Inhalt

OLG München, Beschluss v. 01.02.2022 – 2 Ws 981/21
Titel:

Nachträgliche Änderung der Vollzugsreihenfolge bei Ausreiseverpflichtung

Normenkette:
StGB § 64, § 67 Abs. 2 S. 4, Abs. 3 S. 2
Leitsätze:
1. Die Vorschrift des § 67 Abs. 3 S. 2 StGB ermöglicht die nachträgliche Änderung in der Vollzugsreihenfolge aufgrund von Umständen, die nach Rechtskraft des Urteils eingetreten sind. Trotz der Fassung als „Kann-Regelung“ wird dem Gericht kein über § 67 Abs. 2 S. 4 StGB hinausgehendes Ermessen eingeräumt. Dem Gericht verbleibt ein gebundenes Ermessen, bei dem ein Abweichen von der gesetzlichen Regelung nur in besonders begründeten Ausnahmefällen möglich ist. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine solche Ausnahme stellt eine unmittelbare gesundheitliche Gefahr für den Verurteilten dar. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Unterbringung, Reihenfolge, Vollstreckung, Anordnung, nachträglich, gesundheitliche Gefahr
Vorinstanzen:
LG Augsburg, Beschluss vom 24.06.2021 – 2 NöStVK 377/21
LG München I, Urteil vom 18.12.2020 – 29 KLs 374 Js 217113/19
Fundstelle:
BeckRS 2022, 31797

Tenor

I. Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft München I wird der Beschluss der Auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Augsburg beim Amtsgericht Nördlingen vom 24. Juni 2021 aufgehoben.
II. Die mit Urteil des Landgerichts München I vom 18. Dezember 2020 - Az. 29 KLs 374 Js 217113/19 - verhängte Gesamtfreiheitsstrafe ist vor der daneben angeordneten Maßregel nach § 64 StGB zu vollziehen.
III. Der Verurteilte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

I.
1
Der Verurteilte wurde mit Urteil des Landgerichts München I vom 18.12.2020 wegen bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 2 tatmehrheitlichen Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 6 Jahren 10 Monaten verurteilt. Daneben wurde die Unterbringung des Verurteilten in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB und der Vorwegvollzug von 1 Jahr 5 Monaten der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe angeordnet. Das Urteil ist seit 29.12.2020 rechtskräftig. Zu den persönlichen Verhältnissen des Verurteilten stellte das Landgericht im Urteil fest (S. 20), dass der Angeklagte mit einem Touristenvisum nach Deutschland eingereist und zum Urteilszeitpunkt nicht vollziehbar zur Ausreise aus Deutschland verpflichtet war.
2
Mit Bescheid der Landeshauptstadt M. - Kreisverwaltungsreferat - vom 23.03.2021 wurde der Verurteilte aus der Landeshauptstadt M. ausgewiesen und gegen ihn für die Dauer von 8 Jahren ein Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen. Daneben wurde dem Verurteilten die Abschiebung angedroht. Der Verurteilte ist gemäß § 58 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG vollziehbar ausreisepflichtig.
3
Nach Anrechnung von 377 Tagen Untersuchungshaft verbüßte der Verurteilte zunächst ab dem 29.12.2020 den vorab zu vollstreckenden Teil der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe, seit 25.02.2021 in der JVA K.. Am 17.05.2021 wurde der Verurteilte zur Vollstreckung der Maßregel in das Bezirkskrankenhaus K1. verlegt.
4
Die Staatsanwaltschaft München I hat mit Verfügung vom 21.04.2021, bei der Auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Augsburg beim Amtsgericht Nördlingen eingegangen am 30.04.2021, gemäß § 67 Abs. 2 Satz 4 StGB den Vorwegvollzug der Freiheitsstrafe beantragt. Mit Verfügung vom 21.05.2021 hat die Staatsanwaltschaft den Antrag nach Aufforderung durch die Strafvollstreckungskammer begründet.
5
Mit Beschluss vom 24.06.2021, der Staatsanwaltschaft München I zugestellt am 02.07.2021, hat die Auswärtige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Augsburg beim Amtsgericht Nördlingen den Antrag der Staatsanwaltschaft vom 21.04.2021 zurückgewiesen. Die Strafvollstreckungskammer hat dazu ausgeführt, dass § 67 Abs. 2 S. 4 StGB als Soll-Vorschrift die Strafvollstreckungskammer nicht ermächtige, eine vom erkennenden Gericht vorgenommene Vollstreckungsreihenfolge abzuändern, wenn sich abgesehen von dem Umstand der Ausreiseverpflichtung nichts an den tatsächlichen Verhältnissen geändert habe.
6
Gegen den Beschluss wendet sich die Staatsanwaltschaft München I mit Schreiben vom 05.07.2021, bei der Strafvollstreckungskammer eingegangen am 07.07.2021.
7
Die nunmehr zuständige Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Kempten hat mit Beschluss vom 16.11.2021 (Gz. 2 StVK 1167/21) die Fortdauer der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Hierzu hat das Bezirkskrankenhaus K. in einer Stellungnahme vom 29.09.2021 mitgeteilt, dass der Verurteilte eine formale Anpassung zeige, aufgrund der fehlenden Deutschkenntnisse eine Integration in die Patientengemeinschaft bislang nicht gelungen sei, er vielmehr lediglich mit Mitpatienten Umgang pflege, die seiner Sprache mächtig sind. Seine fehlenden Sprachkenntnisse stellten eine Behandlungsgrenze dar.
8
Die Staatsanwaltschaft München I hat mit Verfügung vom 21.12.2021 über die Generalstaatsanwaltschaft München dem Oberlandesgericht am 30.12.2021 die Sache zur Entscheidung vorgelegt. Mit Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft München vom 28.12.2021 wurde der Verurteilte zur sofortigen Beschwerde der Staatsanwaltschaft mit Gelegenheit zur Stellungnahme unter Fristsetzung angehört. Der Verurteilte hat selbst mit Schreiben vom 03.01.2022, eingegangen am 12.01.2022, Stellung genommen. Die Stellungnahme seines Verteidigers vom 27.01.2022 ging am 28.01.2022 bei Gericht ein.
II.
9
Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft München I ist gem. §§ 463 Abs. 6 S. 1, 462 Abs. 3 S. 1 StPO statthaft und auch sonst zulässig, §§ 306 Abs. 1, 311 Abs. 2 StPO.
10
Sie hat auch in der Sache Erfolg. Die Anordnung des Vorwegvollzugs richtet sich vorliegend nach § 67 Abs. 3 Satz 2 StGB. Die sowohl von Staatsanwaltschaft als auch von der Strafvollstreckungskammer angewandte Vorschrift des § 67 Abs. 2 Satz 4 StGB richtet sich an die erkennenden Gerichte, die hierauf beruhenden Entscheidungen sind gegebenenfalls mit dem Urteil anzufechten.
11
Die Vorschrift des § 67 Abs. 3 S. 2 StGB ermöglicht die nachträgliche Änderung in der Vollzugsreihenfolge aufgrund von Umständen, die nach Rechtskraft des Urteils eingetreten sind (BT-Drs. 16/1110, S. 15; MüKoStGB/Maier, 4. Aufl. 2020, StGB § 67 Rn. 103, Fischer, StGB, 69. Aufl. 2022, § 67, Rn 19). Trotz der Formulierung als „Kann-Regelung“ wird dem Gericht kein über § 67 Abs. 2 S. 4 StGB hinausgehendes Ermessen eingeräumt (Schönke/Schröder/Kinzig, 30. Aufl. 2019, StGB § 67 Rn. 25; Fischer aaO). Dem Gericht verbleibt demnach ein gebundenes Ermessen, bei dem ein Abweichen von der gesetzlichen Regelung nur in besonders begründeten Ausnahmefällen möglich ist.
12
Bei der Vorschrift ist dabei in den Blick zu nehmen, dass die mit Gesetz zur Sicherung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt vom 16.07.2007 eingeführten Änderungen in § 67 StGB auch zum Ziel hatten, für eine Entlastung der Suchtkliniken und für die Sicherung des Therapieerfolgs zu sorgen. Der Gesetzgeber sah den Vollzug der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt neben der Strafe zur Besserung des Täters im Hinblick auf die Gewährleistung der Sicherheit der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland nicht als erforderlich an, wenn ohnehin aufenthaltsbeendigende Maßnahmen anstehen. (BT-Drs 16/1110, S. 11). Der Gesetzgeber hatte dabei gerade die Gruppe der drogenabhängigen durchreisenden Betäubungsmitteltäter im Blick (BT-Drs 16/1110, S. 14/15), zu der der Verurteilte zu zählen ist. Ausweislich der Urteilsfeststellungen (S. 23) reiste der Verurteilte am 15.11.2019 mit einem Touristenvisum zum Zwecke des Betäubungsmittelhandels nach Deutschland ein. Seine Familien lebt in A., wo er auch bis zu seiner Festnahme seinen Lebensmittelpunkt hatte, und der Verurteilte möchte nach der Haftverbüßung dorthin zurückkehren (Urteil S. 20, Stellungnahme des BKH K. vom 29.09.2021, S. 2).
13
Die gesetzlichen Voraussetzungen des § 67 Abs. 3 S. 2, Abs. 2 S. 4 StGB liegen vor. Nachdem diese erst nach Rechtskraft des Urteils von 18.12.2020 eingetreten sind, war das erkennende Gericht an der Änderung der Vollstreckungsreihenfolge nach § 67 Abs. 2 S. 3 StGB im Urteil gehindert (vgl. Urteil S. 62). Sie ist mithin im Strafvollstreckungsverfahren nachzuholen. Die von der Strafvollstreckungskammer angenommene Bindung an die Entscheidung des erkennenden Gerichts besteht aus diesen Gründen gerade nicht. Eine begründete Ausnahme von dieser Soll-Regelung ist nicht ersichtlich und wird von der Strafvollstreckungskammer in der angefochtenen Entscheidung auch nicht genannt. Eine solche Ausnahme wäre etwa eine unmittelbare gesundheitliche Gefahr für den Verurteilten (BT-Drs. 16/1110, S. 15). Es ist aber - entgegen der Behauptung des Verteidigers - nicht ersichtlich, dass ein Abbruch der Therapie zu einer gesundheitlichen Gefahr für den Verurteilten führen würde. Für die pauschale Annahme der Strafvollstreckungskammer, eine Ausreiseverpflichtung besage nichts über die tatsächliche Ausreise des Verurteilten, fehlt es angesichts des festgestellten Ausreisewillens des Verurteilten an tatsächlichen Anhaltspunkten. Praktische Defizite in der Umsetzung ausländerrechtlicher Ausreiseverpflichtungen dürfen zudem nicht dazu führen, die knappe Ressource der Therapieplätze solchen Tätergruppen zuzuweisen, die keine Aussicht auf einen legalen Aufenthalt im Bundesgebiet haben und deren Therapie zudem - wie auch vorliegend - durch fehlende Deutschkenntnisse (Stellungnahme des BKH K. S. 5 ff.) und eingeschränkte Möglichkeiten der Lockerung erschwert ist (BT-Drs. 16/110, S. 15). An dieser Beurteilung ändert auch die Tatsache nichts, dass sich der Verurteilte seit dem 17.05.2021 im Maßregelvollzug befindet. Der oben dargestellte Zweck der Vorschrift des § 67 Abs. 3 S. 2 StGB der Entlastung der Suchtkliniken trifft auf den hiesigen Fall eines schon begonnenen Vollzugs der Maßregel genauso zu wie auf den Fall, in dem der Betroffene sich noch im Vorwegvollzug der Strafhaft befindet. Allein die Tatsache, dass zwischen dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf Abänderung der Vollstreckungsreihenfolge bis zur Vorlage der sofortigen Beschwerde über sieben Monate lagen, vermag die Rechtsposition des Verurteilten nicht zu beeinflussen.
14
Die hilfsweisen Ausführungen des Verteidigers zu fehlenden Mitteilungen an die Verteidigung im Vollstreckungsverfahren gehen an der Sache vorbei. Denn es liegt schon kein Fall der notwendigen Verteidigung vor. Die Beiordnung eines Verteidigers im Vollstreckungsverfahren ist gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt. In entsprechender Anwendung von § 140 Abs. 2 Satz 1 StPO ist dem Verurteilten ein Verteidiger zu bestellen, wenn die Sach- oder Rechtslage schwierig ist oder Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Verurteilte seine Rechte nicht selbst wahrnehmen kann. Die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage bemisst sich dabei nicht nach der Schwere der Tatvorwürfe oder der Schwierigkeit der Sache im Erkenntnisverfahren, sondern nach der Schwere des Vollstreckungsfalles für den Verurteilten oder besonderen Schwierigkeiten der Sach- und Rechtslage im Vollstreckungsverfahren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass im Vollstreckungsverfahren in weitaus geringerem Maße als im kontradiktorisch ausgestalteten Erkenntnisverfahren ein Bedürfnis nach Mitwirkung eines Verteidigers auf Seiten des Verurteilten besteht (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 03.03.2010 - 2 Ws 126/10, NStZ-RR 2010, 326 m.w.N.). Bei der hier zu beantwortenden Frage der Umkehrung des Vorwegvollzugs nach § 67 Abs. 3 S. 2 StGB stehen weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht schwierige Probleme inmitten. Insbesondere sind keine Sachverständigengutachten zu erholen. Darüber hinaus war der Verurteilte im Verfahren über die sofortige Beschwerde anwaltlich vertreten, so dass die Geltendmachung seiner Interessen gewährleistet war.
15
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 465 StPO analog.