Titel:
Zuständigkeit des Europäischen Staatsanwaltschaft in einem Wirtschaftsstrafverfahren – örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts für Haftbefehl und der deutschen Gerichtsbarkeit für das Hauptverfahren
Normenketten:
StPO § 162 Abs. 1
EUStA-VO Art. 22 Abs. 1 u. Abs. 2, Art. 23, Art. 27, Art. 36, Art. 120 Abs.2
Leitsätze:
1. In einem Wirtschaftsstrafverfahren wegen Steuerhinterziehung und anderer Straftaten mit einem geschätzten Gesamtschaden von rd. 13 Mio EUR ist die Zuständigkeit der Europäischen Staatsanwaltschaft – hier Zentrum München wegen Tatort im Bezirk - für das Ermittlungsverfahren und die Anklageerhebung gegeben. (Rn. 5 und 18 – 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts für den Erlass eines Haftbefehls ergibt sich aus dem Ort, in dem die Europäische Staatsanwaltschaft – hier Zentrum München – ihren Sitz hat. (Rn. 13 und 14) (redaktioneller Leitsatz)
3. Das Amtsgericht ist nicht verpflichtet, die örtliche Zuständigkeit der Europäischen Staatsanwaltschaft zu prüfen; im Ermittlungsverfahren darf das Gericht nämlich nicht prüfen, ob für das Tätigwerden der Staatsanwaltschaft eine örtliche Zuständigkeit besteht. Diese Prüfung kann allenfalls das Tatgericht nach Anklageerhebung vornehmen.(Rn. 15, 18 und 19) (redaktioneller Leitsatz)
4. Die Abtrennung eines einzelnen abschlussreifen Tatkomplexes zur Verfahrensbeschleunigung in einer Haftsache führt nicht dazu, dass die Zuständigkeit der Europäischen Staatsanwaltschaft entfällt, nur weil in dem abgetrennten Tatkomplex der Gesamtschaden unter 10 Mio EUR liegt, darüber hinaus aber die Ermittlungen in dem noch nicht abgeschlossenen Tatkomplex weitergeführt werden. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Wirtschaftsstrafverfahren, Steuerhinterziehung, Europäische Staatsanwaltschaft, Zuständigkeit, Haftbefehl, deutsche Gerichtsbarkeit
Vorinstanz:
LG München II vom -- – W10 KLs 501 Js 8/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 31766
Tenor
I. Die Fortdauer der Untersuchungshaft des Angeschuldigten B. wird angeordnet.
II. Die Haftprüfung wird für die nächsten drei Monate dem Landgericht München II - 10. Wirtschaftsstrafkammer - übertragen.
Gründe
1
Der Angeschuldigte B. befindet sich in dieser Sache aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts München vom 29.09.2021, eröffnet am 20.10.2021, ersetzt durch den Haftbefehl des Amtsgerichts München vom 07.04.2022, eröffnet am 12.04.2022, seit seiner Festnahme am 20.10.2021 ununterbrochen in Untersuchungshaft.
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Ein Urteil ist noch nicht ergangen. Dies macht die Haftprüfung durch das Oberlandesgericht gemäß §§ 121 Abs. 1, 122 Abs. 1 StPO erforderlich.
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Der Angeschuldigte hat mit Verteidigerschriftsätzen vom 03.05.2022, 05.05.2022 und 06.05.2022 im Haftprüfungsverfahren Stellung genommen. Er rügt insbesondere die Zuständigkeit der Europäischen Staatsanwaltschaft - Zentrum M. - und deutscher Gerichte. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die Verteidigerschriftsätze vom 03.05.2022 und 05.05.2022 Bezug genommen.
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Das Ermittlungsverfahren gegen den Angeschuldigten B., den Mitangeschuldigten S. und weitere Beschuldigte wegen Steuerhinterziehung im Zusammenhang mit unrichtigen Umsatzsteuererklärungen der E. GmbH mit Sitz in ... E. sowie der C. GmbH mit Sitz in ... K. wurde von der für Steuerstraftaten gemäß §§ 74c Abs. 1 Nr. 3, 143 Abs. 1 Satz 1 GVG i.V.m. § 55 Nr. 4 GZVJu für den Landgerichtsbezirk Ingolstadt örtlich zuständigen Staatsanwaltschaft M. II mit Verfügung vom 16.07.2020 eingeleitet (Az.: 65 Js 26896/20).
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Die Europäische Staatsanwaltschaft - Zentrum M. - hat mit Verfügung vom 01.06.2021 das Verfahren übernommen. Darin wurde auf die Übernahmeentscheidung vom selben Tag Bezug genommen. Daraus ergibt sich, dass die Europäische Staatsanwaltschaft das Verfahren der Staatsanwaltschaft M.II gemäß Art. 27 EUStA-VO evoziert hat. Gemäß dem Übernahmevermerk der Europäischen Staatsanwaltschaft vom 04.06.2021 waren Gegenstand des Verfahrens nunmehr nicht mehr lediglich Umsatzsteuerhinterziehungen über die E. GmbH und die C. GmbH (jeweils Finanzamt In.), sondern auch über die F. GmbH mit Sitz in Ho. (Finanzamt Er.) und das Einzelunternehmen H. eK mit Sitz in Wi. (Finanzamt An.). Es bestand der Verdacht, dass die kriminelle Vereinigung um den Rädelsführer P. - mutmaßlich Mitglied des Mafia-Clans „Ndrangheta“ - ein Umsatzsteuerbetrugssystem betreibt, indem die Mitglieder der kriminellen Vereinigung vortäuschen, Fahrzeuge über die vier oben genannten Firmen an verschiedene Gesellschaften mit Sitz in Italien, Belgien, Bulgarien, Frankreich und Portugal zu liefern, und hierbei die Steuerfreiheit der innergemeinschaftlichen Fahrzeuglieferungen geltend machten, obwohl die Fahrzeuge tatsächlich an andere Personen bzw. Gesellschaften veräußert wurden und Deutschland nicht verlassen haben. Durch die Geltendmachung der Steuerfreiheit verschaffte sich die kriminelle Vereinigung Vermarktungsvorteile, indem sie die Fahrzeuge um 19% günstiger veräußern konnte. Es bestand am 04.06.2021 der Verdacht, dass die kriminelle Vereinigung Umsatzsteuern von geschätzt 13.057.420,16 € hinterzogen hatte. Auf dieser Grundlage nahm die Europäische Staatsanwaltschaft ihre Zuständigkeit gemäß Art. 22 Abs. 1 und 2, 23, 120 Abs. 2 EUStA-VO an.
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Auf Antrag der Europäischen Staatsanwaltschaft - Zentrum M. - erließ das Amtsgericht München unter anderem am 11.08.2021, 27.09.2021, 29.09.2021, 08.10.2021, 20.10.2021, 31.01.2022, 22.02.2022 und 31.03.2022 mehrere Haftbefehle sowie eine Vielzahl von Durchsuchungs- und Arrestbeschlüssen.
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Gegenstand des Haftbefehls des Amtsgerichts München vom 29.09.2021 gegen den Angeschuldigten B. waren unter anderem Umsatzsteuerhinterziehungen der Vereinigung im Zusammenhang mit den Gesellschaften E. GmbH, C. GmbH, F. GmbH, H. eK und der tatsächlich nicht existenten F.C. mit Sitz in ... P. sowie weitere Umsatzsteuerhinterziehungen durch verschiedene Gesellschaften mit Sitz in Italien mit einem geschätzten Gesamtschaden von mindestens 10 Millionen €. Dem Angeschuldigten B. wurde im Haftbefehl vom 29.09.2021 bandenmäßige Umsatzsteuerhinterziehung in 21 Fällen jeweils in Tateinheit mit Bildung einer kriminellen Vereinigung zur Last gelegt.
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Am 28.03.2022 wurde das Verfahren gegen die Angeschuldigten B. und S. hinsichtlich des Tatkomplexes „E. GmbH“ abgetrennt. Auf Antrag der Europäischen Staatsanwaltschaft - Zentrum M. - erließ das Amtsgericht München am 07.04.2022 gegen den Angeschuldigten B. einen neuen Haftbefehl, der nunmehr bandenmäßige Umsatzsteuerhinterziehung in 19 Fällen über die E. GmbH mit einem Gesamtschaden von 973.825,84 € zum Gegenstand hat. Die Beantragung dieses neuen Haftbefehls erfolgte aufgrund des Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen, da der Komplex „E. GmbH“ nach Eingang des Schlussberichts der Steuerfahndung Au.am 31.03.2022 abschlussreif war, die Ermittlungen hinsichtlich der Umsatzsteuerhinterziehung über die C. GmbH hingegen noch andauern.
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Die Europäische Staatsanwaltschaft - Zentrum M. - hat am 27.04.2022 Anklage gegen den Angeschuldigten B. und den Mitangeschuldigten S. hinsichtlich des Tatkomplexes „E. GmbH“ zum Landgericht München II erhoben.
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Die Prüfung des Senats gemäß §§ 121 Abs. 1, 122 Abs. 1 StPO hat ergeben, dass zu Recht Untersuchungshaft angeordnet ist, eine Haftverschonung nicht in Betracht gezogen werden kann und das Verfahren wegen der besonderen Schwierigkeiten und des Umfangs der Ermittlungen noch nicht durch ein Urteil abgeschlossen werden konnte.
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1. Hinsichtlich des dringenden Tatverdachts und der Beweislage wird auf den Haftbefehl vom 07.04.2022, den Schlussbericht der Steuerfahndung Au.vom 17.03.2022, den polizeilichen Vermerk der KPI (Z) Ob. N. vom 31.03.2022 und die Ausführungen der Europäischen Staatsanwaltschaft - Zentrum M. - im Zuleitungsbericht vom 13.04.2022 (dort Ziff. 3.) verwiesen.
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Der Angeschuldigte B. ist danach der bandenmäßigen Umsatzsteuerhinterziehung in 19 Fällen im Komplex „E. GmbH“ dringend verdächtig. Der Mitangeschuldigte S. reichte für die E. GmbH beim Finanzamt In. falsche Umsatzsteuererklärungen ein, wodurch Umsatzsteuern in Höhe von insgesamt 973.825,84 € hinterzogen wurden.
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2. Der Ermittlungsrichter des Amtsgerichts München am Sitz der Europäischen Staatsanwaltschaft - Zentrum M. - war für den Erlass des Haftbefehls vom 07.04.2022 gemäß § 162 Abs. 1 Satz 1 und 2 StPO zuständig.
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a) Nach § 162 Abs. 1 Satz 1 und 2 StPO kann die Staatsanwaltschaft den Erlass eines Haftbefehls bei dem Amtsgericht beantragen, in dessen Bezirk sie ihren Sitz hat. Soweit die Staatsanwaltschaft neben anderen Untersuchungshandlungen den Erlass eines Haftbefehls beim Amtsgericht beantragt, kann es zwischen den nach § 162 Abs. 1 Satz 2 StPO und § 125 StPO zuständigen Gerichten wählen. Da die Europäische Staatsanwaltschaft - Zentrum M. - bereits zahlreiche weitere Haftbefehle sowie Durchsuchungs- und Arrestbeschlüsse beantragt hatte und diese vom Amtsgericht München jeweils erlassen worden waren, war das Amtsgericht München aufgrund der Zuständigkeitskonzentration nach § 162 Abs. 1 Satz 2 StPO auch für den Erlass des Haftbefehls vom 07.04.2022 zuständig.
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b) Das Amtsgericht München war auch nicht verpflichtet, die örtliche Zuständigkeit der Europäischen Staatsanwaltschaft - Zentrum M. - zu prüfen. Denn die Rechtmäßigkeitsprüfung nach § 162 StPO unterliegt engen Grenzen, da die Staatsanwaltschaft Herrin des Ermittlungsverfahrens ist. Das Gericht ist an die gestellten Anträge grundsätzlich gebunden und darf nur prüfen, ob eine Zuständigkeit nach § 162 Abs. 1 StPO besteht, die Staatsanwaltschaft als Ermittlungsbehörde generell zuständig ist, keine Prozesshindernisse bestehen, die einem Tätigwerden der Staatsanwaltschaft an sich im Wege stehen und die formellen und materiellen Voraussetzungen der beantragten Maßnahme vorliegen. Im Ermittlungsverfahren darf das Gericht hingegen nicht prüfen, ob für das Tätigwerden der Staatsanwaltschaft eine örtliche Zuständigkeit besteht (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 143 GVG Rn. 1; KG, Beschluss vom 01.08.2016 - 2 Ws 190/16 - 121 AR 17/16, BeckRS 2016, 110175 Rn. 10).
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(1) Die Europäische Staatsanwaltschaft hat im Übernahmevermerk vom 04.06.2021 und im ursprünglichen Haftbefehl vom 29.09.2021 dargelegt, dass durch das Umsatzsteuerbetrugssystem ein Gesamtschaden in Höhe von mindestens 10 Mio. € entstanden ist und sie deshalb gemäß Art. 22 Abs. 1 und 2, 23, 120 Abs. 2 EUStA-VO für die Verfolgung des Sachverhaltes generell zuständig ist. Die Abtrennung eines einzelnen abschlussreifen Tatkomplexes zur Verfahrensbeschleunigung in einer Haftsache führt nicht dazu, dass die Zuständigkeit der Europäischen Staatsanwaltschaft entfällt, nur weil in dem abgetrennten Teilkomplex der Gesamtschaden unter 10 Mio. € liegt. Die Europäische Staatsanwaltschaft führt die Ermittlungen hinsichtlich der noch nicht abschlussreifen Tatkomplexe auch weiter, so dass die generelle Zuständigkeit für den Gesamtkomplex fortbesteht. Gemäß dem Zuleitungsbericht der Europäischen Staatsanwaltschaft - Zentrum M. - vom 13.04.2022 (Ziff. 5.) ist Gegenstand des dort weiterhin anhängigen Ursprungsverfahrens (Az.: 501 Js 4/21) ein Umsatzsteuerbetrugssystem mit einem Gesamtschaden von 16.214.965,69 €.
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(2) Das Amtsgericht München war bei Erlass des Haftbefehls vom 07.04.2022 nicht zur Prüfung befugt, ob auch in einem anderen Mitgliedsstaat eine Gerichtsbarkeit in Betracht kommt und es ggf. zweckmäßig wäre, das Verfahren an einen Delegierten Europäischen Staatsanwalt eines anderen Mitgliedsstaates - etwa nach Italien - abzugeben.
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Eine solche Prüfung kann gemäß § 16 Abs. 2 StPO i.V.m. Art. 36 Abs. 3 EUStA-VO allenfalls das Tatgericht nach Anklageerhebung auf Einwand des Angeschuldigten durchführen. Erhebt die Europäische Staatsanwaltschaft vor einem deutschen Gericht Anklage, gelten nach Art. 36 Abs. 5 EUStA-VO für die örtliche Zuständigkeit die (allgemeinen) nationalen Regelungen. Das Tatgericht prüft dementsprechend zunächst seine örtliche Zuständigkeit nach § 16 Abs. 1 StPO von Amts wegen. § 16 Abs. 2 StPO eröffnet dem Angeschuldigten darüber hinaus die Möglichkeit, einzuwenden, die Europäische Staatsanwaltschaft sei gemäß Art. 36 Abs. 3 EUStA-VO nicht befugt, (überhaupt) vor einem Gericht in der Bundesrepublik Deutschland Anklage zu erheben. Art. 36 Abs. 3 EUStA-VO betrifft den Fall, dass für einen anzuklagenden Sachverhalt eine Gerichtsbarkeit mehrerer Mitgliedsstaaten in Betracht kommt. Dabei gilt der Grundsatz, dass die Anklageerhebung in dem Mitgliedsstaat erfolgt, in dem der mit den Ermittlungen betraute - dezentrale - Delegierte Europäische Staatsanwalt ansässig ist (Art. 36 Abs. 3 Satz 1 EUStA-VO). Hiervon abweichend kann jedoch die Ständige Kammer auf der zentralen Ebene der Europäische Staatsanwaltschaft beschließen, die Anklage in einem anderen Mitgliedsstaat zu erheben, wenn hierfür hinreichende Gründe vorliegen. Bei dieser Entscheidung hat die Ständige Kammer die sich aus Art. 26 Abs. 4, 5 EUStA-VO ergebenden Kriterien heranzuziehen (vgl. BeckOK StPO/Bachler, 43. Ed. 01.04.2022, § 16 StPO Rn. 5).
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Aus § 16 Abs. 2 StPO ergibt sich, dass eine derartige Prüfung ausschließlich das Tatgericht nach Anklageerhebung auf Einwand des Angeschuldigten, nicht aber der Ermittlungsrichter bei Erlass eines beantragten Haftbefehls im Ermittlungsverfahren durchführen darf. Dementsprechend kommt es auch im hiesigen Haftprüfungsverfahren für die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht darauf an, ob die Europäische Staatsanwaltschaft - Zentrum M. - für den nunmehr angeklagten Tatkomplex „E. GmbH“ örtlich zuständig ist.
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Im Übrigen erscheint es fernliegend, dass das Landgericht München II im Falle eines etwaigen Einwandes des Angeschuldigten zu dem Ergebnis kommen könnte, die Europäische Staatsanwaltschaft sei gemäß Art. 36 Abs. 3 EUStA-VO nicht befugt, vor einem Gericht in der Bundesrepublik Deutschland Anklage zu erheben. Tatort im Tatkomplex „E. GmbH“ ist Deutschland, da die falschen Steuererklärungen beim Finanzamt In. eingereicht wurden und dort der Steuerschaden eingetreten ist. Auch die Fahrzeugankäufe fanden in Deutschland statt. Der Angeschuldigte B. und der Mitangeschuldigten S. haben ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort jeweils in Deutschland (vgl. Art. 26 Abs. 4 Satz 2 Buchst. a) EUStA-VO) und handelten von hier aus. Zudem gilt der Grundsatz, dass die Anklageerhebung in dem Mitgliedsstaat erfolgt, in dem der mit den Ermittlungen betraute - dezentrale - Delegierte Europäische Staatsanwalt ansässig ist. Der Delegierte Europäische Staatsanwalt im Zentrum M. führt seit 01.06.2021 die umfangreichen Ermittlungen im Gesamtkomplex, nachdem er das Verfahren von der Staatsanwaltschaft M.II gemäß Art. 27 EUStA-VO evoziert hatte. Sechs Tatbeteiligte, darunter der Angeschuldigte B. und der Mitangeschuldigten S., befinden sich in Deutschland in Untersuchungshaft. Für eine Abgabe des Verfahrens nach Italien ist unter diesen Umständen keinerlei Raum.
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(3) Bei Erlass des Haftbefehls vom 07.04.2022 bestanden auch keine Prozesshindernisse. Insbesondere liegt kein Fall der verbotenen Doppelverfolgung gemäß Art. 54 SDÜ vor. Soweit der Angeschuldigte in der Verteidigerstellungnahme vom 03.05.2022 vorbringt, dass gegen ihn in Italien derzeit Voruntersuchungen hinsichtlich des Sachverhalts E. GmbH / C. GmbH wegen Betrugs, Geldwäsche, Urkundenfälschung und Wucher geführt werden, liegt insoweit keine rechtskräftige Aburteilung i.S.d. Art. 54 SDÜ vor.
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Auch die Abtrennung des abschlussreifen Takomplexes „E. GmbH“ zur Verfahrensbeschleunigung und Vorbereitung der Anklageerhebung ist nicht zu beanstanden. Denn das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. In geeigneten Fällen ist die Möglichkeit einer Teilanklage zu nutzen (KK-StPO/Schultheis, 8. Aufl. 2019, § 121 StPO Rn. 20). Es kann daher keine Rede davon sein, dass die Abtrennung „absolut unzweckmäßig und rechtswidrig“ war, wie dies die Verteidigerin im Schriftsatz vom 03.05.2022 behauptet.
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3. Bei dem Angeschuldigten B. liegt der Haftgrund der Fluchtgefahr vor, § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Ihm droht im Hinblick auf den Tatvorwurf der bandenmäßigen Umsatzsteuerhinterziehung in 19 Fällen, bei denen Umsatzsteuer in Höhe von insgesamt 973.825,84 € hinterzogen wurde, länger andauernder Freiheitsentzug, der erfahrungsgemäß einen hohen Fluchtanreiz auslöst, zumal die Europäische Staatsanwaltschaft - Zentrum M. - im Zuleitungsbericht (Seite 2) angekündigt hat, zeitnah einen zusätzlichen Haftbefehl hinsichtlich der Beteiligung des Angeschuldigten an den Umsatzsteuerhinterziehungen über die C. GmbH zu beantragen. Dieser hohe Fluchtanreiz wird durch tragfähige soziale Bindungen im Inland nicht gemindert. Der geschiedene Angeschuldigte ist italienischer Staatsangehöriger, zog in den letzten Jahren mehrmals um, flüchtete im Jahr 2014 von Italien nach Bulgarien und hielt sich dort längere Zeit versteckt. Zudem hat der Angeschuldigte Kontakte zur Mafiaorganisation Ndrangheta und ist Teil einer international agierenden Bande. Es steht daher zu befürchten, dass der Angeschuldigte im Falle seiner Freilassung erneut untertaucht, um sich dem Strafverfahren zu entziehen.
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4. Angesichts der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe ist die Untersuchungshaft nicht unverhältnismäßig, § 120 Abs. 1 Satz 1 StPO.
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Der Senat hat insoweit den grundsätzlichen Freiheitsanspruch des Angeschuldigten mit den aufgrund der Strafverfolgung gebotenen Freiheitsbeschränkungen abgewogen. Weniger einschneidende Maßnahmen nach § 116 StPO kommen bei einer Gesamtschau und Würdigung der bereits erwähnten Umstände nicht in Betracht. Für eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls fehlt es angesichts seiner Flucht im Jahr 2014 von Italien nach Bulgarien an der erforderlichen Vertrauensgrundlage. Anders als durch den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft lässt sich der staatliche Strafanspruch nicht sichern.
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5. Dem in Haftsachen zu beachtenden Beschleunigungsgebot (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 MRK, § 121 Abs. 1 StPO) wurde entsprochen.
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Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich regelmäßig das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung. Das damit ausgesprochene Beschleunigungsgebot in Haftsachen erfordert, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um zügig eine gerichtliche Entscheidung über die den Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. Ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot in Haftsachen liegt daher vor, wenn die Justiz durch in ihrer Hand liegende Maßnahmen eine erhebliche Verlängerung des Verfahrens hätte vermeiden können (Schultheis in Karlsruher Kommentar zur StPO, 8. Aufl. 2019, § 121 StPO Rn. 13). Zur Beurteilung, ob der Beschleunigungsgrundsatz eingehalten wurde, kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann (vgl. BGH, Beschluss vom 24.09.2020 - AK 31/20, BeckRS 2020, 25898 Rn. 8).
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Nach diesen Maßstäben liegen vermeidbare, den Strafverfolgungsorganen anzulastende Verzögerungen bislang nicht vor. Wegen des Ablaufs des Ermittlungsverfahrens wird Bezug genommen auf den Zuleitungsbericht der Europäischen Staatsanwaltschaft - Zentrum M. - vom 13.04.2022 (dort Ziff. 4.), der den Beteiligten bekannt gemacht wurde. Gegenstand des Gesamtverfahrens ist ein groß angelegtes Umsatzsteuerbetrugssystem mit Fahrzeuglieferungen an sog. Missing Trader insbesondere in Italien, Bulgarien und Frankreich. Das Verfahren richtet sich gegen insgesamt 22 Beschuldigte, wovon bislang sechs Beschuldigte in Deutschland, fünf Beschuldigte in Italien und eine Beschuldigte in Bulgarien festgenommen wurden. Am 20.10.2021 wurden zahlreiche Durchsuchungsbeschlüsse, Vermögensarreste und Haftbefehle in Deutschland, Italien und Bulgarien vollzogen. Allein in Italien wurden 30 Objekte durchsucht. Bislang wurden 40 Ersuchen an Kollegen in den teilnehmenden Mitgliedsstaaten in Italien, Bulgarien, Frankreich, Lettland, Malta, Slowenien, Portugal und Niederlande sowie zwei Europäische Ermittlungsanordnungen nach Ungarn gestellt. Es handelt sich um äußerst umfangreiche und komplexe Ermittlungen mit starkem Auslandsbezug gegen eine international agierende Gruppierung. Allein die Hauptakten umfassen derzeit rund 4.500 Blatt. Es mussten umfangreiche - insbesondere elektronische - Beweismittel übersetzt und ausgewertet werden. Die Auswertung der Asservate und die sonstigen Ermittlungen wurden jederzeit beschleunigt durchgeführt, insoweit wird auf die Vielzahl der meist wöchentlich erstellten Aktenvermerke der Steuerfahndungsstelle Augsburg sowie der KPI (Z) Ob. N. zwischen dem 25.10.2021 und dem 06.04.2022 Bezug genommen. Der Mitangeschuldigte S. wurde am 10.03.2022 festgenommen. Am 28.03.2022 wurde das Verfahren gegen die Angeschuldigten B. und S. hinsichtlich des Tatkomplexes „E. GmbH“ aufgrund der gebotenen Verfahrensbeschleunigung abgetrennt. Der Schlussbericht der Steuerfahndung Au.vom 17.03.2022 hinsichtlich des Tatkomplexes „E. GmbH“ ging bei der Europäischen Staatsanwaltschaft - Zentrum M. - am 31.03.2022 ein. Die Auswertung der sichergestellten Geschäftsunterlagen und elektronischen Asservate hinsichtlich des Komplexes „E. GmbH“ war am 31.03.2022 abgeschlossen. Der Vermerk der KPI (Z) Ob. N. vom 31.03.2022 zu Strukturerkenntnissen zur E. GmbH ist ebenfalls am 31.03.2022 eingegangen. Die Europäische Staatsanwaltschaft - Zentrum M. - hat zwischenzeitlich mit Anklageschrift vom 22.04.2022 Anklage zum Landgericht München II erhoben. Bei der 10. Wirtschaftsstrafkammer ist seit 27.04.2022 das Zwischenverfahren anhängig.
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Von einem zügigen Fortgang des Verfahrens und dessen zeitnahem Abschluss kann daher ausgegangen werden.
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6. Der Durchführung einer mündlichen Haftprüfung durch den Senat - wie vom Angeschuldigten mit Verteidigerschriftsatz vom 03.05.2022 beantragt - bedurfte es nicht. Nach § 122 Abs. 2 Satz 2 StPO kann das Oberlandesgericht nach seinem Ermessen auf Grund mündlicher Verhandlung entscheiden (KK-StPO/Schultheis, 8. Aufl. 2019, § 122 StPO Rn. 8); an entsprechende Anträge der Verfahrensbeteiligten ist es nicht gebunden (BeckOK StPO/Krauß, 43. Ed. 01.04.2022, § 122 StPO Rn. 4). Da die Europäische Staatsanwaltschaft aufgrund der in Haftsachen besonders gebotenen Verfahrensbeschleunigung den Verfahrenskomplex „E. GmbH“ abgetrennt sowie zwischenzeitlich Anklage gegen den sich nunmehr knapp sieben Monaten in Untersuchungshaft befindlichen Angeschuldigten erhoben hat und auch weiterhin mit einem zügigen Fortgang des Verfahrens zu rechnen ist, erscheint unter Abwägung aller Umstände eine mündliche Haftprüfung durch den Senat nicht veranlasst.
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7. Die Übertragung der weiteren Haftprüfung beruht auf § 122 Abs. 3 Satz 3 StPO.