Titel:
Erfolgloser Abänderungsantrag eines russischen Asylantragstellers infolge des Ukraine-Kriegs
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 7
AsylG § 3e, § 4
Leitsätze:
1. Dafür, dass die Russische Föderation aus Anlass des Krieges mit der Ukraine im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts über die Altersgruppe der wehrpflichtigen 18- bis 27-Jährigen hinaus im Rahmen einer Teil- oder Generalmobilmachung weitere Jahrgänge zu den Streitkräften einziehen würde oder dies in absehbarer Zeit bevorstünde, ist aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln nichts ersichtlich. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es besteht für den tschetschenischen Antragsteller auch keine Gefahr der Zwangsrekrutierung in Tschetschenien, weil ihm interner Schutz in der übrigen russischen Föderation zur Verfügung steht. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Russische Föderation: keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Generalmobilmachung, keine Gefahr der Zwangsrekrutierung in Tschetschenien, da inländische Fluchtalternative, Russland, Tschetschenien, Abänderungsantrag, Mobilmachung, Zwangsrekrutierung, interner Schutz, inländische Fluchtalternative, Ukraine
Fundstelle:
BeckRS 2022, 31726
Tenor
1. Der Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO wird abgelehnt.
2. Der Antragsteller trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens nach § 80 Abs. 7 VwGO.
Gründe
1
Der Antragsteller ist Staatsangehöriger der Russischen Föderationundtschetschenischer Volkszugehörigkeit. Nach eigenen Angaben reiste er am 6. Juli 2020 auf dem Seeweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 31. Juli 2020 Asyl. Nach einem ersten Asylantrag in Deutschland vom 9. Januar 2018 war er auf Grundlage des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden Bundesamt) vom 24. Januar 2018 und den Vorschriften der der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin-III-VO) am 6. August 2018 an Finnland überstellt worden.
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Gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden Bundesamt) gab der Antragsteller im Wesentlichen an, er habe nach seiner Überstellung von Deutschland an Finnland im Rahmen des Dublin-Verfahrens im Jahr 2018 in Finnland Asyl beantragt. Da er eine Abschiebung in sein Herkunftsland befürchtet habe, sei er aber nach Deutschland zurückgekommen. Sein Asylantrag sei in Finnland abgelehnt worden. Neue Asylgründe oder Beweismittel habe er nicht; auch im finnischen Asylverfahren habe er die selben Fluchtgründe bereits vorgetragen. Letztmals sei er telefonisch bedroht worden, als er sich noch in Finnland aufgehalten habe.
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Der Antragsteller legte dem Bundesamt zu seinen in Finnland durchgeführten Asylverfahren u.a. die ablehnende Entscheidung der finnischen Behörden vom 11. Dezember 2018 und die ablehnende Entscheidung des Obersten Verwaltungsgerichts Finnlands vom 3. April 2020 sowie die ablehnende Entscheidung der finnischen Behörden vom 15. Mai 2020 über den Folgeantrag des Antragstellers vom 7. Mai 2020 vor.
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Für den Antragsteller liegen EURODAC-Treffer der Kategorie 1 für Finnland (Antragstellung am 6. August 2018 in Helsinki und am 7. Mai 2020 in Pori) vor (Bl. 60 f. der Behördenakte).
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Am 14. August 2020 stellte das Bundesamt ein Wiederaufnahmegesuch nach der Dublin-III-VO an Finnland, dem von den finnischen Behörden mit Schreiben vom 17. August 2020 entsprochen wurde.
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Mit Bescheid des Bundesamtes vom 17. August 2020 wurde der Asylantrag des Antragstellers als unzulässig abgelehnt (Ziffer 1 des Bescheides) und festgestellt, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) vorliegen (Ziffer 2 des Bescheides). Die Abschiebung nach Finnland wurde angeordnet (Ziffer 3 des Bescheides) und das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4 des Bescheides).
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Den Bescheid vom 17. August 2020 hob das Bundesamt nach Ablauf der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO mit Schriftsatz vom 23. Februar 2021 auf.
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Mit weiterem Bescheid vom 24. August 2021 wurde der Antrag des Antragstellers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus als unzulässig abgelehnt (Ziffer 1 des Bescheides). Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2 des Bescheides). Der Antragsteller wurdeaufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Ihmwurde die Abschiebung in die Russische Föderation oder in einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht; die Vollziehung der Abschiebungsandrohung und der Lauf der Ausreisefrist wurden bis zum Ablauf der Klagefrist und für den Fall eines fristgerechten Antrages auf Eilrechtsschutz bis zur Bekanntgabe der Ablehnung dieses Antrages durch das Verwaltungsgericht ausgesetzt (Ziffer 3 des Bescheides). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4 des Bescheides). Auf die Begründung des Bescheides wird Bezug genommen, § 77 Abs. 2 des Asylgesetzes (AsylG). Der Bescheid am 26. August per Einschreiben an den Bevollmächtigten des Antragstellers versandt.
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Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom28. August 2021, eingegangen beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth am gleichen Tage, ließ der Antragsteller Klage gegen den Bescheid vom 24. August 2021 erheben (B 9 K 21.30642) und zugleich beantragen, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung in Ziffer 3. des Bescheides vom 24. August 2021 anzuordnen (B 9 S 21.30641).
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Mit Beschluss vom 14. September 2021 lehnte das Bayerische Verwaltungsgericht Bayreuth den Antrag im Verfahren B 9 S 21.30641 ab.
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Der Antragsteller ließ mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 12. September 2022, eingegangen beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth am gleichen Tage, beantragen,
den im Verfahren B 9 S 21.30641 ergangenen Beschluss des Gerichts vom 14. September 2021 gemäß § 80 Abs. 7 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) abzuändern und auf Antrag des Antragstellers die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die Abschiebungsandrohung in Ziffer 3. des angefochtenen Bescheides der Antragsgegnerin vom 24. August 2021 anzuordnen.
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Zur Begründung wurde ausgeführt, es liege eine nachträgliche Änderung der Sachlage vor. Der Antragsteller mache geltend, dass er im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine befürchte, durch das russische Militär oder das Kadyrow-Regime zwangsweise für den Kriegsdienst in der Ukraine rekrutiert zu werden. Russische Wehrdienstleistende würden zum Teil zur Unterzeichnung von Verträgen gezwungen, um sie als Vertragssoldaten auch in der Ukraine einzusetzen. Die Wehrpflicht gelte für alle männlichen russischen Staatsangehörigen zwischen 18 und 27 Jahren, es würden dabei auch Männer aus Tschetschenien rekrutiert. Insbesondere seit dem Juni 2022 und der Geländegewinne ukrainischer Streitkräfte in den letzten Wochen sowie der zu vermutenden schlechten Kampfmoral bei den russischen Streitkräften bestehe ein anhaltend hoher Bedarf an Soldaten auf russischer Seite, weshalb bereits auf eine Generalmobilmachung spekuliert werde. Insbesondere durch das Regime des Oberhauptes der Tschetschenischen Republik, Kadyrow, erfolgten willkürliche Zwangsrekrutierungen.
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Für die Antragsgegnerin beantragte das Bundesamt mit Schriftsatz vom15. September 2022, den Antrag abzulehnen.
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Der 37-jährige Antragsteller habe nach eigenen Angaben bereits Wehrdienst geleistet und sei aktuell nicht wehrpflichtig. Von einer Generalmobilmachung in der Russischen Föderation sei aktuell nichts bekannt. Einem eventuell erhöhten Risiko einer Zwangsrekrutierung in Tschetschenien könne der Antragsteller durch eine Wohnsitznahme in einem anderen Teil der Russischen Föderation ausweichen, er habe bereits vor seiner Ausreise großteils in Sibirien gelebt und gearbeitet.
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Ergänzend wird entsprechend § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO auf die Gerichtsakte und die vorgelegten Behördenakten sowie die Akten der Verfahren B 9 S 21.30641 und B 9 K 21.30642 und die dort vorgelegten Behördenakten verwiesen.
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1. Der zulässige Antrag hat in der Sache keinen Erfolg.
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a) Gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO können die Beteiligten die Aufhebung oder Änderung von Beschlüssen nach § 80 Abs. 5 VwGO wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen. Dies umfasst neben der Veränderung der für die Entscheidung maßgeblichen Sach- oder Rechtslage auch die Veränderung der Prozesslage, insbesondere, wenn für die Entscheidung neue Beweismittel zur Verfügung stehen, die ergeben, dass die bisherige Entscheidung überholt ist oder jedenfalls neu überdacht werden muss (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 28. Aufl. 2022, § 80, Rn. 197). Abgesehen von den Voraussetzungen des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO ist der Streitgegenstand im Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO derselbe wie im Ausgangsverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO, d.h. auch der Prüfungsmaßstab ist insoweit der Gleiche (vgl. Hoppe in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80, Rn. 134).
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b) Zwar liegen die Voraussetzungen des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO hier insoweit vor, als mit dem Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine eine neue Sachlage auch im Herkunftsland des Antragstellers gegeben ist. Im Ergebnis besteht aber auch unter Berücksichtigung der jüngsten Entwicklungen in diesem Zusammenhang kein Anlass dafür, den Beschluss vom 14. September 2021 im Verfahren B 9 S 21.20641 abzuändern:
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c) Es kann dahinstehen, ob der Antragsteller, wenn er in seinem Herkunftsland von den russischen Streitkräften (zwangs-)rekrutiert werden würde, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen würde, auch im Kriegsgebiet in der Ukraine eingesetzt zu werden (vgl. zum Einsatz russischer Wehrpflichtiger in der Ukraine ACCORD, Anfragebeantwortung zur Russischen Föderation: 1) Allgemeine Informationen zur russischen Armee und zur Wehrpflicht, Generalmobilmachung, Einberufung von Reservisten; 2) Einsatz von Wehrpflichtigen in der Ukraine; 3) Möglichkeiten von Zivildienst; 4) Weigerung an Kampfhandlungen teilzunehmen, Wehrdienstverweigerung, Desertion; 5) Einsatz von Männern aus Tschetschenien; 6) Sind die Soldatenmütter aktiv? [a-11873-2], vom 16.5.2022). Wenn dies so wäre, würde ihm mangels Anknüpfung an eines der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Merkmale zwar keine die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtfertigende Verfolgung drohen. Ebenso könnte nicht von einem drohenden ernsthaften Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ausgegangen werden, da der Antragsteller dann als Angehöriger der regulären Streitkräfte der Russischen Föderation keine Zivilperson im Sinne der genannten Vorschrift darstellen würde (vgl. Art. 50 Abs. 1 Satz 1 des Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen vom 12.8.1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte - Genfer Zusatzprotokoll I i.V.m. Art. 4 lit. A) Nr. 1 des III. Genfer Abkommens vom 12.8.1949 über die Behandlung der Kriegsgefangenen - III. Genfer Abkommen). Zumindest käme in diesem Fall wegen der Kampfhandlungen zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine jedoch ein ihm drohender ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG in Form einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in Betracht.
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d) Allerdings ist hier schon nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 16.4.1985 - 9 C 109.84 - BVerwGE 71, 180) davon auszugehen, dass der Antragsteller überhaupt gegen seinen Willen zu den Streitkräften eingezogen würde.
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aa) Der Wehrpflicht unterliegen in der Russischen Föderation alle männlichen Staatsangehörigen im Alter zwischen 18 und 27 Jahren (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Russische Föderation, 10.6.2021, S. 37 m.w.N.). Der Antragsteller ist jedoch bereits 37 Jahre alt. Dafür, dass die Russische Föderation aus Anlass des Krieges mit der Ukraine im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts über die genannte Altersgruppe hinaus im Rahmen einer Teil- oder Generalmobilmachung weitere Jahrgänge zu den Streitkräften einziehen würde, ist aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln nichts ersichtlich. Es ist auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass eine solche Mobilmachung, von der auch der Antragsteller betroffen sein könnte, in absehbarer Zeit bevorstehen würde. Im Gegenteil haben offizielle russische Stellen dies erst jüngst dementiert (vgl. FAZ, „Kreml: Derzeit keine Generalmobilmachung in Russland geplant“, vom 13.9.2022, https://www.faz.net/agenturmeldungen/dpa/kreml-derzeit-keine-generalmobilmachung-in-russland-geplant-18313366.html, abgerufen am 15.9.2022). Eine solche Mobilmachung wird auch sonst für unwahrscheinlich gehalten, insbesondere, da sie nicht mit dem russischen Narrativ einer nach Plan verlaufenden, begrenzten „Spezialoperation“ zu vereinbaren und innenpolitisch kaum zu vermitteln wäre (vgl. Focus, „Einen Schritt scheut Putin ‚wie der Teufel das Weihwasser‘, vom 19.8.2022, https://www.focus.de/politik/ausland/ukraine-krise/carlo-masala-im-interview-militaerexperte-erklaert-warum-putin-vor-der-grossen-mobilmachung-angst-hat_id_136708549.html, abgerufen am 15.9.2022; Bayerischer Rundfunk, „‚Putin im Feuerring‘: So streitet Russland über Mobilisierung“, vom 14.9.2022, https://www.br.de/nachrichten/kultur/putin-im-feuerring-so-streitet-russland-ueber-mobilisierung,THQ3sKb, abgerufen am 15.9.2022). Jedenfalls derzeit kann also nicht generell davon ausgegangen werden, dass ein 37-jähriger Staatsangehöriger der Russischen Föderation, der nach seinen Angaben bei seiner Anhörung am 17. Januar 2018 keinen Wehrdienst abgeleistet hat und damit nicht über militärische Vorkenntnisse und auch sonst nicht über (militärisch relevante) Spezialkenntnisse verfügt, zwangsweise zu den Streitkräften eingezogen werden würde.
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bb) Ob der Antragsteller möglicherweise in Tschetschenien aufgrund der dortigen besonderen Verhältnisse Gefahr liefe, zwangsweise zu den Streitkräften rekrutiert zu werden, kann hier dahinstehen. Es mag sein, dass dort durch das Oberhaupt der Tschetschenischen Republik, Kadyrow, und sein Regime auch durch massive Zwangsmaßnahmen Soldaten für den Kampf in der Ukraine rekrutiert werden (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zur Russischen Föderation: 1) Allgemeine Informationen zur russischen Armee und zur Wehrpflicht, Generalmobilmachung, Einberufung von Reservisten; 2) Einsatz von Wehrpflichtigen in der Ukraine; 3) Möglichkeiten von Zivildienst; 4) Weigerung an Kampfhandlungen teilzunehmen, Wehrdienstverweigerung, Desertion; 5) Einsatz von Männern aus Tschetschenien; 6) Sind die Soldatenmütter aktiv? [a-11873-2], vom 16.5.2022). Allerdings bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Gefahr dem Antragsteller außerhalb von Tschetschenien drohen würde. Es ist demnach davon auszugehen, dass der Antragsteller in den außerhalb Tschetscheniens liegenden Teilen der Russischen Föderation internen Schutz im Sinne von § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG genießt. Danach wird dem Ausländer der subsidiäre Schutz nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens oder Zugang zu Schutz vor einem ernsthaften Schaden hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
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Zurückkehrenden tschetschenischen Volkszugehörigen ist es möglich, in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens ein zumutbares Unter- und Auskommen zu finden. Dabei wird es den Betroffenen regelmäßig zwar nicht leicht gemacht; in der Regel wird es ihnen administrativ erschwert, insbesondere einen legalen Aufenthalt und diesen wiederum insbesondere an bestimmten Orten zu nehmen. Dies ist im Endeffekt jedoch nicht unmöglich, mag es auch nicht immer am bevorzugten Ort oder stets auf Anhieb möglich sein. In diesem Zusammenhang ist auf die Verhältnisse in der Russischen Föderation insgesamt abzustellen, insbesondere ohne die Verhältnisse in den russischen Großstädten, wie etwa Moskau und St. Petersburg, zu verallgemeinern, weil dort u.a. wegen der angespannten Wohnraumsituation ein besonderer Zuwanderungsdruck für die hinsichtlich der restlichen Russischen Föderation (mit Ausnahme Tschetscheniens) nicht repräsentativen Verhältnisse ursächlich ist, wovon im Übrigen nicht nur Tschetschenen betroffen sind. Bei hinreichendem Bemühen können russische Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit in der Russischen Föderation eine Registrierung erreichen. Im Übrigen können Tschetschenen auch ohne eine legale Registrierung ein zumutbares Auskommen finden. Die vergleichsweise hohe Zahl der in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens lebenden Tschetschenen belegt, dass es unabhängig von bürokratischen Schwierigkeiten (etwa bei Registrierung oder Ausweispapierbeschaffung), teilweisen Diskriminierungen und auch Übergriffen von Behördenangehörigen und trotz Ressentiments in der Bevölkerung möglich ist, zumindest einen faktischen Aufenthalt zu erlangen und - wenn auch auf dem landesüblichen niedrigen Niveau - dabei eine wirtschaftliche Grundlage zu finden und sei es auch nur im Bereich der - sehr weit verbreiteten - Schattenwirtschaft (vgl. VG Augsburg, U.v. 12.6.2006 - Au 2 K 05.30203 - juris Rn. 19). Es ist daher davon auszugehen, dass eine Registrierung oder das Innehaben von Personalpapieren zwar durchaus hilft, das Leben in der Russischen Föderation leichter zu gestalten, jedoch nicht unabdingbare Voraussetzung dafür ist, Lebensverhältnisse zu schaffen, welche - unter Berücksichtigung des allgemeinen Lebensstandards in der Russischen Föderation - als zumutbar anzusehen sind (vgl. VG Berlin, U.v. 12.3.2008 - 38 X 33.08 - juris Rn. 79 m.w.N.).
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Die Gebiete, in denen eine inländische Fluchtalternative offen steht, sind für den Antragsteller auch erreichbar. Denn es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass er bei einer Rückkehr in die Russische Föderation nicht dorthin gelangen könnte oder gar mit einer zwangsweisen Rückführung nach Tschetschenien rechnen müsste (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation vom 21.5.2021, S. 22 f.). Selbst für den Fall, dass die behördliche Registrierung außerhalb Tschetscheniens verweigert werden sollte, bestünde für den Antragsteller keine reale Gefahr, zwangsweise nach Tschetschenien zurückkehren zu müssen; für eine Rückverbringung von russischen Staatsangehörigen aus einem Landesteil, in dem sie nicht registriert sind, in ihre Heimat besteht keine Rechtsgrundlage, und es dürfte dem russischen Staat hierfür auch an Mitteln fehlen (OVG NW, U.v. 12.7.2005 - 11 A 2307/03.A - juris Rn. 107 f.).
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Dem Antragsteller ist es daher zuzumuten und es kann von ihm auch vernünftigerweise erwartet werden, dass er seinen Aufenthalt in einem anderen Landesteil der Russischen Föderation nimmt, an dem er vor Verfolgung sicher ist und wo sein soziales und wirtschaftliches Existenzminimum durch eigene Berufstätigkeit gewährleistet ist. Erforderlich hierfür ist, dass der Antragsteller am Zufluchtsort unter persönlich zumutbaren Bemühungen jedenfalls ein Existenzminimum sichern kann, das eine Verletzung von Art. 3 EMRK nicht befürchten lässt. Fehlt es an einer solchen Möglichkeit der Existenzsicherung, ist eine interne Schutzmöglichkeit nicht gegeben (vgl. BVerwG, U.v. 19.07.2021 - 1 C 4.20 - juris; VGH BW, U.v. 15.2.2012 - A 3 S 1876/09 - juris). Erwerbsfähigen Personen bietet ein verfolgungssicherer Ort das wirtschaftliche Existenzminimum, wenn sie dort - was grundsätzlich zumutbar ist - durch eigene und notfalls auch weniger attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Dazu gehören auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs ausgeübt werden können, auch soweit diese Arbeiten im Bereich einer „Schatten- oder Nischenwirtschaft“ stattfinden (vgl. BVerwG, B.v. 17.5.2005 - 1 C 24.06 - juris). Maßgeblich ist ferner nicht, ob der Staat den Flüchtlingen einen durchgehend legalen Aufenthaltsstatus gewähren würde, vielmehr ist in tatsächlicher Hinsicht zu fragen, ob das wirtschaftliche Existenzminimum zur Verfügung steht (vgl. BVerwG, B.v. 31.8.2006 - 1 B 96.06 - juris).
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Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, weshalb der gesunde und arbeitsfähige Antragsteller vor diesem Hintergrund nicht in der Lage sein sollte, in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens durch eigene Arbeit für seinen Lebensunterhalt zu sorgen und eine Unterkunft zu finden. Zwar hat er vor seiner Ausreise nach seinen Angaben bei der Anhörung am 17. Januar 2018 nicht - wie von Antragsgegnerseite vorgetragen - großteils in Sibirien gelebt und gearbeitet, sondern war lediglich in Neftejugansk gemeldet. Allerdings hat er dort über Freunde und Verwandte zumindest einen Anknüpfungspunkt außerhalb Tschetscheniens, der es ihm erleichtern dürfte, dort Fuß zu fassen.
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e) Es besteht daher auch kein Anlass, nach § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO von Amts wegen von der Entscheidung im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO abzuweichen. Im Übrigen wird auf die Gründe des Beschlusses vom 14. September 2021 im Verfahren B 9 S 21.30641 Bezug genommen.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes (RVG).
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).