Titel:
Anfechtbarkeit der Zurückweisung eines Befangenheitsgesuchs gegen Berufungsrichter nach Verwerfungsurteil und vor Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist
Normenkette:
StPO § 28 Abs. 2 S. 2, § 329 Abs. 1, Abs. 7
Leitsatz:
Die Eigenschaft als erkennender Richter iSv § 28 Abs. 2 S. 2 StPO endet grundsätzlich mit Erlass des Urteils, im Falle des § 329 Abs. 1 StPO jedoch erst mit Ablauf der Frist zur Stellung eines Wiedereinsetzungsgesuchs bzw. dessen rechtskräftiger Zurückweisung (so unter anderem auch OLG Düsseldorf BeckRS 2003, 5516, OLG Hamm BeckRS 2005, 7843; aA etwa OLG Stuttgart BeckRS 2018, 2269). (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Berufung, Akteneinsichtsgesuch, Ausbleiben des Angeklagten, Verwerfungsurteil, Befangenheitsgesuch, Ablehnung, Anfechtung, sofortige Beschwerde, erkennender Richter
Fundstelle:
BeckRS 2022, 31754
Tenor
I. Die sofortige Beschwerde des Angeklagten S.-H. gegen den Beschluss des Landgerichts München I vom 22. Juli 2021, mit dem sein Antrag auf Ablehnung des Vorsitzenden Richters am Landgericht S. wegen Besorgnis der Befangenheit zurückgewiesen wurde, wird als unzulässig verworfen.
II. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Gründe
1
Das Amtsgericht München erließ auf Antrag der Staatsanwaltschaft M. I am 22.07.2019 gegen den Angeklagten einen Strafbefehl mit einer Geldstrafe von 35 Tagessätzen zu je 40 € wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort. Nach Einspruch des Angeklagten, vertreten durch seinen Verteidiger, verurteilte das Amtsgericht München den Angeklagten nach Durchführung der Beweisaufnahme in dem - mehrfach verlegten - Termin zur Haupthandlung am 22.09.2020 mit Urteil vom selben Tag wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 160 €.
2
Gegen dieses Urteil legten Staatsanwaltschaft und der Angeklagte, dieser vertreten durch seinen Verteidiger, Berufung ein. Nach Abtrennung der Berufung der Staatsanwaltschaft verwarf das Landgericht München I im Termin zur Berufungshauptverhandlung am 28.04.2021 die Berufung des Angeklagten, nachdem weder dieser noch sein Verteidiger zum Termin erschienen waren. Das Urteil wurde dem Verteidiger des Angeklagten am 25.05.2021 zugestellt.
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Mit Schriftsatz vom 01.06.2021 beantragte der Angeklagte, vertreten durch seinen Verteidiger, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und legte zugleich Revision gegen das Urteil vom 28.04.2021 ein.
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Mit Verteidigerschriftsatz vom 01.07.2021 lehnte der Angeklagte den Vorsitzenden Richter am Landgericht S. wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Zur Begründung wurde genannt, dass das Gericht den Antrag auf Akteneinsicht vom 20.04.2021, bei Gericht eingegangen am 21.04.2021, am 22.04.2021 dahingehend verbeschieden hatte, dass wegen des kurz bevorstehenden Termins zur Berufungshauptverhandlung Akteneinsicht nur auf der Geschäftsstelle gewährt werde. Auch nachfolgende Akteneinsichtsgesuche seien inhaltlich im Wesentlichen in gleicher Weise verbeschieden worden. Damit habe das Gericht das zentrale Recht des Angeklagten auf Akteneinsicht vor einem Hauptverhandlungstermin verletzt und die Verteidigung behindert.
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Mit weiterem Verteidigerschriftsatz vom 02.07.2021 wurden die Kammermitglieder Richter am Landgericht E. und Richterin am Landgericht P.-L. „höchst vorsorglich“ abgelehnt.
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Mit Beschluss des Landgerichts München I vom 22.07.2021 wies die zur Entscheidung berufene Richterin die Befangenheitsanträge gegen die vorbenannten Mitglieder der 26. Strafkammer zurück. Diese Entscheidung wurde dem Angeklagten persönlich per PZU am 27.07.2021 zugestellt.
7
Nachfolgend hat der zur Entscheidung berufende Richter am Landgericht E. mit Beschluss ebenfalls vom 22.07.2022 den Befangenheitsantrag gegen den Vorsitzenden Richter am Landgericht S. als unbegründet zurückgewiesen. Die Zustellung dieser Entscheidung wurde an den Verteidiger des Angeklagten gegen Empfangsbekenntnis angeordnet. Die Verfügung wurde am 23.07.2021 ausgeführt. Ein Empfangsbekenntnis ist trotz mehrfacher Monierung durch die Geschäftsstelle entgegen § 14 BORA nicht zu den Akten gelangt.
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Akteneinsicht auf die Kanzlei wurde mit Verfügung 23.07.2021 gewährt und genommen.
9
Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 23.08.2021, beim Landgericht eingegangen am selben Tag, legte der Angeklagte gegen den Beschluss des Landgerichts München I vom 22.07.2021 betreffend den Vorsitzenden Richter am Landgericht München I S. sofortige Beschwerde ein. Zugleich lehnte er den Vorsitzenden Richter am Landgericht sowie den Richter am Landgericht E. erneut wegen Befangenheit ab. Im Beschwerdeschriftsatz wird vorgetragen (Seite 3 oben), dass der Beschluss vom 22.07.2021 am 14.08.2021 per Empfangsbekenntnis zugestellt worden sei.
10
Die Akten wurden dem Senat auf Vermittlung der Generalstaatsanwaltschaft am 11.04.2022 zur Entscheidung vorgelegt. Für die Einzelheiten wird auf die genannten Schriftstücke Bezug genommen.
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Die sofortige Beschwerde ist gem. § 28 Abs. 2 S. 2 StPO unstatthaft und damit unzulässig. Die Anfechtung ist ausgeschlossen, weil die Entscheidung einen erkennenden Richter betrifft.
12
Zwar endet die Eigenschaft als erkennender Richter grundsätzlich mit Erlass des Urteils. Im Falle des § 329 Abs. 1 StPO ist jedoch erst mit Ablauf der Frist zur Stellung eines Wiedereinsetzungsgesuchs bzw. dessen rechtskräftiger Zurückweisung die Eigenschaft als erkennender Richter entfallen. In dieser Verfahrenssituation besteht die Besonderheit, dass der abgelehnte Richter, der an der Urteilsfällung mitgewirkt hat, ggf. auf Grund einer neuen Hauptverhandlung über den Anklagevorwurf entscheiden muss, wenn dem Angeklagten gem. § 329 Abs. 7 StPO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bewilligt wird (§ 329 Abs. 7 StPO entspricht inhaltsgleich § 329 Abs. 3 StPO in der bis zum 24.07.2015 geltenden Fassung, auf den hier zitierte ältere Rechtsprechung und Literatur Bezug nehmen). Aus diesem Grunde endet die Eigenschaft als erkennender Richter erst mit Ablauf der Frist zur Stellung des Wiedereinsetzungsgesuchs bzw. mit dessen rechtskräftiger Zurückweisung, da erst dann feststeht, dass der Spruchkörper, dem der abgelehnte Richter angehört, nicht mehr mit einer Entscheidung über den Anklagevorwurf befasst sein wird (OLG Düsseldorf NStZ-RR 2004, 47; OLG Hamm NStZ-RR 2005, 267; NStZ 2021, 122; OLG Hamm, B.v. 17.09.2020 - III-4 Ws 167/20 -, juris; OLG Dresden B.v. 03.09.2013 - 2 Ws 455/13, BeckOK StPO/Cirener, 42. Ed. 1.1.2022, StPO § 28 Rn. 8.8-9; BeckOK StPO/Eschelbach, 42. Ed. 1.1.2022, StPO § 329 Rn. 58). Dieser überzeugenden vorherrschenden Ansicht in der obergerichtlichen Rechtsprechung schließt sich der Senat an und hält an seiner früher vertretenen Auffassung (OLG München MDR 1982, 773) nicht mehr fest (vgl. auch - jeweils ohne nähere Begründung: MüKoStPO/Conen/Tsambikakis, 1. Aufl. 2014, StPO § 28 Rn. 22; OLG Stuttgart BeckRS 2018, 2269; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl. 2021, § 28 Rn. 6). Denn dies entspricht der gesetzgeberischen Entscheidung einer einheitlichen Anfechtung des Urteils. Dies gilt auch im Falle der Ablehnung der Wiedereinsetzung durch die dann möglichen Rechtsmittel.
13
Zum Zeitpunkt der Ablehnung wegen Befangenheit war über den Wiedereinsetzungsantrag vom 01.06.2021 noch nicht entschieden. Damit betrifft das Ablehnungsgesuch einen erkennenden Richter iS. von § 28 Abs. 2 S. 2 StPO.
14
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 473 Abs. 1 StPO.