Titel:
Anfechtung von Haftentscheidungen
Normenkette:
StPO § 112, § 114, § 117 Abs. 2 S. 1, § 304 Abs. 1
Leitsätze:
1. Der grundsätzliche Vorrang des Haftprüfungsverfahrens gilt auch für die weitere (Haft-)Beschwerde. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
2. Von mehreren denselben Gegenstand betreffenden Haftentscheidungen unterliegt nur die jeweils letzte Entscheidung der Anfechtung. Handelt es sich dabei um eine auf mündliche Haftprüfung ergangene Entscheidung, ist eine weitere Beschwerde gegen eine zuvor auf eine Haftbeschwerde ergangene Entscheidung gegenstandslos (vgl. OLG Oldenburg BeckRS 2020, 32867). (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Untersuchungshaft, Haftbefehl, Haftbeschwerde, Haftprüfung, Anfechtbarkeit, letzte Entscheidung
Vorinstanzen:
LG München I, Beschluss vom 04.01.2022 – 26 Qs 67/21
AG München vom 07.12.2021 – 823 Ls 258 Js 119294/19
Fundstelle:
BeckRS 2022, 31786
Tenor
I. Die weitere Beschwerde des Angeklagten E. gegen den Beschluss des Landgerichts München I vom 04.01.2022 hat sich erledigt.
II. Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst.
Gründe
1
Gegen den Angeklagten findet vor dem Amtsgericht München ein Strafverfahren wegen Betrugs statt. Zum Hauptverhandlungstermin am 13.09.2021 erschien der Angeklagte ohne genügende Entschuldigung nicht. Trotz Ladung mit Zustellungsurkunde bereits am 28.07.2021 hatte der Angeklagte seinen Jahresurlaub angetreten. Im Termin vom 13.09.2021 erließ das Amtsgericht München einen Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO. Der für den 06.12.2021 vorgesehen Hauptverhandlungstermin musste sodann abgesetzt werden, weil der Aufenthaltsort des Angeklagten bis zum 01.12.2021 nicht ermittelt werden konnte. Am 07.12.2021 erging deswegen gegen den Angeklagten Haftbefehl gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO. Nach Fahndungsmaßnahmen konnte der Angeklagte schließlich am 22.12.2021 festgenommen werden. Der Haftbefehl vom 07.12.2021 wurde dem Angeklagten am Tag der Festnahme eröffnet und in Vollzug gesetzt. Seither befindet sich der Angeklagte in Untersuchungshaft.
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Mit Schriftsatz vom 22.12.2021 legte der Pflichtverteidiger Rechtsanwalt H. Haftbeschwerde ein. Der Haftbeschwerde hat das Amtsgericht München mit Beschluss vom 23.12.2021, berichtigt durch Beschluss vom 27.12.2021, nicht abgeholfen.
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Mit Schriftsatz vom 28.12.2021, beim Amtsgericht München eingegangen am selben Tag, stellte der Wahlverteidiger Rechtsanwalt S. den Antrag, den Haftbefehl gegen Meldeauflagen außer Vollzug zu setzen. Mit einem weiteren Schreiben vom selben Tag nahm der Wahlverteidiger die Beschwerde zurück und stellte namens seines Mandanten Haftprüfungsantrag.
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Die Akten wurden dem Landgericht München I auf Vermittlung der Staatsanwaltschaft M. I am 29.12.2021 vorgelegt. Mit dem Beschluss vom 04.01.2022 hat das Landgericht München I die Beschwerde des Angeklagten gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts München vom 07.12.2021 als unbegründet verworfen.
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Mit Schriftsatz seines Wahlverteidigers vom 04.01.2022 legte der Angeklagte gegen den Beschluss des Landgerichts München I vom 04.01.2022 weitere Beschwerde ein. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Beschluss des Landgerichts rechtswidrig sei, weil schon der Beschluss des Amtsgerichts rechtswidrig gewesen sei. Die Haftbeschwerde sei nicht zulässig gewesen, da sie ohne den Willen des Angeklagten eingelegt worden sei.
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Im Termin zur Haftprüfung am 19.01.2022 hielt das Amtsgericht München den Haftbefehl vom 07.12.2021 aufrecht, da die Haftgründe fortbestünden.
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Die Akten wurden dem Senat am 31.01.2022 zur Entscheidung vorgelegt.
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Es kann letztlich offenbleiben, ob das Rechtsmittel der weiteren Beschwerde vom 04.01.2022 von Anfang an unzulässig war, denn das Rechtsmittel hat sich jedenfalls durch die nachfolgende Haftentscheidung des Amtsgerichts München vom 19.01.2022 erledigt.
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1. Der grundsätzliche Vorrang des Haftprüfungsverfahrens gilt auch für die weitere Beschwerde (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. 2021, § 117, Rn 14; BeckOK StPO/Krauß, 41. Ed. 1.10.2021, StPO § 117 Rn. 13). Dies folgt aus dem gesetzlichen Grundgedanken, dass zunächst das sachnähere Haftgericht oder das bereits mit der Hauptsache befasste Tatgericht die Entscheidung treffen soll (MüKoStPO/Böhm/Werner, 1. Aufl. 2014, StPO § 117 Rn. 45). Wegen des mit Schriftsatz vom 28.12.2021 gestellten Haftprüfungsantrags wäre also grundsätzlich auch die nachfolgend eingelegte weitere Beschwerde von Anfang an unzulässig.
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1.1 Etwas anderes gilt auch nicht deswegen, weil - wie der Wahlverteidiger meint - die Haftbeschwerde des Pflichtverteidigers nicht zulässig gewesen sei, da sie „ohne dessen Zustimmung“ bzw. „gegen den Willen des Angeklagten - zumindest ohne dessen Willen - eingelegt“ worden sei. Ein entgegenstehender Wille zum Zeitpunkt der Beschwerdeeinlegung ist den Akten nicht zu entnehmen und auch sonst nicht ersichtlich. Die Annahme, dass für die Einlegung eines Rechtsmittels die ausdrückliche Zustimmung des Angeklagten erforderlich sei, geht indes fehl.
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Rechtsanwalt H. war zum Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsmittels dem Angeklagten als Pflichtverteidiger beigeordnet. Er war daher gem. § 297 StPO befugt, für den Angeklagten Rechtsmittel einzulegen. Ein ausdrücklich entgegenstehender Wille des Angeklagten ist aus den Akten nicht ersichtlich. Solange dem Gericht oder dem (Pflicht-)Verteidiger selbst keine ausdrückliche gegenteilige Erklärung vorliegt, wird die Befugnis des Verteidigers zur Rechtsmitteleinlegung vermutet (Dölling/Duttge/König/Rössner, Gesamtes Strafrecht, 5. Aufl. 2020, StPO § 297 Rn. 2, beck-online). Ein Zustimmungserfordernis - wie in den Schriftsätzen vom 28.12.2021 und 04.01.2022 behauptet - gibt es bei der Einlegung eines Rechtsmittels gerade nicht. Dies ergibt sich auch aus dem e-contrario-Schluss des § 302 Abs. 2 StPO.
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Die Nichtabhilfeentscheidung des Amtsgerichts München vom 23./27.12.2021 ist daher in keiner Weise zu beanstanden. Die Beschwerde wurde erst gemäß § 117 Abs. 2 S. 1 StPO durch den vom Wahlverteidiger gestellten Antrag auf Haftprüfung mit Schriftsatz vom 28.12.2021 unzulässig. Dabei ist unerheblich, dass die beiden Rechtsbehelfe von unterschiedlichen Berechtigten eingelegt wurden (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. 2021, § 117, Rn 14). Die Unzulässigkeit der Beschwerde bleibt nach ganz einhelliger Ansicht auch dann bestehen, wenn nachfolgend - wie vorliegend nicht - der Haftprüfungsantrag zurückgenommen wird (Lind in LR-StPO, 27. Aufl. 2019, § 117, Rn 31).
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Die Beschwerdekammer konnte hingegen - selbst wenn ihr das Schreiben vom 28.12.2021 vor ihrer Entscheidung vorgelegen hat, wofür nichts spricht - isoliert betrachtet nicht ohne weiteres von einer wirksamen Rücknahme der Beschwerde mit Schriftsatz vom 28.12.2021 ausgehen, denn die Rücknahme des Rechtsmittels bedarf gemäß § 302 Abs. 2 StPO der ausdrücklichen Ermächtigung. Eine allgemeine Prozessvollmacht - wie sie der Wahlverteidiger vorgelegt hat - genügt nach heute hM nicht (BeckOK StPO/Cirener, 41. Ed. 1.10.2021, StPO § 302 Rn. 32).
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1.2 Es kann in der Sache offen bleiben, ob mit dem Rechtsmittel der weiteren Beschwerde die Aufhebung der offensichtlich in Unkenntnis des Haftprüfungsantrags ergangene Beschwerdeentscheidung zulässigerweise verfolgt werden kann. Eine unter Nichtbeachtung des § 117 Abs. 2 S. 1 StPO erlassene Beschwerdeentscheidung ist wirksam. Ob diese auf eine weitere Beschwerde hin aufzuheben ist, wie in der Kommentarliteratur vertreten (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. 2021, § 117, Rn 14; Lind in LR-StPO, 27. Aufl. 2019, § 117, Rn 31), kann jedoch mit guten Gründen bezweifelt werden (vgl. OLG Stuttgart, NStZ 1994, 401), da für die Zulässigkeit (auch) des Rechtsmittels der weiteren Beschwerde eine Beschwer des Beschwerdeführers vorliegen muss. Eine solche kann im vorliegenden Fall nicht ohne weiteres angenommen werden. Die Beschwerde hätte richtigerweise als unzulässig statt als unbegründet verworfen werden müssen mit der entsprechenden Kostenfolge, die auch bei (wirksamer) Rücknahme des Rechtsmittels die gleiche gewesen wäre, § 473 Abs. 1 S. 1 StPO (vgl. Lind in LR-StPO, 27. Aufl. 2019, § 117, Rn 32; BeckOK StPO/Krauß, 41. Ed. 1.10.2021, StPO § 117 Rn. 13).
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2. Die weitere Beschwerde des Angeklagten vom 04.01.2022 gegen den Beschluss des Landgerichts München I vom selben Tag ist jedenfalls durch die nachfolgende Entscheidung des Amtsgerichts München vom 19.01.2022 im Rahmen der mündlichen Haftprüfung prozessual überholt und dadurch gegenstandslos geworden (BeckOK StPO/Krauß, 41. Ed. 1.10.2021, StPO § 117 Rn. 13). Denn der Angeklagte kann sich mit Rechtsmitteln jeweils nur gegen die zuletzt ergangene Haftentscheidung wenden. Bei mehreren denselben Gegenstand betreffenden Haftentscheidungen kann zur Vermeidung divergierender Haftentscheidungen nur die jeweils letzte Entscheidung angefochten werden. Gleichzeitig werden alle weiteren Beschwerdemöglichkeiten gegen früher ergangene Haftentscheidungen ausgeschlossen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 117 Rn. 8 m.w.N.; OLG Oldenburg Beschluss vom 23.11.2020 - 1 Ws 475/20, BeckRS 2020, 32867 Rn. 4, beck-online).
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Eine - auch nur klarstellende - Aufhebung der Beschwerdeentscheidung des Landgerichts München I bedarf es nicht, da diese Haftentscheidung - spätestens - durch ihre prozessuale Überholung den Angeklagten nicht mehr beschwert.
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3. Eine Kostenentscheidung ist aufgrund angenommener nachträglicher Erledigung des Rechtsmittels nicht veranlasst (MüKoStPO/Allgayer, 1. Aufl. 2016, StPO § 296 Rn. 51). Zugunsten des Angeklagten, der mit gegenläufigen Anträgen seiner Verteidiger konfrontiert ist, hat der Senat davon abgesehen, allein wegen der Kostenfolge die Frage der Zulässigkeit einer weiteren Beschwerde in der vorliegenden Fallgestaltung (vgl. o. Ziff. 1.2) zu entscheiden.