils nicht mit dem Straßenbetrieb übereinstimmt (OLG Stuttgart, Beschluss vom 14.12.2020 - 16a U 155/19 -, Rn. 59 - 60, juris).
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2. Ansprüche des Klägers aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB sind ebenfalls nicht gegeben. Da der streitgegenständliche Pkw als Gebrauchtfahrzeug erworben wurde, fehlt es jedenfalls an der Bereicherungsabsicht und der in diesem Zusammenhang erforderlichen Stoffgleichheit des erstrebten rechtswidrigen Vermögensvorteils mit einem etwaigen Vermögensschaden (vgl. BGH, Urteil vom 30.07.2020, Az. VI ZR 5/20).
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3. Dem Kläger steht auch kein Anspruch gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV oder Art. 5 VO 715/2007/EG zu. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV bzw. Art. 5 VO 715/2007/EG stellen keine Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB dar, da das Interesse, nicht zur Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit veranlasst zu werden, nicht im Aufgabenbereich dieser Normen liegt. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Gesetz- und Verordnungsgeber mit den genannten Vorschriften (auch) einen Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit und speziell des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts der einzelnen Käufer bezweckte und an die (auch fahrlässige) Erteilung einer inhaltlich unrichtigen Übereinstimmungsbescheinigung einen gegen den Hersteller gerichteten Anspruch auf (Rück-)Abwicklung eines mit einem Dritten geschlossenen Kaufvertrags hätte knüpfen wollen (vgl. BGH, Urteil vom 30.07.2020, Az. VI ZR 5/20; Urteil vom 25.05.2020, Az. VI ZR 252/19; Urteile vom 16.09.2021 - VII ZR 190/20, 286/20, 321/20 und 322/20).
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a) Soweit der Generalanwalt Rantos in seinen Schlussanträgen vom 02.06.2022 in der Rechtssache C-100/21 (ECLI:ECLI:EU:C:2022:420) eine abweichende Ansicht vertritt, ist diese zum jetzigen Zeitpunkt weder für die deutschen Gerichte noch für den Gerichtshof der Europäischen Union rechtsverbindlich.
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b) Überdies bliebe die Klage auch dann ohne Erfolg, wenn der Senat der Auffassung des Generalanwalts Rantos folgen würde.
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(1) Zwar hat der Generalanwalt Rantos im Ergebnis angenommen, dass das Unionsrecht auch die Interessen eines Erwerbers eines Kraftfahrzeugs, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, schütze. Er hat diese Rechtsfolge jedoch von weiteren Voraussetzungen abhängig gemacht, insbesondere, dass die EG-Typgenehmigung erwirkt worden ist, ohne dass die Genehmigungsbehörde vom Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung etwas wusste (Rn. 48 der Schlussanträge). Es ist demnach erforderlich, dass der Genehmigungsbehörde die unzulässige Abschalteinrichtung nicht bekannt war, und dass diese Unkenntnis auf einer Täuschung der Genehmigungsbehörde beruht (vgl. OLG München, Beschluss vom 14.06.2022, 36 U 141/22).
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Für einen solchen Sachverhalt ist im Streitfall - für das als unzulässige Abschalteinrichtung allein in Betracht kommende Thermofenster - nichts ersichtlich.
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(2) Zudem wäre der Beklagten nicht einmal fahrlässiges Verhalten vorzuwerfen. Dem Bericht der vom Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur eingesetzten Untersuchungskommission „Volkswagen“ vom April 2016 ist zu entnehmen, dass in dem hier fraglichen Zeitraum Thermofenster von allen Autoherstellern verwendet und mit dem Erfordernis des Motorschutzes begründet wurden. Nach Einschätzung der Untersuchungskommission handelt es sich bei der Verwendung eines Thermofensters angesichts der Unschärfe der Ausnahmevorschrift des Art. 5 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a VO (EG) Nr. 715/2007, wonach zum Schutz des Motors vor Beschädigungen und zur Gewährleistung eines sicheren Fahrzeugbetriebs notwendige Abschalteinrichtungen zulässig sind, um keine eindeutigen Gesetzesverstöße, sofern ohne die Verwendung des Thermofensters dem Motor Schaden drohe und „sei dieser auch noch so klein“ (vgl. BMVI, Bericht der Untersuchungskommission Volkswagen, Stand April 2016, S. 123).
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Nach der Mitteilung der Europäischen Kommission vom 19.07.2008 (Mitteilung über die Anwendung und die künftige Entwicklung der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften über Emissionen von Fahrzeugen für den Leichtverkehr und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen (Euro 5 und Euro 6), 2008/C 182/08) waren trotz der erhöhten NOx-Emissionen bei niedrigen Temperaturen keine Messungen vorgesehen. Die Hersteller waren auch nicht verpflichtet, Informationen über das Emissionsverhalten von Dieselfahrzeugen bei niedrigen Temperaturen zur Verfügung zu stellen (dort Ziffer 7). Das Vorhandensein eines Thermofensters war also dem KBA als Typgenehmigungsbehörde bekannt, wenngleich es keine Beschreibung über die exakte Wirkungsweise mangels entsprechender Verpflichtung erhalten hat. Unter diesen Umständen durfte sich die Beklagte grundsätzlich darauf verlassen, dass das KBA im Rahmen des Typgenehmigungsverfahrens aufgrund des Amtsermittlungsgrundsatzes gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwVfG eine Ergänzung verlangen würde, um sich in die Lage zu versetzen, die Zulässigkeit des Thermofensters in dem betreffenden Fahrzeug zu prüfen. Anderenfalls durfte sich die Beklagte auf die Prüfungskompetenz des KBA als Genehmigungsbehörde verlassen und ohne Verschulden von der Zulässigkeit ihres Vorgehens ausgehen. Wenn also das KBA als zuständige Typgenehmigungsbehörde nach eigener Prüfung selbst von der Zulässigkeit des „Thermofensters“ ausgeht, kann der Beklagten keine andere Einschätzung abverlangt werden.
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4. Unabhängig von der fehlenden Anspruchsgrundlage hat der Kläger auch einen Schaden nicht hinreichend dargelegt. Die Bejahung eines Vermögensschadens in der streitgegenständlichen Konstellation setzt voraus, dass die durch den unerwünschten Vertrag erlangte Leistung nicht nur aus rein subjektiv willkürlicher Sicht als Schaden angesehen wird, sondern dass auch die Verkehrsanschauung bei Berücksichtigung der obwaltenden Umstände den Vertragsschluss als unvernünftig, den konkreten Vermögensinteressen nicht angemessen und damit als nachteilig ansieht (BGH, Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19 -, juris, Rn. 46 m.w.N.). Der Erfahrungssatz, ein Verbraucher kaufe generell kein stilllegungsgefährdetes Fahrzeug, fußt auf der ex post erkannten und dann ex ante zugrunde gelegten Annahme, die im Fahrzeug enthaltene Abschalteinrichtung trage das konkrete Potential in sich, zu einer Betriebsbeschränkung bzw. Betriebsuntersagung zu führen. In den Fällen des EA 189 leitet sich diese Annahme aus dem Wissen eines späteren Rückrufs sämtlicher Fahrzeuge durch das KBA mit nachfolgendem Versuch der Beklagten ab, eine Stilllegung der Fahrzeuge durch Updates zu verhindern. Im vorliegenden Fall liegen - anders als in den Fällen des EA 189 - aber gerade keine Anhaltspunkte für das Vorhandensein einer Prüfstandserkennung vor. Eine Betriebsbeschränkung bzw. -untersagung droht hier gerade nicht.
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Für den Kläger hat damit bei verständiger Würdigung gerade keine Situation bestanden, welche den Vertragsschluss als unvernünftig, den konkreten Vermögensinteressen nicht angemessen und damit als nachteilig erscheinen ließe (so im Ergebnis auch OLG München Urteil vom 14.04.2021 - 15 U 3584/20 - juris; OLG Schleswig, Urteil vom 13.08.2021 - 17 U 9/21 - juris). Vor diesem Hintergrund vermag der Senat einen Schaden des Klägers auch aus der zugrunde zu legenden exante-Betrachtung nicht zu erkennen.
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Im Übrigen fällt vorliegend auf, dass dem Kauf (23.07.2021) in ungewöhnlich kurzem Abstand die Aufforderung zur Zahlung von Schadensersatz (Anwaltsschreiben; 03.12.2021) gefolgt ist.
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5. Aus den unter II. 3. und 4. genannten Gründen besteht kein Anlass, das vorliegende Verfahren gemäß § 148 ZPO (analog) bis zu der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof) in dem dort anhängigen Verfahren C-100/21 auszusetzen.
III.
36
Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision nach § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 oder Nr. 3 ZPO liegen nicht vor.
37
Die Voraussetzungen einer deliktischen Haftung der Motorhersteller sind höchstrichterlich sein langem geklärt. Hinsichtlich der Entwicklung und des Einsatzes einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 hat der Bundesgerichtshof die Voraussetzungen durch zahlreiche Entscheidungen weiter konkretisiert (grundlegend BGH, Urteil vom 25.05.2020, Az. VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316). Es besteht entgegen der klägerischen Darstellung auch keine entscheidungserhebliche Divergenz zu der Entscheidung des OLG Naumburg, Urteil vom 09.04.2021, Az. 8 U 68/20. Denn der 8. Zivilsenat des OLG Naumburg hat seine Auffassung (zum Unrechtsbewusstsein, zum Vorsatz der Beklagten u.a.) mittlerweile ausdrücklich aufgegeben (vergleiche etwa Urteil vom 17.12.2021 - 8 U 8/21 -, juris Rn. 55). Die hier aufgeworfenen entscheidungserheblichen Rechtsfragen sind inzwischen höchstrichterlich geklärt (vergleiche BGH, Beschluss vom 21.03.2022, Az. VIa ZR 334/21). Die aussichtslosen Berufungsangriffe erfordern auch keine Erörterung in mündlicher Verhandlung.
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Der Senat regt daher - unbeschadet der Möglichkeit zur Stellungnahme - die kostengünstigere Rücknahme der Berufung an, die zwei Gerichtsgebühren spart (vgl. Nr. 1220, 1222 Kostenverzeichnis GKG).