Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 19.09.2022 – W 7 K 21.190
Titel:

Ermessensfehlerhafte Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit für schwerbehinderte Polin

Normenketten:
VwGO § 114
FreizügG/EU § 1 Abs. 2 Nr. 3 lit. c, § 2 Abs. 1 , Abs. 2, Abs. 3, § 3 Abs. 1, § 4a Abs. 1, § 5 Abs. 4
Leitsätze:
1. Eine 44-jährige polnische Staatsangehörige, die von Geburt an mit einem Grad der Behinderung von 100 Prozent geistig behindert ist und nicht selbst für die Deckung ihrer Grundbedürfnisse aufkommen kann, ist Familienangehörige iSd § 1 Abs. 2 Nr. 3 lit. c FreizügG/EU, wenn sie von ihrer rechtmäßig in Deutschland aufhältigen Mutter in ihren Haushalt aufgenommen und seither im Alltag regelmäßig unterstützt wurde. (Rn. 29 – 32) (redaktioneller Leitsatz)
2. Da selbst Familienangehörige von freizügigkeitsberechtigten, aber noch nicht daueraufenthaltsberechtigten Unionsbürgern ein Aufenthaltsrecht haben, muss dies erst recht für Familienangehörige von daueraufenthaltsberechtigten Unionsbürgern gelten. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit von Unionsbürgern wegen Fehlens der gesetzlichen Voraussetzungen, Begriff des Familienangehörigen, Verwandter in gerader absteigender Linie, Unterhaltsgewährung, keine ausreichenden Ermittlungen der Behörde, Ermessensfehler, Bleibeinteresse wegen Trennung der Beistandsgemeinschaft, Nachteile im Herkunftsland unterhalb der Schwelle eines Abschiebungsverbots, Freizügigkeit, Nichtbestehen, schwerbehindert, Familienangehöriger, Bleibeinteresse, Beistandsgemeinschaft
Fundstelle:
BeckRS 2022, 32193

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 25. Januar 2021, Az. ..., wird in den Ziffern 1, 3, 4 und 5 aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Die Klägerin wendet sich gegen die Feststellung des Nichtbestehens ihrer Freizügigkeit.
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1. Die Klägerin ist polnische Staatsangehörige. Sie ist am … 1978 geboren und von Geburt an geistig behindert mit einem Grad der Behinderung von 100 Prozent. Am 22. April 2008 erfolgte für sie eine Aufenthaltsanzeige bei der Beklagten als Familienangehörige ihrer polnischen Mutter sowie ihres deutschen Stiefvaters. Das Einkommen der Klägerin bestand damals aus einer polnischen Sozialrente in Höhe von 190,00 EUR. Am 19. November 2008 gab die Mutter der Klägerin für diese eine Verpflichtungserklärung ab. Nach Vorsprache bei der Beklagten wurde der Klägerin mitgeteilt, dass ihr mangels Vorliegens der Voraussetzungen keine Freizügigkeitsbescheinigung erteilt werden könne, sondern lediglich ein Aufenthalt als Touristin möglich sei. Mit Schreiben vom 23. Oktober 2009 wurde der Beklagten mitgeteilt, dass die Klägerin zurück nach Polen zu ihrem Vater gezogen sei.
3
Nachdem der Vater der Klägerin schwer erkrankte und seither selbst auf Hilfe angewiesen war, reiste die Klägerin am 17. Juni 2013 erneut in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie erhält seit dem 1. September 2014 laufende Sozialleistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung aufgrund voller Erwerbsminderung i.H.v. ca. 615,00 EUR sowie seit Juni 2015 (rückwirkend zum Juni 2013) Kindergeld in Höhe von 204,00 EUR. Die bis zum 28. Februar 2014 über die polnische Sozialrente bestehende Krankenversicherung ist aufgrund des Wegzugs aus Polen in die Bundesrepublik Deutschland erloschen und wird laut Angaben der Beklagten seit dem 1. September 2014 vom Fachbereich Soziales der Stadt Würzburg übernommen. Ausweislich eines Schreibens der Beklagten vom 17. April 2019 wurde der Klägerin eine Betreuung gemäß § 264 SGB V (Übernahme Krankenbehandlung für nicht Versicherungspflichtige gegen Kostenerstattung) bewilligt, da weder die Voraussetzungen für die Aufnahme in die Familienversicherung (§ 10 Abs. 2 Nr. 4 SGB V) noch für die Pflichtversicherung (§ 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V) vorgelegen hätten.
4
Die Mutter der Klägerin, die am 8. Januar 2019 zur Betreuerin der Klägerin bestellt wurde, reiste erstmals am 20. Januar 2003 in das Bundesgebiet ein, nach dem Tod ihres damaligen Ehemanns G.M. am 5. April 2004 reiste sie am 5. Mai 2004 aus der Bundesrepublik Deutschland aus. Sie reiste nach eigenen Angaben im Jahr 2006 wieder in das Bundesgebiet ein. In der Akte findet sich eine auf den 24. Januar 2008 datierte Aufenthaltsanzeige, in der als Aufenthaltszweck „Arbeitsplatzsuche“ angegeben war. Am 25. Januar 2008 wurde ihr eine Bescheinigung für freizügigkeitsberechtigte EU-/EWR-Bürger erteilt, die bis 24. Januar 2013 gültig war. Am 14. März 2008 heiratete sie ihren deutschen Ehemann H.-P. S. In der Folge war sie laut dem vorgelegten Lebenslauf und Rentenversicherungsverlauf vom 1. Mai 2008 bis 25. Februar 2009, vom 1. März 2009 bis 30. April 2010, vom 1. August 2010 bis 12. November 2010 und vom 1. Dezember 2010 bis 2. Dezember 2011 auf 400 EUR-Basis erwerbstätig. Laut der Beklagten bezog sie von Dezember 2011 bis Juli 2012 Sozialleistungen, war im August 2012 geringfügig beschäftigt und ging seit September 2012 keiner Berufstätigkeit mehr nach, sondern bezog Leistungen nach dem SGB II sowie eine polnische Altersrente (schwankend, ca. 250 EUR) und seit dem Tod von H.-P. S. am 28. Juli 2016 Witwenrente i.H.v. ca. 242 EUR, die auf die Leistungen nach dem SGB II angerechnet wurden (nach Anrechnung noch ca. 324,00 EUR, zuletzt im April 2021 ca. 128,00 EUR). Ab 6. April 2021 ging die Mutter der Klägerin einer Beschäftigung im Bereich Service/Reinigung nach (Brutto-Einkommen ca. 1.000,00 EUR), das Arbeitsverhältnis war bis 5. Januar 2022 befristet. Ab Mai 2021 wurden von der Mutter zunächst keine Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII mehr bezogen.
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Laut Angaben des Bevollmächtigten arbeitete die Mutter der Klägerin in der Folge bis 30. Juni 2022 als Reinigungskraft, was sie aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr habe fortsetzen können. Bis zum Eintritt in die reguläre Altersrente am 1. Mai 2023 erhalte sie derzeit monatlich Arbeitslosengeld i.H.v. 632,70 EUR, eine polnische Altersrente von etwa 300 EUR sowie Witwenrente i.H.v. 254,56 EUR. Laut Angaben der Beklagten bestünden keine Erkenntnisse, dass die Mutter derzeit nicht erwerbstätig sei.
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Mit Schriftsatz vom 21. Februar 2020 wurde die Klägerin zur beabsichtigten Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts angehört. Auf die Stellungnahme ihrer Mutter vom 2. März 2020 wird verwiesen.
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2. Mit Bescheid der Beklagten vom 25. Januar 2021 wurde festgestellt, dass die Klägerin keine Freizügigkeit nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU genießt (Ziffer 1) und die sofortige Vollziehbarkeit der Ziffer 1 angeordnet (Ziffer 2). In Ziffer 3 wurde die Klägerin aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von zwei Monaten nach Bekanntgabe bzw. Unanfechtbarkeit des Bescheides zu verlassen. Anderenfalls werde die Abschiebung nach Polen angedroht (Ziffer 4). Im Fall der Abschiebung werde die Wiedereinreise für drei Jahre ab dem Tag der Abschiebung untersagt (Ziffer 5). Die Kosten der eventuellen Abschiebung habe die Klägerin zu tragen (Ziffer 6), Kosten würden nicht erhoben (Ziffer 7).
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Zur Begründung wurde ausgeführt, nach pflichtgemäßem Ermessen und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes sei es im Fall der Klägerin geboten, den Verlust bzw. das Nichtbestehen des Rechts auf Freizügigkeit nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU i.V.m. § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festzustellen. Die Voraussetzungen des § 2 FreizügG/EU lägen nicht vor, mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes und ausreichender Existenzmittel habe die nicht erwerbstätige Klägerin die Freizügigkeitsberechtigung auch nicht nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU erlangt. Die Klägerin sei erneut in das Bundesgebiet eingereist, obwohl ihr bzw. der Mutter bereits vom vorherigen Aufenthalt bekannt gewesen sei, dass sie nicht freizügigkeitsberechtigt sei. Der Lebensunterhalt werde vollumfänglich durch Leistungen nach dem SGB XII sichergestellt (derzeit 616,44 EUR monatlich), auch der Krankenversicherungsschutz werde durch die Behörde übernommen (derzeit 84,81 EUR monatlich). Es sei von vorneherein absehbar und beabsichtigt gewesen, den Lebensunterhalt nicht durch eigene Erwerbstätigkeit oder finanzielle Unterstützung der Mutter, die selbst nicht erwerbstätig sei und Sozialleistungen beziehe, sicherzustellen. Die Inanspruchnahme von Sozialleistungen müsse zweifellos als unangemessen erachtet werden. Durch die Aussage der Mutter, die Klägerin würde keinesfalls nach Polen zurückkehren, sei auch die Zahlung der polnischen Rente eingestellt worden. Es bestehe keine begründete Aussicht, den Lebensunterhalt - zumindest teilweise - künftig aus eigenen Mitteln bestreiten zu können. Es sei davon auszugehen, dass die Sozialleistungsträger dauerhaft für die Kosten des Lebensunterhalts, der Unterkunft sowie des Krankenversicherungsschutzes aufkommen müssten, was eine Belastung für das gesamte Sozialhilfesystem der Bundesrepublik darstelle. Die Klägerin genieße auch nicht nach § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU Freizügigkeit als Familienangehörige einer Unionsbürgerin. Es sei bereits fraglich, ob die Mutter zum Personenkreis des § 2 Abs. 2 Nrn. 1 bis 5 FreizügG/EU zähle. Die Klägerin sei jedenfalls nicht als Familienangehörige im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. c) FreizügG/EU anzusehen. Zum Zeitpunkt der Wiedereinreise und dem Zuzug zur Mutter am 17. Juni 2013 sei die Klägerin bereits 35 Jahre alt gewesen. Die Unterhaltsgewährung müsse vor dem Nachzug im Herkunftsland erfolgt sein und eine gewisse Bedeutung und Nachhaltigkeit aufweisen. Vor ihrer Einreise sei die Klägerin durch ihren Vater und ihren Bruder in Polen unterhalten worden. Die Mutter habe keinen Unterhalt gewähren können, da sie selbst nicht über ausreichende Mittel zur Sicherung des eigenen Lebensunterhalts verfügt habe. Die Mutter habe bei einer Vorsprache am 27. Juni 2019 gegenüber der Ausländerbehörde angegeben, sie beziehe neben ihrer polnischen Rente und Witwenrente Leistungen vom Jobcenter und könne mit diesen Mitteln ihren Lebensunterhalt nicht sichern. Darüber hinaus verfüge die Klägerin nicht über ausreichende Mittel nach § 4 FreizügG/EU. Weder sie noch ihre Mutter seien finanziell in der Lage, zur Sicherung des Lebensunterhalts beizutragen. Die Klägerin beziehe seit Jahren Sozialhilfe, was als unangemessener Sozialleistungsbezug eingestuft werden müsse, da von vornherein keine Aussicht auf Besserung der finanziellen Lage bestanden habe. Hinzu komme, dass ihr bzw. der Mutter dies auch hätte bewusst sein müssen. Da der Klägerin bereits während ihres vorherigen Aufenthalts im Bundesgebiet deutlich gemacht worden sei, dass die Freizügigkeitsvoraussetzungen fehlten, und sich an der persönlichen und finanziellen Situation nichts geändert habe, habe sie nicht davon ausgehen können, dass bei erneuter Einreise nunmehr ein Freizügigkeitsrecht bestehe. Die Klägerin habe auch kein Daueraufenthaltsrecht erworben, sie habe sich insbesondere nicht fünf Jahre rechtmäßig im Sinne des § 4a Abs. 5 FreizügG/EU in der Bundesrepublik aufgehalten. Bei pflichtgemäßer Ermessensausübung und Abwägung des Interesses der Klägerin an einem Verbleib im Bundesgebiet mit dem öffentlichen Interesse an der Feststellung des Verlusts der Freizügigkeit überwiege das öffentliche Interesse bei Weitem. Gegen die Feststellung des Verlusts der Freizügigkeit spreche, dass sie bereits seit Juni 2013 in Deutschland lebe. Die Klägerin wohne bei ihrer Mutter, die die rechtliche Betreuung übernommen habe. Sie verfüge nicht über wirtschaftliche Bindungen im Bundesgebiet. Nach Angaben der Mutter sei der Vater in Polen aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage, die Betreuung zu übernehmen. Auch der Bruder und dessen Ehefrau seien nach deren Angaben beruflich so eingespannt, dass sie sich nicht um sie kümmern könnten. Für die Feststellung des Verlusts der Freizügigkeit spreche hingegen, dass von vorneherein kein Freizügigkeitsrecht bestanden habe, was ihr bzw. der Mutter auch bekannt gewesen sei oder hätte bekannt sein müssen. Die Klägerin beziehe seit Jahren durchgehend Sozialhilfeleistungen ohne die geringste Aussicht, den Lebensunterhalt - zumindest teilweise - aus eigenen Mitteln sichern zu können. Es sei absehbar, dass der Verzicht auf die Verlustfeststellung zu einer dauerhaften Belastung des Sozialsystems führe. Im Falle der Rückkehr nach Polen sei die Familie gehalten, für sie die erforderliche Betreuung zu organisieren. Unter Umständen komme - wie bei der Tochter ihres Bruders - eine internatsähnliche Unterbringung in Betracht. Zudem stehe es der Mutter frei, nach Polen zurückzukehren und dort für die Klägerin zu sorgen.
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Bei Feststellung des Nichtbestehens des Rechts auf Einreise und Aufenthalt sei sie nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ausreisepflichtig, die Ausreisefrist müsse außer in dringenden Fällen mindestens einen Monat betragen (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 3 FreizügG/EU). Die Durchsetzung der Ausreisepflicht richte sich mangels abweichender Regelungen nach dem Aufenthaltsgesetz (§ 11 Abs. 14 Satz 2 FreizügG/EU). Sollte sie der Ausreiseverpflichtung nicht fristgerecht nachkommen, sei die Ausländerbehörde gehalten, die Abschiebung nach Polen einzuleiten. Die Fristbemessung des Einreise- und Aufenthaltsverbots sei unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse erfolgt und werde als angemessen, aber auch ausreichend angesehen, um den mit der Abschiebung verfolgten Zweck zu erreichen.
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3. Gegen diesen Bescheid ließ die Klägerin am 8. Februar 2021 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg erheben und zuletzt beantragen,
den Bescheid der Beklagten vom 25. Januar 2021 aufzuheben.
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Weiter wurde beantragt, der Klägerin Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Bevollmächtigten zu gewähren.
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Zur Begründung wurde ausgeführt, die Klägerin sei Familienangehörige ihrer Mutter im Sinne des § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU, die Betreuung auch im täglichen Leben stehe der Unterhaltsgewährung gleich. Dies entspreche auch Art. 4 Abs. 2 Buchst. b) und Abs. 3 der RL 2003/86/EG, die zwar grundsätzlich nur aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige betreffe, aber auch auf erwachsene Kinder verweise, die gesundheitlich nicht in der Lage seien, für ihren Lebensunterhalt aufzukommen. Es stelle einen Widerspruch dar, wenn die RL 2003/86/EG auch für Kinder, die bei Einreise das 21. Lebensjahr vollendet hätten, ein Freizügigkeitsrecht gewähre, während die RL 2004/38/EG und das FreizügG/EU dies nicht explizit vorsähen. Sollte dies zutreffen, würden Unionsbürger im Verhältnis zu Drittstaatlern benachteiligt. Selbst wenn diese Richtlinie nicht anwendbar sei, komme die RL 2004/38/EG zur Anwendung, die erwachsene Kinder nicht ausschließe. Nach Art. 16 dieser Richtlinie habe jeder Unionsbürger, der sich regelmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Mitgliedstaat aufgehalten habe, das Recht, sich dort auf Dauer - unabhängig von den Voraussetzungen des Kapitels III, insbesondere von Art. 7 der Richtlinie - aufzuhalten. Nach Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie führe die Inanspruchnahme von Sozialleistungen auch nicht automatisch zu einer Ausweisung. Es liege zudem ein durchgängig rechtmäßiger Aufenthalt vor, einer formellen Aufenthaltserlaubnis bedürfe es nicht. Für die Klägerin genüge, dass sie einen polnischen Ausweis besitze, der sie zum Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland berechtige. Für eine Rechtswidrigkeit des Aufenthalts bedürfe es eines Bescheids, der den Verlust der Freizügigkeit feststelle, was - nach sechs Jahren des Aufenthalts - durch den Bescheid vom 25. Januar 2021 erfolgt sei. Die Mutter besitze aufgrund der Heirat mit einem deutschen Staatsangehörigen zudem ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 2 Satz 2 AufenthG. Die Klägerin habe deshalb unabhängig von den Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU ein Aufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 4 bzw. 5 FreizügG/EU erworben. Dieses Freizügigkeitsrecht könne ihr nicht mehr entzogen werden, die Versorgungslage der behinderten Klägerin könne nach einer derart langen ununterbrochenen Aufenthaltsdauer nicht zum Entzug der Freizügigkeit führen. Andernfalls werde sich die Klägerin für immer in einem aufenthaltsrechtlichen Schwebezustand befinden, was trotz der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Juli 2015 nicht der Sinn des Freizügigkeitsrechts sein könne. Die Beklagte habe zudem den Gesundheitszustand und den Aufenthaltsstatus der Klägerin seit deren erster Einreise am 22. April 2008 gekannt. Trotz Information der Beklagten über den Bezug von Sozialhilfe am 21. Oktober 2015 habe die Beklagte fünf Jahre lang nichts unternommen, um die fehlende Freizügigkeit festzustellen, woran sie nunmehr gebunden sei, zumal die Klägerin außer der Staatsangehörigkeit keinen Bezug zu Polen habe.
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4. Die Beklagte beantragte,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung wurde auf den streitgegenständlichen Bescheid Bezug genommen. Die Klägerin sei nicht freizügigkeitsberechtigt, sie habe zu keinem Zeitpunkt die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU erfüllt. Allein durch die Tatsache, dass die Klägerin seit mehreren Jahren in der Bundesrepublik Deutschland lebe, sei der Aufenthalt noch nicht rechtmäßig im Sinne des Unionsrechts. Hiervon habe die Klägerin auch nicht ausgehen können, da die Ausländerbehörde während des früheren Aufenthalts auf das fehlende Aufenthaltsrecht hingewiesen und sich der Sachverhalt seitdem nicht geändert habe. Die Mutter sei während der Ehe nur kurzzeitig erwerbstätig gewesen, der Lebensunterhalt der Eheleute sei durch (ergänzende) Sozialleistungen sichergestellt worden.
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Die Klägerin sei erst nach ihrem 21. Lebensjahr zugezogen und damit nicht mehr Familienangehörige im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. c) FreizügG/EU, der Art. 2 Nr. 2 Buchst. b) der RL 2004/38/EG umsetze. Nach Art. 3 der RL 2003/86/EG finde diese keine Anwendung auf Unionsbürger und den Familiennachzug zu Unionsbürgern, sodass die Bestimmung zur Einreise von volljährigen unverheirateten Kindern in Art. 4 Abs. 2 Buchst. b) der RL 2003/86/EG nicht eingreife. Auch nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Juli 2015 (Az.: 1 C 22.14) sei eine Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU nicht bereits dann ausgeschlossen, wenn sich ein Unionsbürger fünf Jahre ständig im Bundesgebiet aufgehalten habe. Das Entstehen eines Daueraufenthaltsrechts nach § 4a Abs. 1 FreizügG/EU erfordere, dass ununterbrochen die Freizügigkeitsvoraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der RL 2004/38/EG erfüllt gewesen seien.
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Die Mutter der Klägerin gehe seit dem 6. April 2021 einer Beschäftigung im Bereich Service/Reinigung nach und sei seitdem nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt.
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5. Mit Beschluss vom 29. März 2021 (Az.: W 7 S 21.191) hat das Gericht die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit unter der Ziffer 2 des Bescheids vom 25. Januar 2021 aufgehoben. Auf die Gründe des rechtskräftigen Beschlusses wird zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichts- sowie der beigezogenen Behördenakten, auch im Verfahren W 7 S 21.191, wegen des Verlaufs der mündlichen Verhandlung auf das Protokoll vom 19. September 2022 verwiesen.

Entscheidungsgründe

19
Die Klage ist zulässig und begründet.
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1. Die Klage ist zulässig.
21
Insbesondere ist der Antrag auf Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsakte im Bescheid der Beklagten vom 25. Januar 2021 als Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 Variante 1 VwGO statthaft. Das Gericht legt den Klageantrag dabei rechtsschutzorientiert dahingehend aus (§ 88 VwGO), dass die bereits mit Beschluss vom 29. März 2021 (Az.: W 7 S 21.191) aufgehobene Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit unter Ziffer 2, der Hinweis auf die gesetzliche Regelung in § 66 Abs. 1 AufenthG, dass die Klägerin die Kosten der Abschiebung zu tragen hat, unter Ziffer 6 sowie die die Klägerin nicht belastende Kostenentscheidung in Ziffer 7 des Bescheids nicht angefochten sind.
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2. Die Klage ist in diesem Umfang auch begründet.
23
Die angefochtenen Behördenentscheidungen sind aufzuheben, weil sie rechtswidrig sind und die Klägerin in ihren Rechten verletzen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit unter Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids vom 25. Januar 2021 hält einer gerichtlichen Überprüfung unabhängig von der Frage des Erwerbs eines Daueraufenthaltsrechts der Klägerin schon deshalb nicht stand, weil jedenfalls die Ermessenserwägungen der Beklagten im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung fehlerhaft sind. Dies führt dazu, dass auch die weiteren Verfügungen unter den Ziffern 3, 4 und 5 des Bescheids rechtswidrig sind und die Klägerin in ihren Rechten verletzen.
24
a) Die Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit der Klägerin unter Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU steht der Beklagten, wenn die Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen sind oder nicht vorliegen, die Befugnis zu, den Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festzustellen. Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit ist grundsätzlich der Schluss der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz. Etwas anderes gilt aus Gründen des materiellen Rechts ausnahmsweise für die in § 5 Abs. 4 FreizügG/EU genannte Fünfjahresfrist, nach deren Ablauf eine Feststellungsentscheidung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU ausgeschlossen ist; insoweit ist der Zeitpunkt des Bescheidserlasses maßgeblich (st.Rspr., z.B. BVerwG, B.v. 7.12.2017 - 1 B 142/17 - juris Rn. 5; U.v. 16.7.2015 - 1 C 22.14 - juris Rn. 16; BayVGH, U.v. 18.7.2017 - 10 B 17.339 - juris Rn. 24).
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aa) Gemessen daran bleibt mangels ausreichender tatsächlicher Erkenntnisse offen, ob sich die Klägerin im für die Prüfung der Fünfjahresfrist in § 5 Abs. 4 FreizügG/EU maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheidserlasses seit fünf Jahren ständig und rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten und damit in diesem Zeitpunkt bereits ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU erworben hatte und deshalb die Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU bereits dem Grunde nach ausgeschlossen wäre. Zwar ist das Gericht im Rahmen des im Verwaltungsgerichtsverfahren geltenden Untersuchungsgrundsatzes (§ 86 Abs. 1 VwGO) gehalten, den entscheidungserheblichen Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln. Allerdings führt ein Mangel in der Sachverhaltsermittlung der Beklagten zu einem für die Ermessensausübung erheblichen Gesichtspunkt dazu, dass Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids jedenfalls aufgrund eines Ermessensfehlers (siehe dazu unter bb)) rechtswidrig ist.
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Nach § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU haben Unionsbürger, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben, unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU das Recht auf Einreise und Aufenthalt (Daueraufenthaltsrecht). Rechtmäßig im Sinne des Unionsrechts ist dabei nur ein Aufenthalt, der im Einklang mit den in der RL 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sowie zur Änderung verschiedener unionsrechtlicher Bestimmungen (ABl. L 158, S. 77, ber. ABl. L 229, S. 35) - Freizügigkeitsrichtlinie - und insbesondere mit den in Art. 7 Abs. 1 Freizügigkeitsrichtlinie aufgeführten Voraussetzungen steht (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 - Ziolkowski und Szeja, C-424/10 u.a. - juris Rn. 46, U.v. 11.11.2014 - Dano, C-333/13 - juris Rn. 71; BVerwG, U.v. 16.7.2015 - 1 C 22.14 - juris Rn. 16). Erforderlich ist mithin, dass die Freizügigkeitsvoraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU im gesamten Zeitraum erfüllt waren (vgl. BayVGH, U.v. 18.7.2017 - 10 B 17.339 - juris Rn. 32). Nach Ablauf der fünf Jahre entsteht das Daueraufenthaltsrecht kraft Gesetzes und erlischt lediglich in den gesetzlich geregelten Fällen nach § 4a Abs. 7 und § 6 Abs. 1 FreizügG/EU, wofür hier keine Anhaltspunkte bestehen.
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Die Klägerin ist polnische Staatsangehörige und fällt damit als Unionsbürgerin in den persönlichen Anwendungsbereich des Freizügigkeitsgesetzes (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 FreizügG/EU). Sie hält sich nach Aktenlage seit ihrer Wiedereinreise und Umzug zu ihrer Mutter im Jahr 2013 ununterbrochen im Bundesgebiet auf.
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Im Ausgangspunkt geht das Gericht entgegen der Ansicht der Beklagten davon aus, dass die Klägerin als Verwandte ihrer Mutter in absteigender Linie die Voraussetzungen eines Familienangehörigen eines Unionsbürgers im Sinne von § 1 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. c) FreizügG/EU, der Art. 2 Nr. 2 Buchst. c) Variante 2 Freizügigkeitsrichtlinie entspricht, erfüllt und die Beklagte deshalb hätte ermitteln und prüfen müssen, ob die Klägerin - abgeleitet von der Mutter - im Zeitpunkt des Bescheidserlasses bereits ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU erworben hatte.
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Dem steht nicht entgegen, dass die Begriffsbestimmung des § 1 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. c) FreizügG/EU die einschränkende Voraussetzung enthält, dass der Unionsbürger dem Verwandten in absteigender Linie Unterhalt gewähren muss, wenn der Verwandte - wie vorliegend - das 21. Lebensjahr bereits vollendet hat. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs setzt die Eigenschaft des Familienangehörigen, dem der aufenthaltsberechtigte Unionsbürger „Unterhalt gewährt“, voraus, dass das Vorliegen eines tatsächlichen Abhängigkeitsverhältnisses nachzuweisen ist. Diese Abhängigkeit ergibt sich aus einer tatsächlichen Situation, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der Familienangehörige vom Aufenthaltsberechtigten materiell unterstützt wird (vgl. EuGH, U.v. 19.10.2004 - Zhu/Chen, C-200/02, juris Rn. 10; U.v. 8.11.2012 - Iida, C-40/11 - juris Rn. 55; U.v. 16.1.2014 - Reyes, C-423/12 - juris Rn. 20 f.; U.v. 13.9.2016 - Rendón Marín, C-165/14 - juris Rn. 50; U.v. 12.12.2019 - C-519/18 - juris Rn. 47, 48). Dabei ist unter Unterhalt eine fortgesetzte, regelmäßige Unterstützung zu verstehen, die vom Ansatz her geeignet ist, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Für die Frage der Gewährung ist allein die tatsächliche Leistung maßgeblich, die auch noch im Bundesgebiet erbracht werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 16.7.2015 - 1 C 22/14 - juris Rn. 24; Berlit, GK-AufenthG, Stand Oktober 2022, § 1 FreizügG/EU Rn. 99, 101). Ausreichend ist, dass nur ein Teil des erforderlichen Unterhalts geleistet wird, wobei dies auch durch Naturalleistungen (etwa durch Zurverfügungstellung kostenloser Verpflegung und Unterkunft) geschehen kann; die ergänzende Inanspruchnahme von Sozialleistungen steht nicht entgegen (vgl. Berlit, GK-AufenthG, Stand Oktober 2022, § 1 FreizügG/EU Rn. 101 unter Verweis auf EuGH, U.v. 18.6.1987 - Lebon, C-316/85 - juris).
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Gemessen an diesen Grundsätzen geht das Gericht davon aus, dass der Klägerin von ihrer Mutter im vorgenannten Sinne Unterhalt gewährt wird und sie deshalb als deren Familienangehörige i.S.d. § 1 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. c) FreizügG/EU anzusehen ist. Entgegen der Ansicht der Beklagten ist es nicht erforderlich, dass der Klägerin von ihrer Mutter bereits in Polen tatsächlich Unterhaltsleistungen gewährt wurden. Vielmehr stellt der Europäische Gerichtshof in der zitierten Rechtsprechung auf den Unterhaltsbedarf ab, der vorliegend bereits vor Wiedereinreise der Klägerin im Jahr 2013 in Polen bestand (vgl. EuGH, U.v. 12.12.2019 - C-519/18 - juris Rn. 47, 48). Die Klägerin ist ausweislich der Akte seit ihrer Geburt schwerbehindert, sie hat vor ihrer Wiedereinreise in die Bundesrepublik bei ihrem Vater in Polen gewohnt und dort ausweislich der Ausführungen der Mutter in der mündlichen Verhandlung Sozialleistungen bezogen. Die Klägerin kann nicht selbst für die Deckung ihrer Grundbedürfnisse aufkommen, vielmehr bedarf und bedurfte sie aufgrund ihrer Behinderung einer ausreichenden Betreuung - die überwiegend von Familienangehörigen wahrgenommen wurde -, da sie zu einer eigenständigen Lebensführung nicht in der Lage ist. Dies wurde insbesondere auch durch den in der mündlichen Verhandlung durch das Gericht gewonnenen persönlichen Eindruck von der Klägerin bestätigt. Die Betreuung durch Familienangehörige in Polen konnte vor der Einreise der Klägerin nicht mehr gewährleistet werden.
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Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Mutter nach der Wiedereinreise der Klägerin diese (erneut) in ihren Haushalt aufgenommen hat, sie seither im Alltag unterstützt und ihr somit Naturalunterhaltsleistungen mit Geldeswert zukommen lässt. Hierzu hat die Mutter der Klägerin in der mündlichen Verhandlung insbesondere erklärt, dass diese nicht mit Geld umgehen könne, auch wenn sie laut Angaben der Mutter nicht von ihr abhängig sei und für Mahlzeiten und den Haushalt sorge und mit dem Hund spazieren gehe. Die Mutter ist zudem seit 2019 als Betreuerin der Klägerin bestellt, diese stand jedoch bereits zuvor anderweitig unter Betreuung. Der Aufgabenkreis umfasst dabei aktuell insbesondere die Gesundheitsfürsorge, Vermögenssorge sowie Wohnungsangelegenheiten. Aus einer Zusammenschau der Umstände ergibt sich, dass die Mutter der Klägerin diese seit ihrem Umzug zu ihr im Jahr 2013 im Alltag, nunmehr auch im Rahmen der in ihren Aufgabenkreis fallenden Betreueraufgaben, unterstützt. Insbesondere auch aufgrund des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks des Gerichts von der Klägerin ist davon auszugehen, dass diese zu einer eigenständigen Lebensführung nicht in der Lage ist. Bei zusammenfassender Würdigung geht das erkennende Gericht deshalb davon aus, dass bereits in Polen ein Unterhaltsbedarf der Klägerin bestand, der nach ihrer Wiedereinreise ins Bundesgebiet und dem damit einhergehenden Umzug durch geldwerte Naturalunterhaltsleistungen der Mutter (wie Betreuung) gedeckt wurde, die bei fehlender Vornahme durch die Mutter durch Dritte wahrgenommen werden müssten. Die Inanspruchnahme von Sozialhilfe kann dabei auch nicht allein als Indiz für eine mangelnde Unterhaltsgewährung angesehen werden (vgl. EuGH, U.v. 18.6.1987 - Lebon, C-316/85 - juris Rn. 20; Hailbronner in Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Juni 2022, § 1 FreizügG/EU Rn. 99), vielmehr ist vorliegend eine weite Auslegung der auf der Freizügigkeitsrichtlinie beruhenden nationalen Regelung in § 1 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. c) FreizügG/EU angezeigt (vgl. BayLSG, B.v. 19.11.2018 - L 11 AS 912/18 B ER - juris Rn. 16 unter Verweis auf EuGH, U.v. 18.6.1987 - Lebon, C-316/85 -; BVerwG, U.v. 20.10.1993 - 11 C 1/93 - beide juris). Jedenfalls aufgrund der in Deutschland zwischenzeitlich tatsächlich erfolgten regelmäßigen, fortgesetzten und geldwerten Unterstützung der schwerbehinderten Klägerin durch die Mutter ist die Klägerin als Familienangehörige im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. c) FreizügG/EU anzusehen.
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Da die Beklagte aber bereits davon ausgegangen ist, dass es sich bei der Klägerin nicht um eine Familienangehörige ihrer Mutter handele, hat sie insoweit (folgerichtig) nicht ausreichend ermittelt und geprüft, ob die Mutter der Klägerin und von dieser abgeleitet die Klägerin im Zeitpunkt des Bescheidserlasses ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 1 Satz 1 AufenthG erworben hatte. Die Beklagte hätte hierzu zunächst ermitteln und prüfen müssen, ob die Mutter der Klägerin aufgrund eines fünfjährigen ständigen und rechtmäßigen Aufenthalts selbst ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU erworben hat. Insbesondere ist dabei zu berücksichtigen, dass die Mutter bereits im Zeitraum von 2008 bis 2012 - wenn auch mit Unterbrechungen - erwerbstätig und hierzu nach der Heirat ihres deutschen Ehemanns auch trotz der Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Beitrittsakte (vgl. Anhang XII der Beitrittsakte der EU mit u.a. Polen, Abschnitt 2. Freizügigkeit, ABl. L 236 vom 23.9.2003, S. 17) aufgrund des günstigeren nationalen Rechts (vgl. § 28 Abs. 5 AufenthG a.F. in Verbindung mit dem Meistbegünstigungsgebot in § 11 Abs. 1 FreizügG/EU a.F.) sowie der in der Beitrittsakte enthaltenen Meistbegünstigungsklausel (vgl. Anhang XII der Beitrittsakte der EU mit u.a. Polen, Abschnitt 2. Freizügigkeit, Nr. 12) berechtigt war. Es erscheint dabei auch nicht als fernliegend, dass sie jedenfalls während der kurzen Unterbrechungen der Erwerbstätigkeit weiterhin als Arbeitnehmerin freizügigkeitsberechtigt war (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU), da aufgrund des Versterbens der „Arbeitgeber“ wohl von einem unfreiwilligen Verlust des jeweiligen Arbeitsplatzes auszugehen und aufgrund des recht kurzen Zeitraums der Unterbrechungen auch eine Bescheinigung der Arbeitsagentur entbehrlich gewesen sein dürfte (vgl. § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 FreizügG/EU; Tewocht in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, Stand 1.10.2021, § 2 FreizügG/EU Rn. 51). Hinsichtlich der im Anschluss an die zuletzt ausgeübte Erwerbstätigkeit im Jahr 2012 bestehenden (wohl unfreiwilligen) Erwerbslosigkeit bis 2021 hätte die Beklagte - z.B. unter Beiziehung eventuell vorhandener Bescheide der Bundesagentur für Arbeit oder Einholen von Auskünften dieser Behörde - ermitteln und prüfen müssen, ob und ggf. wie lange die Mutter der Klägerin weiterhin als Arbeitnehmerin freizügigkeitsberechtigt war (vgl. § 2 Abs. 3 FreizügG/EU bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit; vgl. zu freiwilliger Arbeitslosigkeit: EuGH, U.v. 12.5.1998 - Sala, C-85/96 - juris Rn. 32; Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 2 FreizügG/EU Rn. 149).
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Des Weiteren ist möglich, dass die Mutter seit Antritt der ersten Arbeitsstelle am 1. Mai 2008 fünf Jahre nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU als Arbeitnehmerin freizügigkeitsberechtigt und damit bereits vor Wiedereinreise der Klägerin im Juni 2013 daueraufenthaltsberechtigt war. Dies unterstellt, dürfte sich auch die Klägerin nach dem Zuzug zu ihrer Mutter fünf Jahre rechtmäßig und ständig im Bundesgebiet aufgehalten und damit ein die Befugnis nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU ausschließendes Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU erworben haben. Die Klägerin hätte dann nämlich möglicherweise die Voraussetzungen von § 2 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. § 3 Abs. 1 Satz 1, § 4 FreizügG/EU aufgrund des Nachzugs zu ihrer Mutter im Zeitpunkt des Bescheidserlasses mehr als fünf Jahre erfüllt. Zwar ist in § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ausdrücklich nur von Unionsbürgern nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 FreizügG/EU die Rede. Der Familiennachzug zu Daueraufenthaltsberechtigten ist im FreizügG/EU nicht ausdrücklich geregelt. Da jedoch selbst Familienangehörige von freizügigkeitsberechtigten, aber noch nicht daueraufenthaltsberechtigten Unionsbürgern ein Aufenthaltsrecht haben, muss dies erst recht für Familienangehörige von daueraufenthaltsberechtigten Unionsbürgern gelten, da Letztere eine stärkere aufenthaltsrechtliche Position als „gewöhnlich“ freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger haben (vgl. Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 4a FreizügG/EU Rn. 46).
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Ausgehend davon, dass die Mutter der Klägerin ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU erworben hat, ist auch davon auszugehen, dass die Klägerin im Zeitpunkt des Bescheidserlasses ebenfalls bereits ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU erworben hätte und damit der Erlass des streitgegenständlichen Bescheides schon dem Grunde nach ausgeschlossen gewesen wäre.
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bb) Die Befugnis zur Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit ist bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen in das Ermessen der Beklagten gestellt. Das Verwaltungsgericht ist gemäß § 114 Satz 1 VwGO auf die Nachprüfung beschränkt, ob die angefochtene Verwaltungsentscheidung ermessensfehlerhaft ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten (Ermessensüberschreitung) oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (Ermessensfehlgebrauch). Des Weiteren hat das Gericht zu prüfen, ob ein Ermessensausfall oder eine Ermessensunterschreitung (Ermessensdefizit) vorliegt, weil die Behörde ohne Erwägung von Alternativen davon ausgegangen ist, so und nicht anders handeln zu müssen, bzw. die Bandbreite ihrer Handlungsmöglichkeiten unterschätzt hat (vgl. Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 114 Rn. 17 m.w.N.). Dazu gehört, dass die Behörde alle tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen anstellen muss, die nach dem gesetzlichen Entscheidungsprogramm von ihr gefordert werden (vgl. Schübel-Pfister in Eyermann a.a.O., § 114 Rn. 24 m.w.N.). Nur unter diesen Voraussetzungen kann die Verwaltung alle Entscheidungsalternativen im konkreten Fall erwägen und die Bandbreite ihrer Handlungsmöglichkeiten richtig einschätzen. Ob die Ermessensentscheidung der Beklagten rechtmäßig ist, hängt somit auch davon ab, ob sie den erheblichen Sachverhalt vollständig und zutreffend ermittelt hat (vgl. Schübel-Pfister in Eyermann a.a.O., § 114 Rn. 80 m.w.N.).
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Gemessen an diesen Grundsätzen fehlt es an einer rechtmäßigen Ermessensentscheidung der Beklagten, weil sie die Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU zum einen auf eine spätestens im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht mehr zutreffende Tatsachengrundlage gestützt hat (vgl. Schübel-Pfister in Eyermann a.a.O., § 114 Rn. 25 m.w.N.). Denn mit Blick auf die nach der letzten Behördenentscheidung vom 25. Januar 2021 eingetretene weitere, entscheidungserhebliche Entwicklung des Sachverhaltes - erneute Aufnahme und Aufgabe einer Erwerbstätigkeit durch die Mutter bei fortbestehender Eigenschaft der Tochter als deren Familienangehörige - hätte die Beklagte ihre Ermessensentscheidung überprüfen und ggf. anpassen müssen (vgl. § 114 Satz 2 VwGO und dazu BVerwG, U.v. 20.6.2013 - 8 C 46.12 - juris Rn. 31 f.).
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Des Weiteren hat die Beklagte bei ihrer Ermessensentscheidung die von Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Beziehung der Klägerin zu ihrer Mutter nicht mit dem erforderlichen Gewicht in die Abwägung eingestellt, weshalb auch ein Ermessensdefizit vorliegt. Die Beziehung der Mutter der Klägerin zu ihrer schwerbehinderten volljährigen Tochter wird sowohl vom Schutzbereich der Familie im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG als auch vom Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Familienlebens gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK erfasst. Zwar hat die Beklagte in ihre Ermessenserwägungen eingestellt, dass die Klägerin seit 2013 bei ihrer Mutter wohnt. Sie hat aber nicht erkannt, dass die Klägerin durch die Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit ausreisepflichtig wird und damit eine dauerhafte Trennung von der Mutter, die sie versorgt und auf die sie angewiesen ist (Beistandsgemeinschaft), einhergeht. Entgegen der Ansicht der Beklagten ist der Mutter der Klägerin die freiwillige Rückkehr nach Polen zur Fortsetzung der familiären Beistandsgemeinschaft mit ihrer Tochter nicht zumutbar, da die Mutter - schon mangels Feststellung des Verlusts der Freizügigkeit, wohl auch aufgrund eines bestehenden Daueraufenthaltsrechts (siehe obige Ausführungen) - nicht ausreisepflichtig ist (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU) und damit ein Eingriff in die von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Rechte vorliegt. Diese Situation hat die Beklagte bei ihrer Entscheidung nicht angemessen berücksichtigt und ihrer Bedeutung entsprechend in die Abwägung mit den öffentlichen Interessen eingestellt. Vielmehr hat die Beklagte pauschal angenommen, dass es der Mutter freistehe, mit der Klägerin nach Polen zurückzukehren und dort für sie zu sorgen. Damit verkennt die Beklagte das Gewicht der soeben dargestellten Belange der Mutter der Klägerin.
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Darüber hinaus hätte die Beklagte auch etwaige Nachteile in ihre Ermessensentscheidung einstellen müssen, die die Klägerin in Polen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erwarten, aber unterhalb der Schwelle eines Abschiebungsverbots verbleiben und sich auf die durch Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bzw. Art. 8 EMRK geschützten Belange auswirken (vgl. BVerwG, U.v. 16.12.2021 - 1 C 60/20 - juris Rn. 51 f.; Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 6 FreizügG/EU Rn. 101). So hat die Beklagte zwar ausgeführt, im Falle der Rückkehr der Klägerin nach Polen sei die Familie gehalten, für sie die erforderliche Betreuung zu organisieren. Wie dies konkret erfolgen könne, orientiere sich an den Gegebenheiten vor Ort, es komme etwa eine internatsähnliche Unterbringung in Betracht. Nachteile, die die Schwelle eines Abschiebungsverbots überschreiten würden, sind vorliegend zwar angesichts der grundsätzlich möglichen Unterstützung der Klägerin durch ihre Familienangehörigen eher fernliegend. Die Beklagte hätte nach den dargestellten Maßstäben jedoch ermitteln und bei ihrer Ermessensentscheidung ausreichend einstellen müssen, inwieweit die Betreuung der Klägerin in Polen tatsächlich sichergestellt werden kann. Der Mutter der Klägerin ist es - wie ausgeführt - im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts nicht zumutbar, sich dauerhaft nach Polen zu begeben und dort die Betreuung der Klägerin sicherzustellen. Es fehlen bereits Feststellungen und konkrete Ermessenserwägungen dazu, inwieweit die Klägerin in Polen (erneut) durch ihren Vater bzw. die Familie ihres Bruders betreut oder ihre Betreuung anderweitig sichergestellt werden könnte. Der pauschale Verweis auf das Erfordernis der Organisation einer Betreuung durch die Familie stellt insoweit ein Ermessensdefizit dar.
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b) Infolge der gerichtlichen Aufhebung der Feststellung des Nichtbestehens der Freizügigkeit haben auch die weiteren, im streitgegenständlichen Bescheid unter den Ziffern 3, 4 und 5 verfügten Maßnahmen keinen rechtlichen Bestand. Es fehlt es an einem wirksamen, die Ausreisepflicht begründenden Verwaltungsakt gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU, weshalb die auf § 7 Abs. 1 Satz 2, 3 FreizügG/EU beruhende Abschiebungsandrohung samt Ausreiseaufforderung unter den Ziffern 3 und 4 des streitgegenständlichen Bescheids gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO ebenfalls aufzuheben ist. Das unter Ziffer 5 des streitgegenständlichen Bescheids angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot entbehrt - unabhängig vom Bestand der Verlustfeststellung - einer Rechtsgrundlage. § 11 Abs. 1 AufenthG ist auf freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und deren Familienangehörige nicht, auch nicht entsprechend, anwendbar (§ 11 FreizügG/EU; vgl. Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, FreizügG/EU § 7 Rn. 56). Die auf den Aufenthalt bezogenen Rechtsfolgen einer Verlustfeststellung sind für den genannten Personenkreis vielmehr abschließend in § 7 FreizügG/EU geregelt. Hinsichtlich einer Wiedereinreisesperre nach Verlustfeststellung differenziert § 7 Abs. 2 FreizügG/EU nach der Rechtsgrundlage, auf welche die Verlustfeststellung (rechtmäßigerweise) gestützt ist. Für den Fall der hier vorliegenden Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU fehlt es an einer Rechtsgrundlage für die Anordnung eines Wiedereinreise- und Aufenthaltsverbots (ebenso VG Bayreuth, GB.v. 4.5.2021 - B 6 K 19.581 - juris Rn. 71; Gerstner-Heck in Decker/Bader/Kothe, Migrations- und Integrationsrecht, Stand 15.7.2022, FreizügG/EU § 5 Rn. 15, § 7 Rn. 12; Kurzidem in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, Stand 1.1.2021, FreizügG/EU, § 7 Rn. 9).
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über deren vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, § 711 ZPO.