Inhalt

OLG München, Beschluss v. 24.02.2022 – 2 Ws 97/22
Titel:

Zur Anfechtbarkeit von Terminsverfügungen in Strafsachen.

Normenkette:
StPO § 305, § 397 Abs. 2, § 397a Abs. 1, § 398, § 473 Abs. 1
Leitsätze:
1. Zwar unterliegen nach § 305 S. 1 StPO Entscheidungen der erkennenden Gerichte, die der Urteilsfällung vorausgehen, insbesondere auch Terminverfügungen, nicht der Beschwerde und sind damit bereits unstatthaft. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie der hM ist die Beschwerde jedoch gleichwohl dann statthaft, wenn der Betroffene geltend macht, die Terminsanordnung sei rechtswidrig, weil das Gericht das ihm zustehende Ermessen fehlerhaft ausgeübt habe und in dieser fehlerhaften Ausübung eine besondere, selbständige Beschwer liege. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Beschwerde gegen eine Terminsverlegung kann in der Sache nur dann Erfolg haben, wenn der Vorsitzende bei der Terminierung bzw. der Ablehnung eines Verlegungsantrags sein Ermessen gar nicht oder fehlerhaft ausgeübt hat, seine Entscheidung deswegen rechtswidrig und der Beschwerdeführer hierdurch beschwert ist. Im Rahmen der vom Vorsitzenden zu treffenden Ermessensentscheidung müssen aber alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt und gegeneinander abgewogen werden.  (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei der Abwägung ist gerade die Vorschrift des § 398 StPO zu berücksichtigen. Insbesondere aus dessen Abs. 2 ist abzuleiten, dass gerichtliche Termine auch durchgeführt werden können, wenn der Nebenkläger oder sein Verfahrensbevollmächtigter aus triftigen Gründen verhindert sind. Grund dafür ist, dass der Nebenkläger, anders als der Angeklagte oder die Staatsanwaltschaft, nicht zur Teilnahme an der Hauptverhandlung verpflichtet ist, sondern lediglich ein Recht zur Anwesenheit hat und auch im Übrigen nicht mit derart weitreichenden Verfahrensrechten ausgestattet ist wie ein Angeklagter. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Beschwerde, Jugendstrafrecht, Terminsverfügung, Ermessensentscheidung, Hauptverhandlung, Anwesenheitspflicht
Vorinstanz:
LG München I vom 08.02.2022 – 1 J Ns 461 Js 167710/20
Fundstelle:
BeckRS 2022, 31792

Tenor

I. Die Beschwerde der Nebenklägerin M. K. gegen die Verfügung des Landgerichts München I vom 08.02.2022 wird als unbegründet verworfen.
II. Die Nebenklägerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.
1
Die Staatsanwaltschaft München I führt gegen den Angeklagten ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des verbotenen Kraftfahrzeugrennens, der fahrlässigen Gefährdung des Straßenverkehrs sowie der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Körperverletzung in zwei Fällen. Der Angeklagte steht im Verdacht, am 16.09.2019 gegen 2.50 Uhr auf der Bundesstraße ... bei einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h mit einer Geschwindigkeit von mindestens 125 km/h bei Rotlicht in die Kreuzung mit der M. Straße eingefahren zu sein, wo es zur Kollision mit dem die Kreuzung überquerenden PKW des Nebenklägers M. kam. Dessen Beifahrer, der Geschädigte K. wurde durch den Aufprall aus dem Fahrzeug geschleudert und erlag noch am Unfallort seinen schweren Verletzungen. Die Staatsanwaltschaft hat unter dem 11.02.2021 Anklage zum Amtsgericht München - Jugendschöffengericht - erhoben. Die Mutter des Verstorbenen hat sich dem Verfahren als Nebenklägerin angeschlossen; sie wird von Rechtsanwalt Dr. A. vertreten, der ihr mit Beschluss vom 07.06.2021 beigeordnet wurde.
2
Mit Urteil vom 23.07.2021 verurteilte das Amtsgericht den Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung, fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs und fahrlässiger Körperverletzung zur Jugendstrafe von 2 Jahren 6 Monaten.
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Gegen dieses Urteil haben der Verteidiger und die Staatsanwaltschaft Berufung, der Nebenklägervertreter Revision eingelegt.
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Der Vorsitzende der Jugendkammer des Landgerichts München I bestimmte mit Verfügung vom 27.10.2021 zwei Termine zur Durchführung der Berufungshauptverhandlung auf den 07. und 08.02.2022. Mit Schriftsatz vom 28.01.2022 übersandte der Verteidiger des Angeklagten ein ärztliches Attest vom 27.01.2022, demzufolge der in B. wohnhafte Angeklagte aufgrund einer für die „nächste Woche vorgesehenen“ Operation „für die Dauer von 14 Tagen nicht reisefähig“ sei. Mit Verfügung vom 01.02.2022 hob der Vorsitzende die beiden vorgenannten Termine auf und bestimmte nunmehr vier Termine zur Durchführung der Berufungshauptverhandlung auf den 07. und 11.03. sowie den 01. und 04.04.2022.
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Mit Schriftsatz vom 07.02.2022 teilte der Nebenklägervertreter mit, dass er am 07.03.2022 aufgrund einer anderweitigen Verhandlung am Amtsgericht Leipzig und am 01. und 04.04.2022 aufgrund urlaubsbedingter Abwesenheit verhindert sei und beantragte, die Termine aufzuheben. Mit Verfügung vom 08.02.2022 lehnte der Vorsitzende diesen Antrag ab und begründete dies u.a. damit, dass im Falle der Absetzung der genannten Termine aufgrund der terminlichen Auslastung der Kammer die Hauptverhandlung nicht vor Herbst 2022 durchgeführt werden könne; dies aber sei weder mit dem Beschleunigungsgebot noch jugendstrafrechtlichen Grundsätzen vereinbar.
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Gegen diese Verfügung legte der Nebenklägervertreter namens und im Auftrag der Nebenklägerin Rechtsmittel ein, welche der Vorsitzende als Beschwerde auslegte, der er mit Verfügung vom 15.02.2022 nicht abhalf.
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Mit Schriftsatz vom 21.02.2022 machte der Nebenklägervertreter ergänzende Ausführungen.
II.
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Das Rechtsmittel ist zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet.
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1. Die Beschwerde ist zulässig.
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a) Zwar unterliegen nach § 305 S.1 StPO Entscheidungen der erkennenden Gerichte, die der Urteilsfällung vorausgehen, nicht der Beschwerde und sind damit bereits unstatthaft. Darunter fallen insbesondere die Terminsverfügungen des Vorsitzenden sowie seine Entscheidungen auf Anträge von Verfahrensbeteiligten, die auf die Aufhebung oder Verlegung von Terminen gerichtet sind.
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b) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG NStZ-RR 2021/19, BVerfG BeckRS 2020, 3985) sowie der wohl h.M. in Rspr. und Lit. (vgl. statt weiterer OLG München NStZ 2020/503 und NStZ 1994/451, OLG Frankfurt BeckRS 2000, 12777; KK-Gmel, StPO, 8. Aufl. 2019, Rn.6 zu § 213; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. 2021, Rn. 8 zu § 213; a.A. MüKo-Arnoldi, StPO, 1. Aufl. 2016, Rn. 16 zu § 213) ist die Beschwerde jedoch gleichwohl dann statthaft, wenn der Betroffene geltend macht, die Terminsanordnung sei rechtswidrig, weil das Gericht das ihm zustehende Ermessen fehlerhaft ausgeübt habe und in dieser fehlerhaften Ausübung eine besondere, selbständige Beschwer liege.
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Ebendies lässt die Nebenklägerin hier vortragen:
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Die Ablehnung der Terminsverlegung sei bereits willkürlich, weil der Vorsitzende weder vor der Terminierung noch auf den Verlegungsantrag hin versucht habe, Hauptverhandlungstermine mit dem Nebenklägervertreter abzustimmen. Sollte er dies mit dem Verteidiger getan haben, käme hierin eine gesetzlich nicht vorgesehene Abwertung der Nebenklage zum Ausdruck. Zudem sei die Kammer offenbar überlastet, was mit dem Beschleunigungsgebot unvereinbar sei.
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2. Das zulässige Rechtsmittel ist nicht begründet.
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Die Beschwerde könnte in der Sache nur dann Erfolg haben, wenn der Vorsitzende bei der Terminierung bzw. der Ablehnung des Verlegungsantrags des Nebenklägervertreters sein Ermessen gar nicht oder fehlerhaft ausgeübt hätte, seine Entscheidung deswegen rechtswidrig wäre und die Nebenklägerin hierdurch beschwert wäre. Dies ist jedoch nicht der Fall.
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Im Rahmen der vom Vorsitzenden zu treffenden Ermessensentscheidung müssen alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt und gegeneinander abgewogen werden (BVerfG NStZ-RR 2021/19).
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Das Recht der Nebenklägerin, sich nach § 397 Abs. 2 S.1 StPO des Beistands eines Rechtsanwalts zu bedienen, und dessen Recht zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung (§ 397 Abs, 2 S.2 StPO) sind solche wesentlichen Umstände. Zu berücksichtigen ist hierbei insbesondere, dass die Nebenklägerin eines Rechtsbeistandes bedürfen wird, um ihre in § 397 Abs. 1 S. 3 und 4 StPO genannten Verfahrensrechte effektiv wahrnehmen zu können. Dies gilt umso mehr, als die Nebenklägerin vorliegend nach § 397 a Abs. 1 Nr. 2 StPO zur Bestellung eines Rechtsbeistandes berechtigt ist, was auch bereits geschehen ist.
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Dem gegenüber steht jedoch der Anspruch des Angeklagten auf eine gerichtliche Entscheidung über seine Schuld binnen angemessener Zeit. Dieser Anspruch gewinnt im Verfahren gegen Jugendliche nochmals eine gesteigerte Bedeutung: nach Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2016/800 des europäischen Parlaments und des Rates vom 11.05.2016 sind Strafverfahren, an denen Kinder beteiligt sind, mit Vorrang zu bearbeiten; zwar findet die Richtlinie selbst nur auf Verdächtige und Beschuldigte unter 18 Jahren Anwendung (Art. 3 Nr. 1). Jedoch sind nach § 105 JGG die wesentlichen für Jugendliche geltenden Vorschriften auch im Verfahren gegen Heranwachsende anwendbar; insbesondere hat das Amtsgericht im erstinstanzlichen Verfahren gegen den Angeklagten aufgrund „deutlicher Reifeverzögerungen“ Jugendrecht angewandt.
19
Aus dem Bericht der Jugendgerichtshilfe vom 19.03.2021 ergibt sich, dass sich der Angeklagte „seit Dezember 2020 … in psychologischer Behandlung“ befindet und „ihm die anstehende Verhandlung Angst“ bereite. Aus dem Entlassungsbericht des Fachkrankenhauses für psychosomatische Medizin W. vom 25.10.2021 ergibt sich weiter, dass der Angeklagte sich dort unter den Diagnosen einer Panikstörung (i.S.d. ICD-10:F41.0) und einer Anpassungsstörung (i.S.d. ICD-10:F43.2) zwischen dem 26.09.2021 und dem 24.10.2021 in stationärer Behandlung befand. In der Anamnese wird geschildert, dass er „vor zwei Jahren einen Autounfall verursacht habe“, bei dem ein Mensch ums Leben gekommen sei. Er sei deswegen verurteilt worden, jedoch „ziehe sich die Gerichtsverhandlung bis heute weiter“; er habe „seit dieser Zeit … immer wieder Panikattacken“. Daraus wird deutlich, dass - über den allgemeinen jugendstrafrechtlichen Grundsatz der beschleunigten Verfahrensführung hinaus - auch im konkreten Fall die zeitnahe Durchführung der Berufungshauptverhandlung gegen den Angeklagten dringend geboten ist.
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Darüber hinaus ist die Vorschrift des § 398 StPO zu berücksichtigen. Insbesondere aus dessen Abs. 2 ist abzuleiten, dass gerichtliche Termine auch durchgeführt werden können, wenn der Nebenkläger oder sein Verfahrensbevollmächtigter aus triftigen Gründen verhindert sind (OLG Stuttgart vom 21.08.2003 - 1 Ws 232/03; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO., Rn. 3 zu § 398). Diese gesetzgeberische Wertung hat ihren Grund darin, dass der Nebenkläger, anders als etwa der Angeklagte oder die Staatsanwaltschaft, nicht zur Teilnahme an der Hauptverhandlung verpflichtet ist, sondern lediglich ein Recht zur Anwesenheit hat. Auch darüber hinaus ist er nicht mit derart weitreichenden Verfahrensrechten ausgestattet wie etwa ein Angeklagter.
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Schließlich ist in den Blick zu nehmen, dass die Kammer ausweislich der Begründung zu der Verfügung vom 08.02.2022 kurzfristig keine (weiteren) freien Termine anzubieten vermag. Dies ist, wie sich (nicht nur) aus der Nichtabhilfeentscheidung vom 15.02.2022 ergibt, jedoch nicht einer strukturellen Überlastung geschuldet. Vielmehr ist die Kammer lediglich bis Ende Juni mit Terminen ausgelastet. In dem Zeitraum bis dahin fallen mit den Faschings-, den Oster- und den Pfingstferien insgesamt fünf (Schul-) Ferienwochen, die, um den gesetzlichen Urlaubsansprüchen nicht nur der Kammermitglieder Genüge zu tun, für Sitzungen u.U. nicht zur Verfügung stehen; gerade der Nebenklägervertreter selbst macht ja für sich für zwei der vier in Aussicht genommenen Termine eine urlaubsbedingte Abwesenheit geltend. Ebenso zutreffend weist die Kammer darauf hin, dass für die Terminierung einer mehrtägigen Hauptverhandlung auch die gesetzlichen Unterbrechungsfristen Berücksichtigung finden müssen.
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Alle diese Umstände hat der Vorsitzende ausweislich der Verfügung vom 08.02.2022 und seiner Nichtabhilfeentscheidung vom 15.02.2022 bedacht und in die gebotene Abwägung miteinbezogen. Im Ergebnis zu Recht hat er in Ansehung der angespannten Terminssituation der Kammer dem Anspruch des (zur Tatzeit noch heranwachsenden) Angeklagten auf zeitgerechte gerichtliche Entscheidung den Vorzug gegenüber dem Interesse der Nebenklägerin, sich an allen in Aussicht genommenen Hauptverhandlungsterminen von dem ihr beigeordneten anwaltlichen Beistand vertreten zu lassen, gegeben. Ein Fehlgebrauch des Ermessens ist deswegen nicht erkennbar, so dass die Verfügung vom 08.02.2022, durch die der Verlegungsantrag des Nebenklägervertreters abgelehnt wurde, ebenso rechtmäßig ist wie die diese bestätigende Nichtabhilfeentscheidung von 15.02.2022.
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3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 473 Abs. 1 StPO.