Titel:
Terassenüberdachung als Aufenthaltsraum - Abstandsflächen
Normenkette:
BayBO Art. 2 Abs. 5, Art. 6 Abs. 7 S. 1 Nr. 1, Art. 63 Abs. 1
Leitsätze:
1. Bei der Bestimmung eines Raumes als Aufenthaltsraum ist nicht darauf abzustellen, ob sich in diesem Raum Personen über einen langen oder weniger langen Zeitraum tatsächlich aufhalten, sondern auf die objektive bestimmungsmäßige Eignung. Es kann dann dahinstehen, ob sich Personen in diesem Raum aufhalten. (Rn. 58) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Zulassung einer Abweichung von den Vorgaben des Art. 6 BayBO erfordert Gründe, durch die sich das Vorhaben vom Regelfall unterscheidet und die etwa bewirkte Einbußen an geschützten Nachbarrechtspositionen vertretbar erscheinen lassen. Die Atypik muss sich dabei aus der besonderen städtebaulichen Situation ergeben. Eine solche kann beispielsweise im dicht bebauten innerstädtischen Bereich mit historischer Bausubstanz gegeben sein. (Rn. 74) (redaktioneller Leitsatz)
3. Der Zweck des Abstandsflächenrechts besteht darin‚ eine ausreichende Belichtung, Besonnung und Belüftung sowie die Sicherung des sozialen Wohnfriedens zu gewährleisten. (Rn. 77) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Baurecht, Verpflichtungsklage, Terrassenüberdachung, Abstandsflächen, Abweichung, Atypik, Gebot der Rücksichtnahme
Fundstelle:
BeckRS 2022, 31781
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt von dem Beklagten die Erteilung einer Baugenehmigung für die Errichtung einer Terrassenüberdachung.
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Der Kläger ist Eigentümer des Grundstücks FlNr. … (…) der Gemarkung … (nachfolgend wird auf die Angabe der Gemarkung verzichtet; alle erwähnten Flurnummern beziehen sich auf die Gemarkung …). Das 230 m² große Grundstück ist mit einem 5,99 m breiten und 11,13 m langen, zweigeschossigen Reiheneckhaus mit versetztem Pultdach bebaut. An die südliche Hausfassade schließt sich eine 5,5 m breite und 4 m tiefe Terrasse an. Das Grundstück weist eine rechtwinklige Trapezform auf, wobei sich der Schenkel des Trapezes in südlicher Richtung und die kürzere der beiden Grundseiten in östlicher Richtung befinden.
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Das klägerische Grundstück grenzt in westlicher Richtung an das Grundstück FlNr. … an, welches mit einem Reihenhaus mit versetztem Pultdach bebaut ist. Die beiden Grundstücke sind Teil einer Reihenhaussiedlung. Entlang der östlichen Grenze des klägerischen Grundstücks verläuft auf dem Grundstück FlNr. …, welches - neben acht weiteren Personen bzw. Personengesellschaften - im Miteigentum des Klägers steht, ein ca. 1,5 m breiter Privatweg. Entlang der südöstlichen Grundstücksgrenze (dem Trapezschenkel) zieht sich auf dem Grundstück FlNr. …, welches im Miteigentum von 13 Personen bzw. Personengesellschaften - darunter nicht der Kläger - steht, ein 1,1 m breiter Privatweg hin. Dieser Privatweg erstreckt sich insgesamt entlang von fünf Grundstücken und endet in westlicher Richtung am Grundstück FlNr. … Südöstlich des Privatwegs ist eine weitere Reihenhaussiedlung situiert. Über den Weg können jeweils die angrenzenden rückwärtigen Gartenbereiche der Reihenhäuser erreicht werden. In nördlicher Richtung schließt sich die öffentliche Straße „…“ an.
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Das Grundstück liegt im qualifizierten Bebauungsplan „…“ der Standortgemeinde, welcher seit 1. Mai 1987 rechtsverbindlich ist. Dieser setzt für das klägerische Grundstück u.a. ein reines Wohngebiet, eine zweigeschossige Reihenhausbebauung, das Pultdach als Dachform sowie eine Baugrenze fest. Des Weiteren sind folgende textliche Festsetzungen enthalten:
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Soweit sich bei der Nutzung der ausgewiesenen überbaubaren Flächen sowie zwischen gegenüberliegenden Wänden geringere Abstandsflächen als nach Art. 6 Abs. 3 und 4 BayBO ergeben, werden diese festgesetzt. Geringere Abstandsflächen können ausnahmsweise, wenn städtebauliche Gründe dies erfordern, mit Zustimmung des Landratsamtes zugelassen werden.
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Außerhalb der überbaubaren Grundstücksflächen sind Nebenanlagen und Garagen i.S.d. § 14 BauNVO sowie nicht genehmigungspflichtige Bauten zulässig. Garagen, überdachte Freisitze, Nebengebäude und Schwimmbäder sind als Ausnahme zulässig gem. § 31 Abs. BBauG, sofern sie in baulicher Verbindung zum Hauptgebäude stehen, sich in Material und Gestaltung angleichen und eine überbaute Fläche von 20% der überbaubaren Grundstücksfläche nicht überschreiten.
7.1 Dachform und Dachneigung
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Das Satteldach ist die grundsätzliche Dachform, die Mindestdachneigung beträgt 36 Grad, die maximale Dachneigung 52 Grad.
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Pultdächer sind entsprechend den Planeintragungen zulässig, die Mindestdachneigung beträgt 18 Grad, die maximale Dachneigung 30 Grad. Sonderbauformen sind als Ausnahme durch Stadtratsbeschluss zulässig.
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Doppelhäuser, Hausgruppen, geschlossene Bebauungen sind in einheitlicher Dachneigung auszuführen. Innerhalb eines Gebäudes dürfen keine unterschiedlichen Dachneigungen ausgeführt werden.
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Die Garagen sind in ihrer Dachform und Dachneigung auf das Hauptgebäude abzustimmen. Innerhalb der Hausgruppen sind die Garagendächer entsprechend den Dächern der Hauptgebäude auszuführen. Grenzgaragen sind in der Bauflucht, Bauhöhe und Baugestaltung aufeinander abzustimmen. Die maximale Traufhöhe darf, von der Zufahrtseite gemessen, 2,75 m nicht überschreiten.
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Mit Antrag vom 21. April 2020 - bei dem Beklagte am 20. Mai 2020 eingegangen - begehrte der Kläger die Erteilung einer Baugenehmigung im Wege der Genehmigungsfreistellung für das Vorhaben „Terrassenüberdachung an einem bestehenden Wohnhaus“ auf dem klägerischen Grundstück. Gemäß den Bauvorlagen soll über die bestehende Terrasse eine Überdachung errichtet werden. Diese soll als eine pulverlackierte Stahlblech- und Verbund-Sicherheitsglaskonstruktion ausgeführt und an der südlichen Hausfassade befestigt werden. Die Grundfläche der Überdachung soll 25,46 m², der Bruttorauminhalt 65,3 m³ aufweisen. Die Firsthöhe soll 2,75 m, die Traufhöhe 2,3 m betragen. Die Tiefe der Überdachung wurde mit 4,3 m, die Breite mit 5,99 m angegeben. Aus diesen Maßen errechnet sich eine Dachneigung von ca. 6 Grad. Die Überdachung soll dabei unmittelbar an die Grenze zum Grundstück FlNr. … errichtet werden.
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Ausweislich des zuletzt eingereichten und korrigierten Abstandsflächenplans vom 21. September 2020 hält das Bauvorhaben die Abstandsflächen in Richtung der Grundstücke FlNrn. … und … nicht ein. Die Abstandsflächen wurden dabei in allen Richtungen mit 3 m angegeben. Eine Abstandsflächenübernahme durch die Eigentümer der betroffenen Grundstücke existiert nicht. Die durch den Bebauungsplan festgesetzte Baugrenze wird um 2,63 m in südlicher Richtung überschritten. Gemäß dem Abstandsflächenplan reicht die Baugrenze 1,67 m über das Bestandsgebäude hinaus.
13
Die durch den Kläger vorgelegten Baupläne sind jeweils durch die Eigentümer des Grundstücks FlNr. … unterschrieben worden. Weitere Unterschriften sind nicht enthalten.
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Mit Schreiben vom 11. Mai 2020 teilte die Standortgemeinde dem Kläger mit, dass das Vorhaben den Festsetzungen des Bebauungsplans hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche und der Dachneigung für Pultdächer widerspreche und der Antrag daher in das vereinfachte Genehmigungsverfahren übergeleitet werde.
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Mit Beschluss der Standortgemeinde vom 15. Mai 2020 wurde das gemeindliche Einvernehmen zu dem Vorhaben erteilt, sowie einer Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans hinsichtlich der Baugrenze auf dem klägerischen Grundstück und der zulässigen Dachneigung für Pultdächer von 18 Grad zugestimmt.
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Mit Schreiben des Beklagten vom 25. Mai 2020 wurde der Kläger aufgefordert, fehlende Bauvorlagen nachzureichen und einen Antrag auf Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans hinsichtlich der Baugrenzen und der Dachneigung zu stellen sowie eine Abstandsflächenübernahmeerklärung zulasten des Grundstücks FlNr. … vorzulegen.
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Diesbezüglich nahm der Kläger mit Schreiben vom 6. Juli 2020 Stellung. Eine Abweichung von den Vorgaben des Abstandsflächenrechts sei nicht erforderlich, da das beantragte Bauvorhaben eine gem. Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 Fall 2 BayBO a.F. (nunmehr Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BayBO) privilegierte bauliche Anlage darstelle. Eine Terrassenüberdachung über einer bestehenden Terrasse sei ein Gebäude gem. Art. 2 Abs. 2 BayBO, da sie eine überdeckte bauliche Anlage sei. Die allseitige Offenheit des beantragten Vorhabens führe nicht zu einer anderen Würdigung, weil eine allseitige oder teilweise Umschließung für die Annahme eines Gebäudes keine Voraussetzung sei. Das geplante Bauvorhaben sei auch ein Gebäude ohne Aufenthaltsräume (mit Verweis auf Busse/Kraus, BayBO Art. 2, Rn 511 und Art. 45 Rn 24). Zu berücksichtigen sei hier auch, dass nach den Vorgaben des Bebauungsplans an die Grenze gebaut werden müsse, woraus sich eine Atypik der Reihenhausbebauung ergebe, sodass zwischen dem bauvorhabenrelevanten Grundstück und dem westlichen Nachbargrundstück FlNr. … stets die Frage der Atypik für das Abstandsflächenrecht relevant werde. Dies sei systemimmanent für Reihenhäuser. Die weiteren maßgeblichen Kriterien gem. Art. 6 Abs. 9 BayBO a.F. hinsichtlich der Wandhöhe unter 3,0 m und einer Gesamtlänge der Grenzbebauung von weniger als 9 m seien erfüllt.
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Selbst falls eine privilegierte Bebauung i.S.v. Art. 6 Abs. 9 Nr. 1 BayBO a.F. nicht vorläge, könnte das Vorhaben unter Erteilung einer Abweichung verwirklicht werden. Die diesbezüglich zu fordernde atypische Situation sei vorliegend dadurch begründet, dass überdachte Terrassen einerseits zu einer üblichen Haus- und Gartennutzung im reinen Wohngebiet „…“ gehören würden. Andererseits könnten derartige Terrassenüberdachungen bei Reihenhäusern, insbesondere wenn sie nur eine so geringe Breite wie das Reihenhaus des Klägers aufweisen würden, aufgrund dieser speziellen Grundstückssituation die Abstandsflächen - falls sie überhaupt erforderlich seien - unter keinem sinnvollen, die geplante Nutzung tragenden Gestaltungsgesichtspunkt erfüllen. Vorliegend sei von einem atypischen Fall auszugehen, weil wegen der Grundstücks- bzw. Gebäudesituation die Einhaltung der Abstandsflächen aufgrund der aufgezeigten baulichen Situation nicht möglich oder doch zumindest unzumutbar erschwert sei (unter Verweis auf BayVGH, B.v. 16.7.2007 - 1 CS 07.1340). Entgegenstehende öffentliche Belange seien, unter Berücksichtigung des Schutzzwecks des Abstandsflächenrechts, vorliegend nicht ersichtlich. Vielmehr dürften in derartigen Konstellationen die nachbarlichen Interessen bei der Erteilung der Abweichung von entscheidender Bedeutung seien. Die betroffenen Grundstücksnachbarn hätten dem Vorhaben zugestimmt, sodass diese Würdigung nur zugunsten des Klägers ausfallen könne. Somit seien die Voraussetzungen für die Erteilung einer entsprechenden Abweichung gem. Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO gegeben (unter Hinweis auf BayVGH, B.v. 29.7.2010 - 15 ZB 09.2856).
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Die beantragte Dachneigung der Terrassenüberdachung von ca. 6 Grad ergebe sich bautechnisch aufgrund der Fassadenbefestigung auf Höhe von 2,75 m und der Traufhöhe bei 2,30 m. Aufgrund der textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans „…“ in Ziff. 7.1 und 7.6 (gemeint wohl 7.5) ergebe sich, dass sich die Festsetzung der Dachneigung in Ziff. 7.1 nur auf das Hauptgebäude selbst beziehe und gerade nicht auf „überdachte Freisitze“. Selbst falls davon auszugehen wäre, dass sämtliche Nebenanlagen und damit auch das streitgegenständliche Bauvorhaben bei Pultdächern eine Dachneigung von 18 Grad einhalten müssten, könnte das Vorhaben des Klägers unter Erteilung einer Abweichung verwirklicht werden.
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Hinsichtlich der Baugrenzen sei eine Ausnahme gem. § 31 Abs. 1 BauGB zuzulassen, weil „überdachte Freisitze“ gem. Ziff. 5 der textlichen Festsetzungen ausdrücklich als Ausnahme gem. § 31 Abs. 1 BauGB außerhalb der überbaubaren Grundstücksflächen zugelassen werden könnten. Die Voraussetzungen dieser Ausnahme läge vor, denn die geplante Terrassenüberdachung stehe in baulicher Verbindung zum Hauptgebäude und gleiche sich in Material und Gestaltung diesem an. Selbst falls davon auszugehen wäre, dass das beantragte Bauvorhaben nicht als Ausnahme genehmigt werden könnte, könnte das Vorhaben des Klägers unter Erteilung einer Befreiung verwirklicht werden. Die Errichtung von Terrassen und deren Überdachungen im Anschluss an Gebäude in die Hausgärten hinein entspreche einem nachvollziehbaren Bedürfnis und sei grundsätzlich üblich (unter Verweis auf VG München, U.v. 19.11.2012 - 8 K 11.5706).
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Im Rahmen dieses Schreibens beantragte der Kläger bezüglich der Abstandsflächen, das gemeindliche Einvernehmen gem. Art. 63 Abs. 3 BayBO einzuholen und den Bauantrag mit Abweichung gem. Art. 63 Abs. 1 BayBO zu erteilen. Hinsichtlich der Dachneigung beantragte der Kläger, den Bauantrag unter Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans gem. § 31 Abs. 2 BauGB zu erteilen. Bezüglich der Baugrenzen beantragte der Kläger, das gemeindliche Einvernehmen gem. § 31 Abs. 1 BauGB einzuholen und den Bauantrag als Ausnahme zu erteilen, hilfsweise den Bauantrag unter Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans gem. § 31 Abs. 2 BauGB zu erteilen.
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Hierauf reagierte der Beklagte mit Schreiben vom 20. Juli 2020 und führte aus, dass die Privilegierung des Art. 6 Abs. 9 BayBO a.F. nicht einschlägig sei (unter Hinweis auf VG Augsburg, U.v. 6.2.2013 - AU 4 K 12.1310). Dass Terrassenüberdachungen der Abstandsflächenpflicht unterlägen, sei bereits mehrfach gerichtlich bestätigt worden und werde auch in der Kommentarliteratur so vertreten (unter Verweis auf Busse/Kraus, BayBO Art. 57 Rn 375). Eine Abweichung von den Abstandsflächen zur Errichtung der Terrassenüberdachung könne nicht in Aussicht gestellt werden. Die Terrassenüberdachung solle teilweise außerhalb der Baugrenzen errichtet werden. Durch die Terrassenüberdachung werde der Umfang der durch die Baugrenzen anvisierten Grenzbebauung überschritten. Hierdurch sei eine Beeinträchtigung der nachbarschaftlichen Belange nicht auszuschließen. Denn durch die Länge der Grenzbebauung, welche sich aus dem Hauptgebäude und der Terrassenüberdachung ergebe, bestehe zumindest eine Beeinträchtigung der Belichtung und Belüftung des Nachbargrundstücks. Um die Terrassenüberdachung in der beantragten Tiefe verwirklichen zu können, sei daher eine Abstandsflächenübernahmeerklärung zu Lasten des Grundstücks FlNr. … vorzulegen. Entgegen der klägerischen Ausführungen seien Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans erforderlich. Bei der Terrassenüberdachung handele es sich nicht um eine Nebenanlage i.S.d. § 14 BauNVO, sondern um einen Bestandteil der Hauptnutzung. Dies insbesondere deshalb, da bereits Terrassen der Hauptnutzung zuzuordnen seien. Eine Einschränkung der Dachform und Dachneigung auf das Hauptgebäude sehe der Bebauungsplan darüber hinaus nicht vor.
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Mit Bescheid vom 19. November 2020 - dem Kläger gegen Empfangsbekenntnis am 3. Dezember 2020 zugestellt - lehnte der Beklagte den Bauantrag ab.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass das Bauvorhaben die erforderlichen Abstandsflächen nicht einhalte. Eine Terrassenüberdachung unterliege der Abstandsflächenpflicht. Bei einer Terrassenüberdachung handele es sich nicht um ein an der Grenze privilegiertes Gebäude i.S.d. Art. 6 Abs. 9 BayBO a.F.. Weder die westlichen noch die südlichen Abstandsflächen könnten auf dem eigenen Grundstück nachgewiesen werden.
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Eine Abweichung von den Abstandsflächen gem. Art. 63 Abs. 1 BayBO könne nicht erteilt werden, da hierdurch öffentlich-rechtliche sowie nachbarschaftliche Belange berührt würden. Die Terrassenüberdachung solle teilweise außerhalb der Baugrenzen errichtet werden. Durch die Terrassenüberdachung werde der Umfang der durch die Baugrenzen anvisierten Grenzbebauung überschritten. Hierdurch sei eine Beeinträchtigung der nachbarschaftlichen Belange nicht auszuschließen. Denn durch die Länge der Grenzbebauung bestehe zumindest eine Beeinträchtigung der Belichtung und Belüftung des Nachbargrundstücks. Eine spezielle Grundstückssituation liege nicht vor. Insbesondere handele es sich bei dem Grundstück um ein Reiheneckhaus. Eine Terrassenüberdachung könnte wohl auch unter Einhaltung der Abstandsflächen verwirklicht werden. Im Übrigen führe nicht allein die Tatsache, dass es sich um eine Reihenhausbebauung handele zum Vorliegen einer atypischen Situation. Dass eine Abstandsflächenübernahme ausgeschlossen sei, sei nicht vorgebracht worden. Bei dem südlich angrenzenden Grundstück der FlNr. … handele es sich nicht um ein Grundstück, welches dauerhaft von einer Bebauung freigehalten werden könne. Vielmehr handele es sich hierbei um einen Privatweg, welcher sich auch nicht im Mitbesitz des Klägers befinde, sodass sogar ein privatrechtliches Hinwirken auf die dauerhafte Freihaltung dieser Fläche nicht möglich sei. Dass durch die Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächen nachbarschaftliche Belange nicht berührt würden, sei auch diesbezüglich nicht gesichert. Da das Bauvorhaben wie oben beschrieben nicht genehmigungsfähig sei, sei dieses abzulehnen gewesen.
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Der Kläger hat am 4. Januar 2021 Klage gegen diesen Bescheid erhoben.
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Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, dass das verfolgte Bauvorhaben zwar genehmigungspflichtig, aber nach dem durchzuführenden vereinfachten Genehmigungsverfahren genehmigungsfähig sei. Der Kläger vertieft hierzu das bereits im Verwaltungsverfahren Vorgetragene. Ergänzend führt der Kläger aus, dass das klägerische Grundstück Teil einer Reihenhaussiedlung sei. In der Folge seien die jeweiligen Einzelgrundstücke sehr schmal und böten daher naturgemäß nur wenig baulich nutzbare Flächen unter Einhaltung von Abstandsflächen. Dies rechtfertige die Annahme einer sogenannten atypischen Baugestaltung. Die Wahrung der nachbarlichen Interessen sei durch das Bauvorhaben ebenfalls nicht gefährdet. Es sei nicht nachvollziehbar, wie die konkret geplante Terrassenüberdachung unter Verwendung von Glas als wesentlichem Bauprodukt zu einer nennenswerten Verschattung des Nachbargrundstücks führen können solle. Gleiches gelte für den Punkt der Belüftung, da der Luftaustausch zwischen dem Grundstück des Klägers und den benachbarten Grundstücken bei einer zu den Seiten offenen Terrassenüberdachung nur unwesentlich behindert werde.
Der Beklagte wird - unter Aufhebung des Bescheids vom 19. November 2020 - verpflichtet, dem Kläger die beantragte Genehmigung für die Errichtung einer Terrassenüberdachung auf seinem Grundstück zu erteilen.
29
Der Beklagte beantragt,
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Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, dass die Ablehnung des Antrags auf Baugenehmigung rechtmäßig sei und der Kläger hierdurch nicht in seinen Rechten verletzt werde. Die gem. Art. 6 BayBO erforderlichen Abstandsflächen könnten nicht auf dem klägerischen Grundstück nachgewiesen werden. Die Terrassenüberdachung unterliege auch der Abstandsflächenpflicht. Eine Terrassenüberdachung falle nicht unter Art. 6 Abs. 9 BayBO a.F.. Vielmehr diene eine Terrassenüberdachung gerade der Nutzung einer Terrasse und führe i.d.R. zu einer Intensivierung der Nutzung und komme daher der Qualität eines Aufenthaltsraums gleich. Es handele sich somit nicht um ein an der Grenze privilegiertes Gebäude. Eine Abweichung von den Abstandsflächen gem. Art. 63 Abs. 1 BayBO könne nicht erteilt werden, da eine solche nicht gerechtfertigt sei. Eine atypische Situation bestehe nicht allein aufgrund der Reihenhausbebauung. Dass die Terrassenüberdachung teilweise außerhalb der Baugrenzen errichtet werden solle, stehe der Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächen ebenfalls entgegen. Aufgrund der festgelegten Baugrenzen habe die Nachbarschaft davon ausgehen können, dass hier keine weitere Bebauung stattfinde. Neben einer ausreichenden Belichtung und Belüftung diene die Einhaltung der erforderlichen Abstandsflächen auch der Wahrung eines gesunden Wohnfriedens. Daher sei auch unerheblich, dass die Terrassenüberdachung lediglich mittels eines Glasdaches errichtet werden solle. Es könne damit nicht ausgeschlossen werden, dass nachbarschaftliche Belange nicht berührt würden. Die Eigentümer des Grundstücks der FlNr. … seien im Rahmen des Baugenehmigungsverfahrens durch den Kläger offensichtlich nicht beteiligt worden bzw. hätten die zur Genehmigung vorgelegten Planunterlagen nicht unterzeichnet. Eine Entscheidung über die Zulassung der erforderlichen Befreiungen von den Festsetzungen bezüglich der Baugrenze und der Dachneigung sei nicht erforderlich gewesen, da das Bauvorhaben bereits aufgrund des Verstoßes gegen geltendes Abstandsflächenrecht abzulehnen gewesen sei.
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Hierzu trug der Kläger replizierend vor, dass hinsichtlich der monierten Überschreitung einzuhaltender Abstandsflächen bezüglich des benachbarten Grundstücks FlNr. …, welches unbebaut sei und im Eigentum der Standortgemeinde stehe, der Schutzzweck von Art. 6 BayBO aufgrund der Art des betroffenen Grundstücks nicht berührt sei. Bei besagtem Grundstück handele es sich um ein ca. 1,5 m breites Weggrundstück, das lediglich von den Anwohnern genutzt werde, um zu ihren Gartengrundstücken zu gelangen. Es sei offensichtlich, dass dieses Grundstück niemals bebaut werde, zumal fraglich sei, welche Bebauung hierauf überhaupt sinnvoll errichtet werden könnte. Dieses Grundstück werde daher dauerhaft frei von Bebauung bleiben. Nicht nachvollziehbar sei, welcher Schutzzweck in dieser Konstellation durch die nur formalistische Anwendung der Abstandsflächenregelung eingehalten werden solle.
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Vorliegend sei sehr wohl eine atypische Fallgestaltung als gegeben anzusehen. Durch den besonderen dreieckig zulaufenden Grundstückszuschnitt und der Begrenzung durch das Grundstück FlNr. … werde dem Kläger jegliche bauliche Nutzung auf seinem Grundstück im Hinblick auf die Abstandsflächenregelung dauerhaft versagt. Selbst an sich genehmigungsfreie Gebäude dürfte er nicht auf seinem Grundstück errichten, da die Abstandsflächen in keinem Fall einzuhalten wären. Insbesondere vor dem Hintergrund der als ausgeschlossen anzusehenden zukünftigen baulichen Nutzung des angrenzenden Grundstücks FlNr. … stelle dies eine unzumutbare Härte für den Kläger dar, die eine Ermessensreduktion hinsichtlich der Erteilung einer Befreiung nach Art. 63 BayBO auf Null bewirke.
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Der Beklagte führte erwidernd aus, dass das Grundstück FlNr. … nicht im Eigentum der Standortgemeinde stehe, sondern sich vielmehr im Privatbesitz mehrerer Anlieger befinde. Selbst wenn dieses Grundstück derzeit unbebaut sei, sei eine spätere Nutzung oder Inanspruchnahme des Grundstücks durch die Eigentümer selbst nicht ausgeschlossen. Eine Gewährleistung, dass das Grundstück nicht zu einem späteren Zeitpunkt überbaut oder veräußert werde, bestehe nicht.
34
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
35
Über den Rechtsstreit konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten übereinstimmend den Verzicht auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung erklärten (§ 101 Abs. 2 VwGO).
36
Die zulässige Klage ist unbegründet.
37
Der Kläger hat keinen Anspruch gemäß Art. 68 Abs. 1 Satz 1 BayBO auf die Erteilung der begehrten Baugenehmigung. Die Ablehnung des Bauantrags mittels Bescheides vom 19. November 2020 war daher rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO).
38
Das genehmigungspflichtige Bauvorhaben ist nicht genehmigungsfähig, da es gegen die Abstandsflächenvorschriften verstößt und die Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 BayBO nicht vorliegen.
39
I. Der Kläger hat keinen Anspruch gemäß Art. 68 Abs. 1 Satz 1 BayBO auf die Erteilung der begehrten Baugenehmigung.
40
Eine Baugenehmigung ist nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 BayBO zu erteilen, wenn dem Vorhaben keine öffentlich-rechtliche Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind.
41
Im vorliegend einschlägigen, vereinfachten Genehmigungsverfahren nach Art. 59 Satz 1 BayBO prüft die Bauaufsichtsbehörde grundsätzlich die Übereinstimmung mit den Vorschriften über die Zulässigkeit der baulichen Anlagen nach den §§ 29 bis 38 BauGB, mit den Vorschriften über Abstandsflächen nach Art. 6 BayBO sowie mit den Regelungen örtlicher Bauvorschriften im Sinn des Art. 81 Abs. 1 BayBO, beantragte Abweichungen im Sinn des Art. 63 BayBO sowie andere öffentlich-rechtliche Anforderungen, soweit wegen der Baugenehmigung eine Entscheidung nach anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften entfällt, ersetzt oder eingeschlossen wird.
42
1. Das Bauvorhaben ist gemäß Art. 55 Abs. 1 BayBO genehmigungspflichtig, da es sich um die Errichtung einer Anlage handelt und keine Verfahrensfreiheit nach Art. 57 BayBO besteht.
43
Die geplante Terrassenüberdachung stellt ein Gebäude nach Art. 2 Abs. 2 BayBO und damit eine Anlage gemäß Art. 2 Abs. 1 Satz 4 BayBO dar, da es sich um eine selbständig benutzbare, überdeckte bauliche Anlage handelt, die von Menschen betreten werden kann. Eine vollständige Umschlossenheit der Terrassenüberdachung oder Umfassungswände sind hierfür nicht erforderlich; es genügt, dass die Dachkonstruktion mit Pfeilern oder Stützen versehen ist (Lechner/Busse in Busse/Kraus, 146. EL Mai 2022, BayBO Art. 57 Rn. 138; VG Augsburg, U.v. 6.2.2013 - Au 4 K 12.1310 - juris Rn. 23). Auch der Gesetzgeber ging hinsichtlich Terrassenüberdachungen davon aus, dass es sich um Gebäude handelt, wie Art. 57 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. g BayBO zeigt.
44
Eine Verfahrensfreiheit nach Art. 57 BayBO liegt nicht vor.
45
Das Bauvorhaben fällt aufgrund der geplanten Tiefe von über 4 m nicht unter Art. 57 Abs. 1 Nr.1 Buchst. g BayBO. Art. 57 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a BayBO, nach dem Gebäude mit einem Brutto-Rauminhalt bis zu 75 m3 verfahrensfrei sind, kommt nicht zur Anwendung, da Art. 57 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. g BayBO insoweit lex specialis und lex posterior ist (VG Augsburg, U.v. 6.2.2013 - Au 4 K 12.1310 - juris Rn. 29). Auch Art. 57 Abs. 1 Nr. 16 Buchst. g BayBO ist nicht einschlägig, da lediglich nicht überdachte Terrassen erfasst sind (Lechner/Busse in Busse/Kraus, 146. EL Mai 2022, BayBO Art. 57 Rn. 375) und im Übrigen Art. 57 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. g BayBO lex specialis ist.
46
2. Das Vorhaben ist nicht genehmigungsfähig, da die bauordnungsrechtlichen Abstandsflächenvorschriften verletzt sind und die Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 BayBO nicht vorliegen.
47
a) Das Vorhaben hält die Abstandsflächenvorschriften nicht ein und fällt nicht unter eine abstandsflächenrechtliche Privilegierungsvorschrift.
48
Das Bauvorhaben hat grundsätzlich gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO Abstandsflächen einzuhalten, da es sich um ein Gebäude handelt (siehe obige Ausführungen).
49
Abstandsflächen müssen gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO auf dem Baugrundstück selbst liegen und betragen nach Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO mindestens 3 m. Dies ist vorliegend unstreitig nicht der Fall. Die Abstandsflächen des Bauvorhabens erstrecken sich ausweislich des vom Kläger vorgelegten Abstandsflächenplans auch auf die Grundstücke FlNrn. … und … Abstandsflächenübernahmeerklärungen gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO der jeweiligen Eigentümer liegen nicht vor.
50
Das Bauvorhaben fällt dabei nicht unter einen Privilegierungstatbestand nach Art. 6 Abs. 6 oder 7 BayBO. Auch die textliche Festsetzung unter Ziffer 4 des Bebauungsplans kommt dem Bauvorhaben nicht zugute. Letztlich führt auch Art. 6 Abs. 2 Satz 2 oder 3 BayBO zu keinem anderen Ergebnis.
51
aa) Das Bauvorhaben ist abstandsflächenrechtlich nicht privilegiert.
52
Eine Privilegierung gemäß Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 BayBO scheidet aus. Es handelt sich bei dem streitgegenständlichen Vorhaben nicht um einen Dachüberstand, sondern um eine als selbständige Anlage konzipierte Terrassenüberdachung, die eigenständig nutzbar ist. Außerdem liegt hinsichtlich der Ausmaße der Überdachung weder eine funktionale noch eine quantitative Unterordnung in Bezug auf die Außenwand des Gebäudes vor (Schönfeld in BeckOK BauordnungsR Bayern, 23. Ed. 1.5.2022, BayBO Art. 6 Rn. 186 ff.).
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Ebenso scheidet aufgrund der Ausmaße der Terrassenüberdachung eine Privilegierung nach Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 BayBO aus, da die unter Buchst. a und b aufgezählten Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Die Überdachung nimmt mehr als ein Drittel der Breite der Außenwand in Anspruch und tritt mehr als 1,5 m aus dieser hervor.
54
Das Bauvorhaben fällt auch nicht unter Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BayBO, da die Terrassenüberdachung kein Gebäude ohne Aufenthaltsraum darstellt.
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Gemäß Art. 2 Abs. 5 BayBO sind Aufenthaltsräume Räume, die zum nicht nur vorübergehenden Aufenthalt von Menschen bestimmt oder geeignet sind.
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Wesentliches Kennzeichen des Raums ist, dass er überdeckt ist. Fehlt die Überdeckung, liegt kein Raum vor. Der Raum muss dabei nicht - teilweise oder ganz - umschlossen sein (Dirnberger in Busse/Kraus, 146. EL Mai 2022, BayBO Art. 2 Rn. 500 f.).
57
Ein „nicht nur vorübergehenden Aufenthalt“ liegt schon vor, wenn nur ein längerer Aufenthalt von Menschen gewollt oder möglich ist. Keine Aufenthaltsräume sind deshalb Räume, die nicht oder nur vorübergehend, also nur für kürzere Zeit, zum Aufenthalt von Menschen bestimmt oder geeignet sind. Für den Begriff des Aufenthaltsraums ist nicht ein Aufenthalt über mehrere Tage, insbesondere ein regelmäßiges Wohnen, zu fordern, vielmehr genügt ein nicht ganz kurzer Aufenthalt tagsüber oder nur in der warmen Jahreszeit. Eine Winterfestigkeit ist nicht erforderlich. Weder eine Feuerstelle noch ein Wasseranschluss müssen vorhanden sein (Dirnberger in Busse/Kraus, 146. EL Mai 2022, BayBO Art. 2 Rn. 503 f.).
58
Räume sind zum Aufenthalt von Menschen bestimmt, wenn die Bauzeichnungen (Grundrisse), als Bauvorlage für die Bauanträge, entsprechende Angaben über die vorgesehene Nutzung enthalten (vgl. § 8 Abs. 2 Nr. 1 BauVorlV) oder wenn die Räume tatsächlich als Aufenthaltsräume genutzt werden (z. B. Wohnen, Schlafen, Kinder, Büro). Bei der Bestimmung eines Raumes als Aufenthaltsraum ist nicht darauf abzustellen, ob sich in diesem Raum Personen über einen langen oder weniger langen Zeitraum auch tatsächlich aufhalten, sondern auf die objektive bestimmungsmäßige Eignung. Es kann dann dahinstehen, ob sich Personen in diesem Raum aufhalten. Erfordernis des Aufenthaltsraumes ist auch nicht, dass er immer von den gleichen Personen benutzt wird (Dirnberger in Busse/Kraus, 146. EL Mai 2022, BayBO Art. 2 Rn. 508 f.).
59
Räume zählen auch zu den Aufenthaltsräumen, wenn sie - ohne ausdrücklich dazu bezeichnet zu sein - nach ihrer Lage und Größe (Fläche, Höhe) geeignet sind, als Aufenthaltsräume benutzt zu werden. Danach sind die Art der baulichen Ausführung und die objektiven Gesichtspunkte dafür maßgeblich, dass nach Lage und Größe die Eignung, als Aufenthaltsraum benutzt zu werden, vorliegt. Dafür müssen bestimmte Mindestvoraussetzungen erfüllt sein, wie z. B. erforderliche Mindesthöhe, um einen Raum aufrecht zu betreten und sich aufhalten zu können. Auf die Bezeichnung des Raumes (z. B. in den Bauplänen) kommt es in diesem Fall nicht an (Dirnberger in Busse/Kraus, 146. EL Mai 2022, BayBO Art. 2 Rn. 512 f.).
60
Gemessen an diesen Maßstäben ist beim streitgegenständlichen Bauvorhaben von einem Gebäude mit einem Aufenthaltsraum auszugehen. Die Terrassenüberdachung stellt einen Raum dar, der zum nicht nur vorübergehenden Aufenthalt von Menschen sowohl bestimmt als auch geeignet ist. Dies ergibt sich aus Sicht der Kammer schon alleine aufgrund der Ausmaße der Terrassenüberdachung und des hierdurch zu schaffenden überdachten Bereichs (5,99 m breit, 4,4 m tief, 25,46 m2 Grundfläche, 65,3 m3 Bruttorauminhalt). Im Übrigen soll durch die Errichtung einer Terrassenüberdachung ja auch gerade die Möglichkeit geschaffen werden, dass sich Menschen auf der Terrasse länger und auch beispielsweise bei schlechter Witterung dort aufhalten können. Überdies wird durch eine solche Terrassenüberdachung auch gerade bezweckt, den Aufenthalt von Menschen aus dem Inneren des Gebäudes bei Bedarf nach draußen verlagern zu können. Es kommt somit zu einer räumlichen Erweiterung des Wohngebäudes. Dass der Aufenthalt von Menschen voraussichtlich schwerpunktmäßig in den wärmeren Jahreszeiten stattfinden wird, ist unerheblich, da bereits ein nicht ganz kurzer Aufenthalt genügt (so auch VG Augsburg, U.v. 27.1.2021 - Au 4 K 20.793 - juris Rn. 21; VG Würzburg, U.v. 6.8.2009 - W 5 K 08.1814 - juris Rn. 44 ff. hinsichtlich einer Markise; a.A. Dirnberger in Busse/Kraus, 146. EL Mai 2022, BayBO Art. 2 Rn. 511).
61
bb) Eine Verringerung der einzuhaltenden Abstandsflächen aufgrund der Ziffer 4 der textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans „…“ kommt nicht in Betracht.
62
Diese Festsetzung hat ihre Rechtsgrundlage in Art. 7 Abs. 1 BayBO 1982. Hiernach konnten in Bebauungsplänen von Art. 6 BayBO abweichende Abstandsflächen festgelegt werden (siehe hierzu Hahn in Busse/Kraus, 146. EL Mai 2022, BayBO Art. 6 Rn. 289).
63
Es ist dabei jedoch schon fraglich, ob die textliche Festsetzung überhaupt mangels ausreichender Bestimmtheit wirksam ist, da keine konkrete Angabe erfolgte, inwieweit die Abstandsflächen verkleinert werden sollten bzw. ein ausreichend erkennbarer Bezugspunkt fehlt (vgl. Hahn in Busse/Kraus, 146. EL Mai 2022, BayBO Art. 6 Rn. 285; BayVGH, B.v. 21.10.2003 - 25 CS 03.2174 - juris Rn. 6).
64
Jedenfalls fällt das streitgegenständliche Bauvorhaben nicht unter den Anwendungsbereich der textlichen Festsetzung, da es größtenteils außerhalb der zeichnerisch festgesetzten Baugrenze und damit außerhalb der „ausgewiesenen überbaubaren Flächen“ (§ 23 BauNVO) errichtet werden soll. Im Übrigen ist das Bauvorhaben im Bebauungsplan auch nicht bereits zeichnerisch dargestellt, sodass die zweite Alternative der textlichen Festsetzung („zwischen gegenüberliegenden Wänden“) ebenfalls nicht greift. Denknotwendig kann sich diese Alternative nur auf bereits im Bebauungsplan dargestellte Gebäude beziehen, da der Plangeber mit dieser Festsetzung nicht beabsichtigt haben kann, dass hinsichtlich aller gegenüberliegender Wände im Geltungsbereich des Bebauungsplans abweichende Abstandsflächen festgesetzt werden. Anderenfalls hätte die Festsetzung zur Folge, dass im Geltungsbereich dieses Bebauungsplans keinerlei Abstandsflächen mehr eingehalten werden müssten. Außerdem hätte diese Interpretation der Festsetzung die Konsequenz, dass eine mangelnde Bestimmtheit vorläge, da wiederum nicht erkennbar wäre, inwieweit geringere Abstandsflächen festgesetzt werden sollten.
65
cc) Eine Inanspruchnahme des Grundstücks FlNr. … gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 2 oder 3 BayBO hinsichtlich der Abstandsflächen des Bauvorhabens scheidet aus.
66
Der Anwendung von Art. 6 Abs. 2 Satz 2 BayBO steht bereits entgegen, dass es sich bei dem Privatweg auf dem Grundstück FlNr. … nicht um eine öffentliche Verkehrsfläche handelt. Ob der Privatweg eine Fläche gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO darstellt kann dahinstehen, da jedenfalls in entsprechender Anwendung des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 BayBO ein privates Wegegrundstück den benachbarten bebaubaren Grundstücken zu gleichen Teilen zugeordnet wird und von diesen jeweils lediglich bis zur Hälfte für ihre Abstandsflächen beansprucht werden kann. Dies gilt dabei jedoch nur, wenn die benachbarten Grundstückseigentümer über einen Miteigentumsanteil an dem privaten Wegegrundstück verfügen. Anderenfalls wird die nicht überbaubare Wegefläche in vollem Umfang den Eigentümern des Privatgrundstücks und ihren Baugrundstücken zugeordnet (vgl. zu der gesamten Thematik BayVGH, B.v. 7.2.2020 - 15 CS 19.2013 - juris Rn. 43; B.v. 30.4.2007 - 1 CS 06.3335 - juris Rn. 22; B.v. 22.2.2011 - 2 ZB 10.874 - juris Rn. 5).
67
Hier verfügt der Kläger schon nicht über einen Miteigentumsanteil an dem privaten Wegegrundstück, sodass die Inanspruchnahme für die Abstandsflächen des Bauvorhabens vollständig ausscheidet. Im Übrigen wären die Abstandsflächen auch bei einem Miteigentumsanteil des Klägers nicht eingehalten, da der Kläger ausweislich des Abstandsflächenplans mehr als die Hälfte des Weges für seine Abstandsflächen beansprucht.
68
b) Die Erteilung einer Abweichung von den Vorschriften über die Abstandsflächen gemäß Art. 63 Abs. 1 BayBO hinsichtlich des Grundstücks FlNr. … kommt nicht in Betracht, da die Voraussetzungen nicht vorliegen.
69
Nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von den Anforderungen dieses Gesetzes zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 BayBO vereinbar sind.
70
Der Zulassung einer Abweichung steht bereits entgegen, dass es sich beim streitgegenständlichen Vorhaben bzw. dem klägerischen Grundstück nicht um eine atypische Fallgestaltung handelt. Jedenfalls scheitert die Erteilung einer Abweichung an dem Entgegenstehen und Überwiegen gewichtiger nachbarlicher Belange.
71
aa) Die Situierung und der Zuschnitt des klägerischen Grundstücks rechtfertigen nicht die Annahme einer atypischen Fallgestaltung.
72
Es ist umstritten, ob die Erteilung einer Abweichung nach Art. 63 BayBO in der seit dem 1. September 2018 geltenden Fassung und nach Einfügung des heutigen Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO noch eine atypische Situation voraussetzt (vgl. BayVGH, B.v. 22.1.2020 - 15 ZB 18.2547 - juris Rn. 34; VG Augsburg, B.v. 19.11.2019 - Au 4 S 19.1926 - juris Rn. 29). Dies muss jedoch nicht entschieden werden, da auch die übrigen Voraussetzungen von Art. 63 Abs. 1 BayBO nicht vorliegen (siehe die anschließenden Ausführungen unter I. 2. b) bb)). Überdies läge nach Ansicht der Kammer keine Atypik vor.
73
Bis zur Einfügung des Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO galt folgende ständige Rechtsprechung:
74
Da bei den Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 BayBO dem Schutzzweck der Norm nicht auf andere Weise entsprochen werden kann, muss es im Einzelfall besondere Gründe geben, die es rechtfertigen, dass die Anforderung zwar berücksichtigt, ihrem Zweck aber nur unvollkommen entsprochen wird. Es müssen rechtlich erhebliche Umstände vorliegen, die das Vorhaben als einen atypischen Fall erscheinen lassen und die dadurch eine Abweichung rechtfertigen können (BayVGH, B.v. 26.9.2016 - 15 CS 16.1348 - juris Rn. 33 m.w.N.). Die Zulassung einer Abweichung von den Vorgaben des Art. 6 BayBO erfordert m.a.W. Gründe, durch die sich das Vorhaben vom Regelfall unterscheidet und die etwa bewirkte Einbußen an geschützten Nachbarrechtspositionen vertretbar erscheinen lassen (zum Ganzen vgl. z.B. BayVGH, B.v. 31.1.2018 - 2 ZB 16.2067 - juris Rn. 3 m.w.N). Wie diese sogenannte Atypik beschaffen sein muss, hängt von dem jeweiligen Einzelfall ab. Die Atypik muss sich dabei aus der besonderen städtebaulichen Situation ergeben. Eine solche kann beispielsweise im dicht bebauten innerstädtischen Bereich mit historischer Bausubstanz gegeben sein. In solchen Lagen kann auch das Interesse des Grundstückseigentümers, vorhandene Bausubstanz zu erhalten und sinnvoll zu nutzen oder bestehenden Wohnraum zu modernisieren, eine Verkürzung der Abstandsflächen durch die Zulassung einer Abweichung rechtfertigen (vgl. BayVGH, B.v. 16.7.2007 - 1 CS 07.1340 - juris; U.v. 19.3.2013 - 2 B 13.99 - BayVBl 2013, 729). Soll auch in diesen Bereichen eine zeitgemäße, den Wohnbedürfnissen entsprechende Sanierung, Instandsetzung, Aufwertung oder Erneuerung der zum Teil überalterten Bausubstanz ermöglicht werden, so kommt man im Einzelfall nicht umhin, Ausnahmen vom generalisierenden Abstandsflächenrecht zuzulassen (vgl. BayVGH, U.v. 7.10.2010 - 2 B 09.328 - juris; B.v. 15.10.2014 - 2 ZB 13.530 - juris). Dabei dürfte für die Annahme einer grundstücksbezogenen Atypik nicht irgendeine Besonderheit im Grundstückszuschnitt des Vorhabengrundstücks genügen, sondern nur eine solche, die zur Folge hat, dass die Bebaubarkeit unter Berücksichtigung von Abstandsflächenvorschriften in besonderem Maße erschwert wäre. Hingegen begründen allein Wünsche eines Eigentümers, sein Grundstück stärker auszunutzen als dies ohnehin schon zulässig wäre, keine Atypik (BayVGH, U.v. 19.3.2013 - 2 B 13.99 - juris Rn. 36).
75
Im vorliegenden Fall ist keiner der klassischen Ausnahmefälle einer atypischen Grundstückssituation gegeben. Das klägerische Grundstück liegt vielmehr im Geltungsbereich eines qualifizierten Bebauungsplans, der den rechtlichen Rahmen für die mögliche Bebauung vorgibt. Im fraglichen Bereich setzt dieser eine geschlossene Bebauung und Baugrenzen fest. Der Bebauungsplan bestimmt den Umfang der Bebauung und stellt insoweit eine Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Der Grundstückseigentümer kann sich darauf verlassen, dass sein Grundstück im Rahmen der Festsetzungen des Bebauungsplans bebaut werden kann. Es besteht jedoch grundsätzlich kein Anspruch, diesen Rahmen zu überschreiten (BayVGH, B.v. 10.5.2012 - 2 CS 12.795 - juris Rn. 29). Dass das klägerische Grundstück Teil einer Reihenhaussiedlung und in südlicher Richtung dreiecksförmig zugeschnitten ist, ändert hieran nichts, zumal das Grundstück mit einem Reiheneckhaus bebaut ist und damit den Abschluss der Häuserzeile bildet. Im Vergleich zu den benachbarten Grundstücken (FlNrn. … und …*) zeigt sich schon anhand dieses Aspekts, dass das klägerische Grundstück großzügiger ausfällt und - auch unter Beachtung der festgesetzten Baugrenzen - entsprechend umfangreicher bebaut werden kann. Eine drastische Einschränkung der Bebaubarkeit ist folglich nicht zu erkennen.
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bb) Der Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften stehen gewichtige nachbarliche Belange entgegen. Überwiegende Interessen des Klägers sind dagegen nicht vorhanden.
77
Mit der Verpflichtung zur Würdigung nachbarlicher Interessen verlangt das Gesetz eine Abwägung zwischen den für das Vorhaben sprechenden Gründen und den Belangen des Nachbarn. Die Abweichung dient daher gerade dem Interessensausgleich zwischen den Nachbarbelangen und den sonstigen öffentlichen Belangen, die durch das konkrete Bauvorhaben berührt werden. Den mit der Norm verfolgten Zielen soll dabei so weit wie möglich Rechnung getragen werden (Dhom/Simon in Busse/Kraus, 146. EL Mai 2022, BayBO Art. 63 Rn. 21). Dabei wurde die Erteilung einer Abweichung ebenfalls unter das Gebot der Rücksichtnahme gestellt, wie dies im Rahmen des § 31 Abs. 2 BauGB der Fall ist. Bei der Anwendung des Art. 63 Abs. 1 BayBO sind daher dieselben Grundsätze heranzuziehen, wie bei der Erteilung einer Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplanes nach § 31 Abs. 2 BauGB (Dhom/Simon in Busse/Kraus, 146. EL Mai 2022, BayBO Art. 63 Rn. 31 ff.). Wird folglich von Normen abgewichen, die nicht dem Nachbarschutz dienen, so hat der Nachbar nur einen Anspruch darauf, dass seine nachbarlichen Interessen mit dem ihnen zukommenden Gewicht berücksichtigt werden. Bei der Zulassung einer Abweichung von nachbarschützenden Vorschriften, wie den Abstandsflächenvorschriften, kann der Nachbar hingegen nicht nur eine ausreichende Berücksichtigung seiner Interessen beanspruchen. Er ist darüber hinaus auch dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Abweichung aus einem anderen Grund, etwa weil sie nicht mit den öffentlichen Belangen zu vereinbaren ist, (objektiv) rechtswidrig ist (vgl. BayVGH, B.v. 16.7.2007 - 1 CS 07.1340 - juris Rn. 17). Bei der Frage, ob eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften zugelassen werden kann, ist stets auch zu prüfen, ob die Schmälerung nachbarlicher Interessen durch überwiegende Interessen des Bauherrn oder überwiegende öffentliche Belange gerechtfertigt ist (vgl. BayVGH, B.v. 16.7.2007 - 1 CS 07.1340 - juris Rn. 23). Gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO ist dabei auch der Zweck der jeweiligen Anforderung‚ in diesem Fall des Abstandsflächenrechts‚ zu berücksichtigen. Der Zweck des Abstandsflächenrechts besteht darin‚ eine ausreichende Belichtung, Besonnung und Belüftung sowie die Sicherung des sozialen Wohnfriedens zu gewährleisten (vgl. zu Letzterem: BayVGH, U.v. 3.12.2014 - 1 B 14.819 - juris Rn. 14 u. 17; U.v. 5.5.2015 - 1 ZB 13.2010 - juris Rn. 5; B.v. 1.6.2012 - 15 ZB 10.1405 - juris Rn. 7; U.v. 30.5.2003 - 2 BV 02.689 - juris Rn. 43). Die gesetzlichen Ziele der Abstandsflächenvorschriften gelten für Neubauten und Umbauten gleichermaßen (vgl. BayVGH, B.v. 8.12.2011 - 15 ZB 11.1882 - juris).
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Gemessen an diesen Maßstäben kann eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften in Bezug auf das westliche Grundstück FlNr. … nicht erteilt werden, da die nachbarlichen Belange insoweit überwiegen. Unter Berücksichtigung des Zwecks der Abstandsflächenvorschriften, insbesondere der Sicherung des sozialen Wohnfriedens, beeinträchtigt der geplante Neubau einer Terrassenüberdachung die Interessen der westlich angrenzenden Nachbarn derart, dass eine Abweichung nicht erteilt werden kann. Eine überdachte Terrasse dient - wie oben bereits ausgeführt - naturgemäß als eine ins Freie verlagerte Aufenthaltsfläche und nicht nur dem kurzweiligen Verweilen. Es handelt sich mithin um eine an die Grenze gelangende Wohnnutzung, sodass nicht zuletzt auch dadurch der soziale Wohnfrieden in nicht unerheblicher Weise gestört wird. Dabei muss vor allem auch der Zweck der Privilegierungsvorschrift des Art. 6 Abs. 7 BayBO in die Abwägung miteinbezogen werden. Der Gesetzgeber hat ausweislich des Gesetzeswortlauts nur für den Fall, dass es sich um ein Gebäude ohne Aufenthaltsräume handelt, unter bestimmten baulichen Voraussetzungen die Möglichkeit der Grenzbebauung geschaffen. Eine an die Grenze gerückte Wohnbebauung wollte er gerade ausschließen, um u.a. den Einsichtsmöglichkeiten auf das nachbarliche Grundstück entgegenzuwirken. Nicht zuletzt deshalb dienen die Abstandsflächenvorschriften dem Nachbarschutz (BayVGH, U.v. 14.10.1985 - 14 B 85 A.1224 - BayVBl 1986, 143). Hinzu kommt, dass die Nachbarn hier eine massive Überschreitung der Abstandsflächen auf ihrem Grundstück zu dulden hätten. So käme die vollständige westliche Abstandsfläche der Terrassenüberdachung mit einem Ausmaß von 12,9 m2 auf dem Grundstück der Nachbarn zum Liegen. Die zukünftige Bebaubarkeit des ohnehin sehr schmalen Nachbargrundstücks wäre hierdurch stark eingeschränkt. Im Übrigen sind auch die hier generell sehr beengten örtlichen Verhältnisse bei der Entscheidung zu berücksichtigen.
79
Bei der Abwägung ist auch die sog. „Doppelhaus-Rechtsprechung“ des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 24.2.2000 - 4 C 12.98 - BVerwGE 110, 335 (359 f.) = BRS 63 Nr. 185) zu beachten, welche auch auf Reihenhäuser angewendet werden kann (OVG NRW, U.v. 19.7.2010 - 7 A 44/09 - juris Rn. 40 ff.). Dieses durch die Rechtsprechung definierte nachbarschaftliche Austauschverhältnis zwischen den Eigentümern der grenzständig bebauten Grundstücke würde im vorliegenden Fall einseitig durch den Kläger aufgehoben bzw. aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Die Errichtung der streitgegenständlichen Terrassenüberdachung würde aufgrund ihrer Tiefe von 4 m dazu führen, dass der Eindruck eines einseitigen Grenzanbaus durch den Kläger entstünde, da der durch die Baugrenze vorgegebene Rahmen der wechselseitigen Grenzbebauung massiv überschritten wäre.
80
Soweit der Kläger auf die Zustimmung der Nachbarn zu seinem Bauvorhaben abstellt, hat eine solche keine konstitutive Wirkung für die Genehmigungsfähigkeit des konkreten Bauvorhabens. Auch wenn die Nachbarn dem Bauvorhaben zugestimmt haben, entfällt nicht die eigenständige Prüfung durch die Baugenehmigungsbehörde. Bei der Ermessensentscheidung über eine Abweichung von bauaufsichtlichen Anforderungen, bei der die nachbarlichen Interessen in die Abwägung einzustellen sind, sind diese objektiv zu würdigen (vgl. BayVGH Großer Senat, B.v. 3.11.2005 - 2 BV 04.1756 u.a. - BayVBl 2006, 246). Das Landratsamt hat den Kläger im Verwaltungsverfahren auf die Möglichkeit hingewiesen, dass die Nachbarn die fehlenden Abstandsflächen auf seinem Grundstück übernehmen (Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO); dazu waren diese aber offensichtlich nicht bereit. Ein bloßer Verzicht der Nachbarn auf die Einhaltung der Abstandsflächen kann das Bauvorhaben nicht von der Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Abstandsvorschriften freistellen, da diese ungeachtet ihres (auch) nachbarschützenden Charakters nicht zur Disposition des Einzelnen stehen (vgl. OVG NRW, U.v. 15.5.1997 - 11 A 7224/95 - BauR 1997, 996).
81
Ob eine Abweichung hinsichtlich des Grundstücks FlNr. … erteilt werden könnte, braucht folglich nicht mehr entschieden werden.
82
3. Da das streitgegenständliche Vorhaben bereits aufgrund der Verletzung der Vorschriften über die Abstandsflächen und mangels der Möglichkeit der Erteilung einer Abweichung nicht genehmigungsfähig ist, brauchte nicht mehr entschieden werden, ob das Bauvorhaben im Übrigen - unter der Erteilung von Ausnahmen und Befreiungen gemäß § 31 Abs. 1 und 2 BauGB - genehmigungsfähig wäre.
83
Die Klage war daher vollumfänglich abzuweisen.
84
II. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
85
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.