Titel:
Humanitäres Aufenthaltsrecht wegen Bestehens eines krankheitsbedingten Ausreisehindernisses (abgelehnt)
Normenkette:
AufenthG § 25 Abs. 5, § 60a Abs. 2c S. 3
Leitsatz:
Eine Anwendung des § 25 Abs. 5 AufenthG auf zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse kommt nur dann in Frage, wenn die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG iVm § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 AufenthG wegen Vorliegens eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG nicht möglich ist. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Aserbaidschan, Reiseunfähigkeit, Ausreisehindernis, zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis, akute Suizidalität, schwere depressive Episode, Attest, Abschiebungsverbot, Existenzminimum, Sicherung des Lebensunterhalts
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 25.10.2022 – 19 ZB 22.1778
Fundstelle:
BeckRS 2022, 32041
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Die Klägerin begehrt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG.
2
Die Klägerin, aserbaidschanische Staatsangehörige, reiste nach eigenen Angaben mit ihrer Familie am 6. November 2018 ins Bundesgebiet ein und stellte am 22. November 2018 einen Asylantrag. Dieser wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 3. Dezember 2018 vollumfänglich abgelehnt. Das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG wurde nicht festgestellt. Die Klägerin wurde aufgefordert, das Bundesgebiet innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen; widrigenfalls wurde ihr und ihrer Familie die Abschiebung insbesondere nach Aserbaidschan angedroht. Die hiergegen vor dem Verwaltungsgericht Regensburg erhobene Klage blieb erfolglos (Urteil vom 21.8.2020 - RN 15 K 18.33026; rechtskräftig seit 6.10.2020). Hinsichtlich der psychischen Erkrankungen der Klägerin wurde festgestellt, dass diese auch im Heimatland grundsätzlich behandelt werden könnten.
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Die Klägerin und ihre Familie sind seit dem 6. Oktober 2020 vollziehbar zur Ausreise verpflichtet.
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Am 23. Oktober 2020 stellten die Klägerin und ihre Familie einen Folgeantrag. Dieser wurde mit Bescheid des Bundesamtes von 15. März 2021 als unzulässig abgelehnt. Gleichzeitig abgelehnt wurde der Antrag auf Abänderung des Bescheids vom 3. Dezember 2018 bezüglich der Feststellungen zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG. Die hiergegen erhobene Klage blieb erfolglos (VG Regensburg, Urteil vom 12.10.2021 - RN 15 K 21.30456).
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Am 27. Oktober 2020 wurde der Klägerin mangels Besitzes gültiger Reisedokumente erstmals eine Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG erteilt und in der Folge als Duldung für Personen mit ungeklärter Identität nach § 60b AufenthG (zuletzt bis 3.6.2021) verlängert. Zum 14. Juni 2021 wurde die Duldung erloschen gestempelt.
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Mit Beschluss des Amtsgerichts Landau/Isar (Az. …*) vom 2. Juni 2021 wurde die vorläufige Unterbringung der Klägerin in der geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses bis längstens 30. Juni 2021 einstweilen angeordnet. Ein Verfahrenspfleger wurde bestellt, die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung wurde angeordnet. Vorausgegangen war eine versuchte und schließlich stornierte Abschiebung der Klägerin und ihrer Familie am 1. Juni 2021, während der die Klägerin nach Aktenlage einen Suizid angekündigt und Anstalten gemacht hatte, aus dem Fenster zu springen. Auf den Inhalt des in den Akten befindlichen Beschlusses wird verwiesen. Mit weiterem Beschluss des Amtsgerichts Landau/Isar vom 7. Juni 2021 (Az. …*) wurde durch einstweilige Anordnung, befristet bis 6. Dezember 2021, die vorläufige Betreuung der Klägerin durch Herrn B., …, als vorläufigen Betreuer (Gesundheitsfürsorge, Aufenthaltsbestimmung) angeordnet und ein Verfahrenspfleger bestellt. Ausweislich des in der Behördenakte befindlichen Betreuerausweises vom 26. November 2021 (Bl. 101) besteht die Betreuung für die Klägerin fort und wurde diese erweitert (Entscheidung über Unterbringung und unterbringungsähnliche Maßnahmen; Vermögenssorge; Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern). Seitens des Zentrum Bayern Familie und Soziales - Region Niederbayern - Versorgungsamt wurde mit Bescheid vom 15. Juni 2020 ein Gesamt-Grad der Behinderung (GdB) von 30 aufgrund eines Einzel-GdBs für eine seelische Störung ab 27. Mai 2020 festgestellt.
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Mit Schreiben vom 22. Juni 2021 beantragte der Bevollmächtigte für die Klägerin und ihre Familie unter Verweis auf die schwerwiegende psychische Erkrankung der Klägerin und der bei ihr bestehenden Suizidgefahr im Falle der Rückkehr oder Abschiebung die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Mit Schreiben vom 13. Juli 2021 hörte die Regierung von Niederbayern - Zentrale Ausländerbehörde Niederbayern - die Klägerin und ihre Familie zur beabsichtigten Antragsablehnung an; besondere und allgemeine Erteilungsvoraussetzungen lägen nicht vor. Am 28. Juli 2021 ließen die Klägerin und ihre Familie beim Verwaltungsgericht Regensburg einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz nach § 123 VwGO gerichtet auf eine Verpflichtung der Zentralen Ausländerbehörde Niederbayern, die Abschiebung der Antragsteller bis zur Entscheidung über den Antrag auf die Erteilung der Aufenthaltserlaubnisse nach § 25 Abs. 5 AufenthG auszusetzen, stellen. Dieser wurde mit Beschluss vom 30. Juli 2021 (RN 9 E 21.1505) rechtskräftig abgelehnt; auf den Inhalt des Beschlusses wird verwiesen. Der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wurde mit Bescheid vom 22. September 2021 abgelehnt.
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Ein Antrag des Bevollmächtigten auf Erteilung einer Ausbildungsduldung gemäß § 60c AufenthG vom 13. Juli 2021 wurde nach vorheriger Anhörung mit Bescheid vom 8. September 2021 abgelehnt.
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Mit Schreiben vom 6. Dezember 2021 beantragte der Bevollmächtigte unter Bezugnahme auf die fachpsychiatrische Stellungnahme des Dr. med. P. vom 16. November 2021 und des fachpsychiatrischen Gutachtens von Frau Dr. B. vom 7. Oktober 2021, der Klägerin und ihrer Familie eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen und die Abschiebemaßnahmen sofort auszusetzen; auf den Inhalt des Schreibens und die beigefügten Unterlagen wird verwiesen. Ebenfalls mit Schreiben vom gleichen Tag beantragte der Betreuer der Klägerin für diese die Erteilung einer Duldung für den Aufenthalt für die Zeit bis Ende 2023 sowie den Umzug der Familie in eine private Wohnung im Landkreis Dingolfing-Landau; der Antrag auf Duldungserteilung wurde mit Schreiben vom 1. Februar 2022 abgelehnt.
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Mit Bescheid vom 1. Februar 2022 lehnte die Regierung von Niederbayern - Zentrale Ausländerbehörde - den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG ab. Die Ablehnung richte sich nach §§ 5, 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG. Die Titelerteilungssperre des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG komme vorliegend nicht zur Anwendung. Bereits die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen gemäß § 5 AufenthG lägen nicht vor. Da die Klägerin Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehe, sei der Lebensunterhalt nicht gesichert (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Zudem erfülle sie nicht die Passpflicht nach § 3 AufenthG (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG). Auch die Voraussetzung des § 5 Abs. 2 AufenthG liege nicht vor, da die Klägerin nicht mit dem erforderlichen Visum eingereist sei. Von der Ungarischen Botschaft in Aserbaidschan sei ein ungarisches Kurzaufenthaltsvisum vom 4. November 2018 bis 12. November 2018 erteilt worden. Ein Absehen von den Erteilungsvoraussetzungen gemäß § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG komme nicht in Betracht, da keine atypische Fallgestaltung vorliege. Eine solche könne vorliegen, wenn die Betroffene wegen der besonderen Umstände ihre Aufenthaltsbegründung typischerweise nicht erfüllen könne. Ein solcher Fall liege nicht vor. Insbesondere werde im Ermessenswege zulasten der Klägerin gewertet, dass von ihr bis zum heutigen Tag keinerlei Dokumente vorgelegt worden seien. Auch seien die besonderen Erteilungsvoraussetzungen des § 25 Abs. 5 AufenthG nicht gegeben. Eine rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise liege nicht vor. Insbesondere seien keine Abschiebungshindernisse gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG gegeben. Mit Bescheid des Bundesamtes vom 3. Dezember 2018 sei festgestellt worden, dass solche nicht vorlägen. Dies sei auch im Klageverfahren durch das Verwaltungsgericht Regensburg bestätigt worden. Im Asylfolgeverfahren habe sich hierzu keine Änderung ergeben. Der Antrag auf Abänderung des Bescheids bezüglich der Feststellungen zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG sei ebenfalls abgelehnt worden. Auch eine tatsächliche Unmöglichkeit der Ausreise sei nicht gegeben, da ein gültiges Reisedokument für die Rückkehr in das Heimatland vorhanden sei. Darüber hinaus sei die Ausreise nach Aserbaidschan in absehbarer Zeit möglich und zumutbar. Zwar habe die Klägerin Atteste vorgelegt, die eine posttraumatische Belastungsstörung, eine rezidivierende depressive Störung, schwere Episode ohne psychotische Symptome bescheinigten. Im vorläufigen Entlassungsbericht vom 16. Juli 2021 vom Bezirksklinikum M* … sei allerdings bescheinigt worden, dass sich die Klägerin von akuter Suizidalität distanziert habe und eine Entlassung in leicht gebessertem Zustand daher möglich gewesen sei. Des Weiteren habe das Bundesamt keine zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisse festgestellt. Die eingereichte fachärztliche Stellungnahme vom 16. November 2021 von Dr. med. P. führe zu keiner geänderten Beurteilung als im Bescheid vom 21. September 2021. Das Bundesamt habe keine zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisse festgestellt, weshalb davon auszugehen sei, dass der Klägerin die Ausreise auch zumutbar sei, insbesondere zusammen mit ihrem Ehemann und der Tochter, die sie dabei unterstützen könnten. Dabei sei insbesondere auch der Antrag vom 13. Juli 2021 auf Erteilung einer Ausbildungsduldung für die Klägerin für eine Ausbildung an der Berufsfachschule für Ernährung und Versorgung in V* … so zu werten, dass sie sich durchaus in der Lage sehe, eine Ausbildung alleine zu absolvieren und dabei ständig die Fahrten von S* … nach V* … auf sich zu nehmen und dem Lerndruck ausgesetzt zu sein. Dann könne aber nicht andererseits argumentiert werden, zu einer Ausreise sei sie aufgrund ihres Gesundheitszustandes nicht in der Lage. Eine freiwillige Ausreise sei daher möglich. Eine Rückführung ins Heimatland sei somit nicht grundsätzlich auszuschließen.
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Hiergegen ließ die Klägerin am 28. Februar 2022 einen Eilantrag (RN 9 E 22.605) stellen, der mit Beschluss vom 14. März 2022 abgelehnt wurde, und vorliegende Klage erheben. Nach Punkt 25.5.0 AVV-AufenthG könne die Ausländerbehörde nach Ermessen von § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG abweichen. Es sei jedoch die atypische Fallgestaltung geprüft worden, welche aber nur in den Fällen der rechtlich gebundenen Entscheidung einschlägig sein würde. Schon darin liege ein Ermessensfehler und der Bescheid sei daher aufzuheben. Eine gesonderte Klagebegründung lag dem Gericht trotz Ankündigung bis zur Entscheidung nicht vor.
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Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 01.02.2022 zu verpflichten, der Klägerin die Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen.
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Der Beklagte beantragt,
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Es werde vollumfänglich auf die Antragserwiderung vom 9. März 2022 und den Beschluss des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 14. März 2022 (RN 9 E 22.605) verwiesen. In der Antragserwiderung wurde ausgeführt, dass die Klägerin mangels Erteilungsvoraussetzungen keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG habe. Da die der Abschiebung entgegenstehenden Gründe (Passlosigkeit) weggefallen seien, besitze die Klägerin seit 14. Juni 2021 keine Duldung mehr; diese sei erloschen gestempelt worden. Da sich die Familie zum Zeitpunkt der Beantragung der Aufenthaltserlaubnisse nicht mehr rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten habe, sondern bereits vollziehbar ausreisepflichtig gewesen sei, löse die Beantragung keine Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG aus. Die besonderen Erteilungsvoraussetzungen nach § 25 Abs. 5 AufenthG lägen nicht vor. Eine freiwillige Ausreise nach Aserbaidschan sei rechtlich und tatsächlich möglich, da die Klägerin transportfähig sei und die für eine fehlende Reisefähigkeit geltend gemachten gesundheitlichen Gründe psychischer Natur seien. Laut dem Entlassbericht des Bezirksklinikums M* … vom 16. Juli 2021 habe die Klägerin an diesem Tag in gebessertem Zustand entlassen werden können und habe sie sich auch von akuter Suizidalität distanziert. Dies werde auch in der fachpsychiatrischen Stellungnahme von Dr. med. P. vom 16. November 2021 bestätigt. Sei die Abschiebung unmöglich, die freiwillige Ausreise aber möglich, komme die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht in Betracht. Vorliegend sei trotz fachärztlicher Stellungnahme davon auszugehen, dass sogar eine Abschiebung mit den bekannten Begleitmaßnahmen (Krankentransport zum Flughafen, Anwesenheit eines Arztes/Facharztes während des Zugriffs, Transportes, am Flughafen und während des Fluges, sowie Inempfangnahme der Antragstellerin im Heimatland durch einen Psychologen/Psychiater mit dem aserbaidschanischen Migrationsdienst und ggf. jederzeitige Sedierung während der Abschiebung) möglich sein werde. Eine Ausreise sei daher möglich. Seitens des Bundesamtes seien keine zur Unmöglichkeit der Ausreise führenden Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG festgestellt worden. § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG sei ebenfalls nicht gegeben, da die Klägerin nur drei Monate aufgrund von Passlosigkeit in Besitz einer Duldung gewesen sei. Mit Zusage von Passersatzpapieren und der Bekanntgabe des Abschiebungstermins am 1. Juni 2021 sei diese aufgrund der auflösenden Bedingung erloschen. Zudem lägen die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 AufenthG nicht vor. Entgegen der Belehrung vom 14. November 2018 hätten die Klägerin und ihre Familie ihre Reisepässe trotz Verpflichtung dazu bis heute nicht ausgehändigt. Sie kämen damit ihrer gesetzlichen Passpflicht nicht nach. Dass Reisepässe vorhanden sein müssten, ergebe sich aus dem Visatreffer; die Familie habe ihre Reisepässe zur Beantragung eines Visums für Ungarn vorgelegt. Dass die Familie ihrer Mitwirkungspflicht nicht nachkomme, könne und werde zu ihren Lasten ausgelegt. Des Weiteren sei der Lebensunterhalt der Familie nicht gesichert und sei diese nicht mit dem erforderlichen Visum in das Bundesgebiet eingereist; die dazu erforderlichen Angaben seien dementsprechend nicht gemacht worden. Von letzterer Voraussetzung sei auch nicht nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG abzusehen, da kein Anspruch auf die Erteilung eines Titels nach § 25 Abs. 5 AufenthG bestehe und zudem die Nachholung eines Visumverfahrens in Aserbaidschan auch möglich und zumutbar sein würde. Da kein atypischer Fall vorliege, komme es hinsichtlich der Erteilungsvoraussetzungen in § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG zu einer Ermessensentscheidung. Das Ermessen sei ausgeübt (Nichtvorlage des Passes bis zum heutigen Tag, keinerlei Vorlage von Identifikationsdokumenten) und zulasten der Klägerin von den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen gerade nicht abgesehen worden.
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Auf den Gerichtsbescheid vom 7. April 2022 ließ die Klägerin am 10. Mai 2022 mündliche Verhandlung beantragen. Mit Beschluss vom 19. Mai 2022 wurde der Rechtsstreit auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen.
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Am 8. Juni 2022 legte die Klägerin persönlich per E-Mail den vorläufigen Entlassungsbericht des Bezirksklinikums M* … vom 16. Juli 2021, den Betreuungsbeschluss des Amtsgerichts Landau a.d. Isar vom 26. November 2021 (Az. …*), das psychiatrische Gutachten von Frau Dr. med. B. vom 7. Oktober 2021, die fachpsychiatrische Stellungnahme des Herrn Dr. med. P. vom 16. November 2021 und vom 25. Februar 2022, ein fachpsychiatrisches Attest ebenfalls von Herrn Dr. med. P. vom 7. Juni 2022 nebst Medikationsplan vom 8. Juni 2022 sowie eine Kostenübernahmezusage betreffend Psychotherapie der AOK Bayern vom 30. Mai 2022 vor. Auf den Inhalt der Unterlagen wird jeweils verwiesen.
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Mit Schreiben vom 10. Juni 2022 begründete der Bevollmächtigte unter erneuter Vorlage des fachpsychiatrischen Attests des Herrn Dr. med. P. vom 7. Juni 2022 die Klage ergänzend dahingehend, dass vorliegend inland- und zielstaatsbezogene Abschiebehindernisse bestünden. Aufgrund ihrer psychischen Erkrankungen sei die Klägerin weiterhin nicht reisefähig, was sich aus dem aktuellen fachärztlichen Attest vom 7. Juni 2022 ergebe. Aufgrund ihrer Erkrankungen sei die Klägerin auch nicht in der Lage, in ihrem Heimatland den eigenen Lebensunterhalt zu sichern und die aus der beigefügten Medikamentenliste ersichtlichen erforderlichen Medikamente zu kaufen.
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Hierzu nahm der Beklagte mit Schreiben vom 15. Juni 2022 Stellung. Der vorläufige Entlassungsbericht des Bezirksklinikums M* … vom 16. Juli 2021 und die fachpsychiatrische Stellungnahme durch Dr. med. P. vom 16. November 2021 seien bereits in den vorausgegangenen Schriftsätzen sowohl zum gegenständlichen Klageverfahren als auch zum Eilverfahren RN 9 E 22.606 (richtig wohl 22.605, Anm. d. G.) gewürdigt worden. Der Betreuungsbeschluss des Amtsgerichts Landau a.d. Isar vom 26. November 2021 sowie das psychiatrische Gutachten von D. med. B. vom 7. Oktober 2021 zur Feststellung der medizinischen Voraussetzungen der Anordnung einer Betreuung seien für die Feststellung einer Reiseunfähigkeit in Hinblick auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG nicht geeignet. Die fachpsychiatrische Stellungnahme durch Dr. med. P. vom 25. Februar 2022 und 7. Juni 2022 lieferten keine neuen Erkenntnisse, insofern werde an den bereits gestellten Anträgen festgehalten und auf die vorausgegangenen Schriftsätze Bezug genommen.
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Am 24. Juni 2022 teilte der Klägerbevollmächtigte mit, dass die Klägerin an der mündlichen Verhandlung nicht teilnehmen könne.
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Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und der vorgelegten Behördenakte sowie das Protokoll zur mündlichen Verhandlung Bezug genommen. Die Gerichtsakte im Verfahren RN 9 E 21.1505 wurde beigezogen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage, über die trotz Ausbleibens der Klägerseite in der mündlichen Verhandlung verhandelt und entschieden werden konnte, ist unbegründet. Der Bescheid der Regierung von Niederbayern vom 1. Februar 2022 erweist sich als rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, da dieser kein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zukommt (§ 113 Abs. 5 VwGO). Zur Vermeidung von Wiederholungen wird zunächst auf die ausführliche Begründung im Eilbeschluss vom 14. März 2022 sowie auf den Gerichtsbescheid vom 7. April 2022 Bezug genommen (vgl. § 117 Abs. 5 VwGO). Weder die mündliche Verhandlung noch die im Vorfeld vorgelegten Unterlagen haben neue Erkenntnisse erbracht, die eine andere Entscheidung rechtfertigen würden.
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Ergänzend ist insofern Folgendes festzustellen: Eine Ausreise der Klägerin erweist sich auch weiterhin nicht als rechtlich unmöglich im Sinne des § 25 Abs. 5 AufenthG.
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1. Soweit der Bevollmächtigte vorbringt, dass die Klägerin aufgrund ihrer Erkrankung zur Sicherung ihres Lebensunterhalts im Heimatland und zum Kauf der erforderlichen Medikamente nicht in der Lage sei, handelt es sich hierbei um zielstaatsbezogene Gründe, die - ihr Bestehen unterstellt - für die vorliegend begehrte Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG ohne Relevanz sind. Eine Anwendung des Abs. 5 auf zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse kommt nur dann in Frage, wenn die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach Abs. 3 i.V.m. § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG wegen Vorliegens eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG nicht möglich ist (AufenthGAVwV Nr. 25.5.1.3.2). In diesen Fällen ist die Ausländerbehörde allerdings an die Feststellungen des Bundesamtes über das Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG gebunden (§ 42 S. 1 AsylG; BeckOK AuslR/Maaßen/Kluth, 33. Ed. 1.4.2022, AufenthG § 25 Rn. 138). Ungeachtet dessen, dass das seitens des Bundesamtes auf 30 Monate befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG nur für den Fall der Abschiebung der Klägerin greifen würde, wurden von diesem Abschiebungshindernisse gerade nicht festgestellt.
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2. Ebenso wenig ist eine Reiseunfähigkeit der Klägerin gegeben.
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Entgegen der klägerischen Ansicht liegt auch weiterhin keine qualifizierte Aussage zur Reise(un) fähigkeit der Klägerin vor. Zwar wurden mit der fachpsychiatrischen Stellungnahme des Herrn Dr. med. P. vom 25. Februar 2022 sowie dessen fachpsychiatrischem Attest vom 7. Juni 2022 nebst Medikationsplan vom 8. Juni 2022 aktuelle Stellungnahmen vorgelegt. Unter nahezu wortgleicher Wiederholung der fachpsychiatrischen Stellungnahme vom 16. November 2021 wird in der fachpsychiatrischen Stellungnahme vom 25. Februar 2022 im Rahmen der aktuellen Beschwerden lediglich ergänzt, dass es sich um eine Verschlechterung des Krankheitszustandes handle, die Klägerin habe sich inadäquat, unruhig verhalten, sie gebe ihre Sachen an andere Menschen ab. Es bestehe die Diagnosen betreffend der dringende Verdacht auf Schizophrenie (ICD-10: F20.0). Im fachpsychiatrischen Attest vom 7. Juni 2022 werden die beiden Stellungnahmen im Rahmen der aktuellen Beschwerden in Teilen wortgleich wiederholt. Demnach hätte die Klägerin Todesgedanken, würde aber für ihre Tochter weiterleben wollen. Sie distanziere sich von der akuten Suizidalität. Im Rahmen der Diagnosen werden wie bereits in den beiden fachpsychiatrischen Stellungnahmen posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F43.1) begleitet von Zwangshandlungen (Wasch- und Putzzwang) (F42.8) sowie schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen (ICD-10:F32.3) wiederholt. Der erstmals in der fachpsychiatrischen Stellungnahme vom 25. Februar 2022 angegebene dringende Verdacht auf Schizophrenie findet sich hingegen nicht mehr. Zur Behandlung werden Venlafaxin 150 RET 1A PHAR „1-0-0“, Quetiapin 1A Pharma 300mg FTA „0-0-1“, Risperidon 1A Pharma 2mg FTA „0-0-0-1“, Promethazin-Neurax 25mg FTA „0-0-0-1“ und Tavor 0,5 TAB „Dj“ - bei starken Ängsten angegeben. Im Rahmen der abschließenden Beurteilung wird erneut ausgeführt, dass die Klägerin weiterhin als schwer psychisch krank und dringend behandlungsbedürftig charakterisiert werden könne. Des weiteren werde Verhaltenspsychotherapie mit ca. 50 Minuten alle ein bis zwei Wochen durchgeführt. Aufgrund der Schwere der psychischen Störung sei die Klägerin aus fachpsychiatrischer und psychotherapeutischer Sicht weiterhin nicht reisefähig.
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Weder aus der fachpsychiatrischen Stellungnahme noch aus dem fachpsychiatrischen Attest ergibt sich eine akute Suizidalität der Klägerin.
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Wiederum genügt weder die Stellungnahme noch das Attest den Anforderungen des § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG, die auf die Substantiierung der Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 AufenthG betreffende Geltendmachung der Unmöglichkeit einer Ausreise der Klägerin zu übertragen sind (vgl. BayVGH, B.v. 10.6.2021 - 19 ZB 20.107, BeckRS 2021, 15860). So wird zwar eine Diagnose gestellt und erfolgt eine Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Benennung der aktuellen Medikation. Gleichwohl wird nicht ersichtlich, auf welcher Grundlage der Unterzeichner zu diesen Feststellungen gelangt ist, insbesondere ob und wie oft eine eigene Untersuchung, Befragung und Behandlung der Klägerin erfolgt sind. Auch warum und inwiefern Dr. med. P. zu einer Verneinung der Reisefähigkeit der Klägerin gelangt, erschließt sich nicht. Der bloße Hinweis, dass eine solche „aufgrund der Schwere der psychischen Störung“ fehle, reicht insofern nicht aus. Ein Attest, dem nicht zu entnehmen ist, wie es zu den prognostizierten Folgerungen kommt und welche Tatsachen dieser Einschätzung zugrunde liegen, ist nicht geeignet, das Vorliegen eines Abschiebungsverbots wegen Reiseunfähigkeit zu begründen (vgl. BayVGH, B.v. 11.4.2017 - 10 CE 17.349 - juris Rn. 19; B.v. 5.1.2017 - 10 CE 17.30 - juris Rn. 7; B.v. 10.6.2021 - 19 ZB 20.107, BeckRS 2021, 15860 Rn. 9, beck-online). Mithin wurde das Bestehen eines ernsthaften Risikos, dass sich unmittelbar durch die Umstände der Reise der Gesundheitszustand der Klägerin lebensbedrohlich oder irreparabel wesentlich verschlechtert, nicht dargetan. Hierzu in Widerspruch steht überdies der Umstand, dass Dr. med. P., der die Klägerin regelmäßig behandelt haben und noch immer regelmäßig behandeln will, seine Praxis in K* … hat. Inwiefern der Klägerin eine mehrstündige und regelmäßige Anfahrt nach K* … möglich, eine einmalige Reise nach Aserbaidschan hingegen unmöglich sein soll, ist insofern nach wie vor nicht nachvollziehbar. Zudem geht aus den sonstigen bislang vorgelegten Unterlagen - unabhängig von der Frage, ob insoweit den Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG genügt wird - hervor, dass sich die für die Klägerin ergebende Suizidgefahr lediglich für den Fall der zwangsweisen Ausreise, sprich der Abschiebung, stellen würde. Mithin ist der Klägerin eine freiwillige Ausreise möglich, der Tatbestand des § 25 Abs. 5 AufenthG somit nicht erfüllt. Zumutbarkeitserwägungen sind im Rahmen dieser Norm ohne Belang (BeckOK AuslR/Maaßen/Kluth, 33. Ed. 1.4.2022, AufenthG § 25 Rn. 139).
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Danach war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
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Vorläufige Vollstreckbarkeit: § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.