Inhalt

OLG München, Beschluss v. 27.01.2022 – 2 Ws 16/22 H
Titel:

besonderes Haftprüfungsverfahren gilt nicht für die Zeit der einstweiligen Unterbringung Jugendlicher

Normenketten:
JGG § 71 Abs. 2, § 72 Abs. 4 S. 1, S. 2
StPO 3 114, § 120, § 121, § 122
Leitsatz:
Die Vorschriften über das besondere Haftprüfungsverfahren gem. § 121, § 122 StPO gelten nicht für die Zeit der einstweiligen Unterbringung von Jugendlichen in einem Heim der Jugendhilfe nach § 71 Abs. 2, § 72 Abs. 4 JGG. Das gilt auch dann, wenn der Unterbringungsbefehl nachträglich durch einen Haftbefehl ersetzt und dieser in unmittelbarem Anschluss an die Unterbringung vollzogen wird (Bestätigung und Fortführung von OLG Hamm BeckRS 2017, 122502 und OLG Stuttgart BeckRS 2018, 35353). (Rn. 1 und 7 – 12) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Untersuchungshaft, Jugendgerichtsverfahren, Einstweilige Heimunterbringung, besondere Haftprüfung
Fundstelle:
BeckRS 2022, 31751

Tenor

Eine Entscheidung des Senats über die Fortdauer der Untersuchungshaft des Angeschuldigten A. nach den §§ 121, 122 StPO ist derzeit nicht veranlasst.

Gründe

I.
1
Der am 20.05.2021 vorläufig festgenommene Angeschuldigte A. befand sich in dieser Sache zunächst aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts München vom 21.05.2021 (Az.: ER XIV Gs 381/21), eröffnet am selben Tage, bis 17.06.2021 in Untersuchungshaft. Am 17.06.2021 hat das Amtsgericht den Haftbefehl aufgehoben und durch einen Unterbringungsbefehl nach § 72 Abs. 4 S.1 JGG ersetzt, aufgrund dessen sich der Angeschuldigte vom 17.06.2021 bis zum 02.01.2022 in einem Heim der Jugendhilfe befand. Nachdem er von dort am 02.01.2022 entwichen war, erließ das Amtsgericht München am 03.01.2022 (Az.: 1022 Ls 454 Js 203725/20) erneut einen Haftbefehl, aufgrund dessen der Angeschuldigte am 07.01.2022 festgenommen und der ihm am 08.01.2022 eröffnet wurde. Seither befindet er sich ununterbrochen in Untersuchungshaft.
2
Die Staatsanwaltschaft hat die Akten mit Vorlagebericht vom 11.01.2022 dem Senat zur Haftprüfung nach den §§ 121, 122 StPO vorgelegt.
II.
3
Eine Entscheidung des Senats über die Fortdauer der Untersuchungshaft nach den §§ 121, 122 StPO ist derzeit nicht veranlasst. Denn der Angeschuldigte befindet sich in dieser Sache erst anderthalb Monate in Untersuchungshaft; die Dauer seiner Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe nach § 72 Abs. 4 S.1 JGG ist bei der Berechnung der Frist nach § 121 Abs. 1 StPO nicht zu berücksichtigen.
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1. Zwar ist diese Frage in Rechtsprechung und Literatur umstritten. So wird insbesondere vertreten, dass die Dauer einer einstweiligen Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe nach § 72 Abs. 4 S.1 JGG stets zu berücksichtigen sei (MüKo-Böhm, StPO, 1. Aufl. 2014, Rn. 24 zu § 121; Eisenberg/Kölbel, JGG, 22. Aufl. 2021, Rn. 13 zu § 72 m.w.N.).
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Nach Auffassung des OLG Dresden (OLG-NL 1994/164) und des OLG Karlsruhe (NStZ 1997/452) gilt dies jedenfalls dann, wenn der Unterbringungsbefehl nach § 72 Abs. 4 S.2 JGG durch einen Haftbefehl ersetzt und dieser in unmittelbarem Anschluss an die Unterbringung vollzogen wird. Begründet wird dies damit, dass sich der Jugendliche dann in der gleichen Situation befände, wie wenn der Haftbefehl auch schon während der Zeit der einstweiligen Unterbringung anstatt dieser vollzogen worden wäre; wegen der kontinuierlich fortdauernden Freiheitsentziehung unter dem Fortbestehen der Voraussetzungen eines Haftbefehls sei dem Jugendlichen der Schutz der besonderen Haftprüfung nach § 121 StPO zu gewähren.
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2. Diese Auffassung vermag nicht zu überzeugen.
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a) Das Gesetz sieht eine regelhafte Überprüfung durch das Oberlandesgericht für diesen Fall nicht vor, und es besteht auch keine planwidrige Regelungslücke, die eine entsprechende Anwendung der Vorschriften des § 121 StPO auch für die Dauer einer Unterbringung nach § 72 Abs. 4 S.1 JGG gebieten würde.
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Denn wie das OLG Stuttgart (BeckRS 2018, 35353) zutreffend ausführt, hat der Gesetzgeber durch das 1. JGGÄndG vom 30.08.1990 (BGBl. I 1990 S. 1853) eindeutig geregelt, welche Vorschriften des allgemeinen Haftrechts für die Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe anzuwenden sind. Die §§ 121, 122 StPO sind hierbei explizit ausgenommen, § 71 Abs. 2 S. 2 JGG. Auch durch das Gesetz vom 16.07.2007 (BGBl. I 2007, S. 1327), durch das die regelhafte Überprüfung durch das Oberlandesgericht im Falle einer einstweiligen Unterbringung nach § 126 a StPO eingeführt wurde, hat der Gesetzgeber eine entsprechende Erstreckung auf die Unterbringung eines Jugendlichen in einem Heim der Jugendhilfe nicht vorgenommen. Es ist daher von einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers auszugehen, die Dauer der Unterbringung eines Jugendlichen in einer Einrichtung der Jugendhilfe gerade nicht in die Regelüberprüfung durch das Oberlandesgericht mit einzubeziehen.
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In diesem Sinne haben auch das OLG Bamberg (StrFo 2015/329) und das OLG Naumburg (Beschluss vom 07.05.2001 - HEs 16/01) entschieden. Zudem verfolgen Untersuchungshaft einerseits und einstweilige Unterbringung nach den §§ 72 Abs. 4 S.1, 71 Abs. 2 JGG andererseits unterschiedliche Ziele: denn während Zweck der Untersuchungshaft die Verfahrenssicherung als solche ist, sollen durch die einstweilige Unterbringung zuvörderst die erzieherischen Ziele des Jugendstrafverfahrens gesichert werden. Dies wird auch dadurch deutlich, dass mit der Anordnung der einstweiligen Unterbringung nach § 72 Abs. 4 S.1 JGG der vorbestehende Haftbefehl aufgehoben wird bzw. umgekehrt nach § 72 Abs. 4 S.2 JGG der Unterbringungsbefehl durch einen Haftbefehl ersetzt werden kann. Die Unterbringung stellt sich also auch verfahrensrechtlich nicht als eine irgend geartete Fortsetzung der Untersuchungshaft dar wie etwa im Falle einer Außervollzugsetzung des Haftbefehls. Sie ist vielmehr ein aliud zu dieser.
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b) Etwas anderes muss auch nicht dann gelten, wenn der Unterbringungsbefehl durch einen Haftbefehl ersetzt wird und sich an die Dauer der einstweiligen Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe unmittelbar Untersuchungshaft anschließt.
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Für diese vom OLG Dresden und OLG Karlsruhe vertretene Auffassung gibt es keinen gesetzlichen Anhalt. Insbesondere erschließt sich nicht, warum der (nachträgliche) Erlass eines Haftbefehls dazu führen soll, dass die Dauer der - als solcher nicht überprüfungspflichtigen - Unterbringung nun rückwirkend der Frist des § 121 StPO unterstellt wird. Durch den Umstand, dass ein Haftbefehl erlassen wurde, verändert sich nicht die Rechtsqualität der zuvor stattgehabten Unterbringung. Deswegen kann deren Dauer auch nicht durch ein späteres prozessuales Ereignis - nämlich den Erlass eines Haftbefehls - eine Bedeutung erlangen, die sie vorher nicht hatte.
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Dies hat bereits das OLG Hamm (BeckRS 2017, 122502) überzeugend dargelegt, dessen Ausführungen sich der Senat anschließt.
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c) Hierdurch wird der Jugendliche im Übrigen auch nicht rechtlos gestellt. Denn die grundrechtssichernden Verfahrensgarantien wie insbesondere die Unschuldsvermutung, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das Beschleunigungsgebot gelten selbstverständlich in gleichem Maße und sind von den Strafverfolgungsbehörden und dem Ermittlungsrichter bzw. dem mit der Sache befassten Gericht in jeder Lage des Verfahrens zu beachten; einzig die Regelüberprüfung nach den §§ 121, 122 StPO findet erst dann statt, wenn die Untersuchungshaft (und nur diese) sechs Monate lang vollzogen worden ist.