Inhalt

VG Bayreuth, Beschluss v. 13.09.2022 – B 6 E 22.856
Titel:

Reisefähigkeit bei Abschiebevorgang

Normenketten:
GG Art. 2 Abs. 2 S. 1
AufenthG § 4 Abs. 1 S. 1, § 50 Abs. 1, § 58 Abs. 1 S. 1, § 59 Abs. 1 S. 1, § 60a Abs. 2 S. 1, Abs. 2c, § 104c Abs. 1 S. 1
AsylG § 71 Abs. 5 S. 2
VwGO § 123, § 166
ZPO § 114, § 117 Abs. 2 S. 1, § 121 Abs. 2, § 294 Abs. 1, § 920 Abs. 2
BayVwVfG Art. 40
Leitsätze:
1. Eine Abschiebung muss auch dann unterbleiben, wenn sie – außerhalb des eigentlichen Transportvorgangs (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn) – eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für einen Ausländer bedeutet, weil das ernsthafte Risiko besteht, dass sich sein Gesundheitszustand unmittelbar durch die Abschiebung als solche (unabhängig vom Zielstaat) wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne). (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne liegt vor, wenn die Gefahr einer wesentlichen Gesundheitsverschlechterung schon während der Abschiebung und der sich unmittelbar daran anschließenden Zeitspanne der Ankunft im Heimatland droht und dieser Gefahr nicht durch mögliche Vorkehrungen wie der Ausstattung mit einem Vorrat an benötigten Medikamenten und der medizinischen Begleitung im Abschiebevorgang begegnet werden kann (vgl. VGH München BeckRS 2022, 705). (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
3. Erschließen sich die Gründe für die Reiseunfähigkeit des Ausländers nicht schon aus der Diagnose oder sonstigen Feststellungen im ärztlichen Attest selbst, muss das zur Glaubhaftmachung hierzu vorgelegte ärztliche Attest eine nachvollziehbare Begründung enthalten. Dies gilt vor allem bei diagnostizierten psychischen Erkrankungen oder Störungen, wenn das ärztliche Attest die Reisefähigkeit nur behauptet, aber nicht begründet, da die Reisefähigkeit in der Regel durch begleitende Maßnahmen sichergestellt werden kann (VGH München BeckRS 2022, 705). (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Reisefähigkeit im engeren und weiteren Sinn gegeben bei entsprechenden Vorkehrungen während des gesamten Abschiebevorgangs (Mitgabe von Medikamenten, Transport durch speziell ausgerüstete Polizeikräfte zum Flughafen, Begleitung durch Sicherheitskräfte und medizinisches Personal während einer Sammelabschiebung nach Nigeria), Keine Ermessensduldung zur Ermöglichung einer Aufenthaltserlaubnis aufgrund des geplanten Chancen-Aufenthaltsrechts bis zu Bundestagsbeschluss gem. Art. 78 GG über die geplante Neuregelung ohne Vorabanwendungserlass des jeweiligen Bundeslandes (hier: Freistaat, Bayern), Duldungsgrund, Rückführung, ärztliches Attest, inlandsbezogenes Abschiebungsverbot, zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis, Reiseunfähigkeit im engeren Sinn, Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne, Gesundheitsgefahr, Sammelrückführung nach Nigeria, qualifizierte ärztliche Bescheinigung, erforderliche Medikamente, medizinische Begleitung
Fundstelle:
BeckRS 2022, 31688

Tenor

1. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt …, …, wird abgelehnt.
2. Der Antrag gemäß § 123 VwGO wird abgelehnt.
3. Der Streitwert wird auf 1.250 EUR festgesetzt.

Gründe

1
Der Antragsteller begehrt, den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, vorläufig von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen und dem Antragsteller vorläufig eine Duldung zu erteilen.
2
1. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt …, …, wird abgelehnt.
3
Gemäß § 166 VwGO, §§ 114 ff. ZPO erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Wird Prozesskostenhilfe bewilligt, so ist in Verfahren ohne Anwaltszwang nach § 121 Abs. 2 ZPO ein Anwalt beizuordnen, wenn die Vertretung durch einen Anwalt erforderlich ist.
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Hinreichende Erfolgsaussicht für Rechtsverfolgung oder -verteidigung liegt vor, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Klägers aufgrund seiner Sachdarstellung und der vorhandenen Unterlagen für zutreffend oder zumindest vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht mindestens von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist. Es muss also aufgrund summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass der Kläger mit seinem Begehren durchdringen wird.
5
Maßgeblich für die Beurteilung der hinreichenden Erfolgsaussichten ist der Zeitpunkt der Bewilligungs- oder Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrages. Die Entscheidungsreife tritt regelmäßig nach Vorlage der vollständigen Prozesskostenhilfeunterlagen sowie nach einer Anhörung der Gegenseite mit angemessener Frist zur Stellungnahme ein (§ 166 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 118 Abs. 1 Satz 1 ZPO) ein (BayVGH, B.v.10.02.2016 - 10 C 15.849 - juris Rn.3; st. Rspr.).
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Die Prozesskostenhilfeunterlagen wurden erst dann vollständig vorgelegt, wenn bei Gericht neben dem Antrag auch die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse und entsprechende Belege eingereicht wurden (§ 166 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 117 Abs. 2 Satz 1 ZPO).
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Nach diesen Grundsätzen scheitert die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts bereits daran, dass die Prozessbevollmächtigte der Antragsteller die vom Gesetz geforderte persönliche Erklärung nebst Belegen trotz Ankündigung nicht beigebracht hat. Darüber hinaus bietet die Rechtverfolgung, wie sich aus den folgenden Ausführungen ergibt, keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.
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2. Der Antrag gemäß § 123 VwGO ist zulässig, aber unbegründet.
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Gemäß § 123 VwGO Abs. 1 Satz 2 VwGO ist eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden. Dies setzt voraus, dass der Antragsteller das Bestehen eines zu sichernden Rechts, den sogenannten Anordnungsanspruch, und die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung, den sogenannten Anordnungsgrund, glaubhaft macht (§ 123 Abs. 1 und 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO).
10
Ein Anordnungsgrund liegt vor, wenn es dem Antragsteller unter Berücksichtigung seiner Interessen unzumutbar ist, eine Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Ein Anordnungsanspruch ist gegeben, wenn der Antragsteller mit Erfolg geltend macht, dass ihm ein entsprechender Rechtsanspruch zusteht und deshalb im Hauptsacheverfahren überwiegende Erfolgsaussichten bestehen (Dombert, in: Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 129, 125).
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Über den Erfolg des Antrages ist aufgrund der in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen und auch nur möglichen summarischen Prüfung zu entscheiden. Dabei ist abzustellen auf die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
12
a) Der Antragsteller hat zwar einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Denn es ist ihm nicht zuzumuten, eine Entscheidung über eine noch zu erhebende Klage abzuwarten, weil der Antragsgegner beabsichtigt, ihn am 14.09.2022 nach Nigeria abzuschieben.
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b) Der Antragsteller hat jedoch keinen Anordnungsanspruch hinreichend glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2, § 294 Abs. 1 ZPO).
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aa) Gemäß § 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist ein Ausländer abzuschieben, wenn die Ausreisepflicht vollziehbar und die Ausreisefrist abgelaufen ist und aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung eine Überwachung der Ausreise erforderlich erscheint. Zur Ausreise verpflichtet ist ein Ausländer, wenn er einen erforderlichen Aufenthaltstitel nicht besitzt (§ 50 Abs. 1 AufenthG). Vollziehbar ist die Ausreisepflicht u.a. dann, wenn die Entscheidung des Bundesamtes unanfechtbar wurde und die asylrechtliche Aufenthaltsgestattung deshalb erloschen ist (§ 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG i. V. m. § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AsylG). Die Überwachung der Ausreise ist u.a. erforderlich, wenn der Ausländer mittellos ist, und zu erkennen gegeben hat, dass er seiner Ausreisepflicht nicht nachkommen wird (§ 58 Abs. 3 Nr. 4 und Nr. 7 AufenthG). Als Maßnahme des Verwaltungszwangs ist die Abschiebung unter Bestimmung einer angemessenen Frist anzudrohen (§ 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG).
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Der Antragsteller besitzt den für seinen nicht nur kurzfristigen Aufenthalt im Bundesgebiet gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erforderlichen Aufenthaltstitel nicht. Außerdem ist er vollziehbar ausreisepflichtig. Denn mit der Ablehnung der Zulassung der Berufung mit Beschluss vom 12.08.2019 gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 23.07.2018 ist der Bescheid des Bundesamtes vom 29.05.2017 unanfechtbar geworden und seine Aufenthaltsgestattung erloschen. Ein erstes Asylfolgeverfahren hatte beim Bundesamt, das am 25.09.2020 einen entsprechenden Bescheid erließ, und auch beim Verwaltungsgericht Bayreuth, das eine entsprechende Klage mit inzwischen rechtskräftigem Urteil vom 25.01.2022 abwies, keinen Erfolg. Das zweite Asylfolgeverfahren hat ebenfalls nicht dazu geführt, dass ein weiteres Asylverfahren durchgeführt würde, mit der Konsequenz, dass der Antragsteller eine Asylgestattung zustünde und er deshalb nicht länger ausreisepflichtig wäre. Die Überwachung seiner Ausreise ist erforderlich, weil er mehrmals massiv deutlich gemacht hat, hat, dass er seiner Ausreisepflicht nicht ohne Zwang nachkommen wird.
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bb) Die deshalb gemäß § 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zwingend durchzuführende Abschiebung ist nicht umgehend einzustellen und vorübergehend auszusetzen, weil der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht hat, dass die Voraussetzungen für eine Duldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 vorliegen oder das Ermessen des Antragsgegners dahingehend reduziert ist, dass er nur dann ermessengerecht handelt, wenn er dem Antragsteller eine Duldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG erteilt.
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aaa) Gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird.
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Die Luftabschiebung des Antragstellers ist tatsächlich möglich. Der Antragsgegner hat glaubhaft gemacht, dass am 14.09.2022 eine Sammelrückführung nach Nigeria stattfinden wird, der Antragsteller auf diesen Flug gebucht wurde und für ihn ein am 17.08.2022 ausgestellter Heimreiseschein vorliegt, der es ermöglicht, dass er, auch wenn er keinen Reisepass besitzt, im Rahmen einer zwangsweisen Rückführung in sein Herkunftsland einreist.
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Die Abschiebung ist auch nicht rechtlich unmöglich.
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Ein rechtliches Abschiebungshindernis liegt zunächst dann vor, wenn durch die Beendigung des Aufenthalts eine konkrete Leibes- oder Lebensgefahr zu befürchten ist, so dass die Abschiebungsmaßnahme wegen des nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbürgten grundrechtlichen Schutzes auszusetzen ist.
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Gemäß § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG wird gesetzlich vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen, wenn nicht der Ausländer eine im Rahmen der Abschiebung beachtliche Erkrankung durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft macht. Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten. Zur Behandlung der Erkrankung erforderliche Medikamente müssen mit der Angabe ihrer Wirkstoffe und diese mit ihrer international gebräuchlichen Bezeichnung aufgeführt sein (§ 60a Abs. 2 d Satz 3 und 4 AufenthG). Der Ausländer ist verpflichtet, der zuständigen Behörde die ärztliche Bescheinigung unverzüglich vorzulegen. Auf diese Verpflichtung und auf die Rechtsfolgen einer Verletzung dieser Verpflichtung ist er hinzuweisen (§ 60a Abs. 2d Satz 1 und 4 AufenthG). Verletzt der Ausländer die Pflicht zur unverzüglichen Vorlage, darf die zuständige Behörde das Vorbringen des Ausländers zu seiner Erkrankung nicht berücksichtigen, es sei denn, der Ausländer war unverschuldet an der Einholung einer solchen Bescheinigung gehindert oder es liegen anderweitig tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde (§ 60a Abs. 2d Satz 2 AufenthG).
22
Aufgrund einer Erkrankung kann ein inlandsbezogenes Abschiebungsverbot im Sinne von § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in zwei Fällen bestehen: Zum einen scheidet eine Abschiebung aus, wenn und solange der Ausländer wegen der Erkrankung transportunfähig ist, d.h. sich sein Gesundheitszustand durch und während des eigentlichen Vorgangs des „Reisens“ wesentlich verschlechtert oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportbedingt erstmals entsteht (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn). Zum anderen (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne) muss eine Abschiebung auch dann unterbleiben, wenn sie - außerhalb des eigentlichen Transportvorgangs - eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für einen Ausländer bedeutet, weil das ernsthafte Risiko besteht, dass sich sein Gesundheitszustand unmittelbar durch die Abschiebung als solche (unabhängig vom Zielstaat) wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert (BayVGH, B. v. 20.01.2022 - 19 CE 21.2437 - juris Rn. 19; st. Rspr.).
23
Wird eine Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne behauptet, weil eine im Bundesgebiet begonnene Behandlung jedenfalls nicht in der bisherigen Form weitergeführt werden kann, ist zu berücksichtigen, dass nur dann kein zielstaatsbezogenes, sondern ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis wegen Reiseunfähigkeit vorliegt, wenn die Gefahr einer wesentlichen Gesundheitsverschlechterung schon während der Abschiebung und der sich unmittelbar daran anschließenden Zeitspanne der Ankunft im Heimatland droht und dieser Gefahr nicht durch mögliche Vorkehrungen wie der Ausstattung mit einem Vorrat an benötigten Medikamenten und der medizinischen Begleitung im Abschiebevorgang begegnet werden kann (BayVGH, a.a.O. Rn.20).
24
Nach diesen Vorgaben spricht viel dafür, dass der Antragsgegner gehalten war, die psychiatrische Stellungnahme vom 27.06.2022, die der Antragsteller erst im Rahmen des Gerichtsverfahrens am 12.09.2022 vorgelegt hat, nicht zu berücksichtigen. Denn der Antragsteller, der über die Rechtsfolgen der Verletzung dieser Verpflichtung belehrt worden war, hat nicht glaubhaft gemacht, dass er ohne Verschulden gehindert gewesen wäre, die Bescheinigung bereits nach Erhalt vorzulegen, zumal er mit der ZAB als Behörde etwa im Rahmen der Sicherheitsbefragung auch persönlich im Kontakt stand. Damit hat der Antragsteller gegen § 60a Abs. 2d Satz 1 AufenthG verstoßen.
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Doch auch wenn man zu seinen Gunsten annimmt, der Antragsgegner müsse die Stellungnahme einbeziehen, weil der Antragsteller bereits wiederholt entsprechende Äußerungen des ihn seit Jahren behandelnden Arztes vorgelegt hatte, hat er damit den Nachweis nicht geführt, er sei reiseunfähig.
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Zwar hält der behandelnde Arzt ausdrücklich fest, der Antragsteller sei weder reise- noch abschiebefähig. Er begründet die Reiseunfähigkeit, die sich auf den Flug, der voraussichtlich 8 1/2 Stunden dauern wird, beziehen muss, nicht mit transportbedingten Gefahren oder der Gefahr für seine Gesundheit oder einer drohenden Gesundheitsgefahr unmittelbar im Zusammenhang mit der Abschiebung. Vielmehr stellt er darauf ab, die erfolgsversprechende störungsadäquate Behandlung bestehend aus Psychotherapie und Pharmakotherapie im Bundesgebiet dürfe nicht abgebrochen werden, um zu verhindern, dass sich dann seine gesundheitliche Situation deutlich zuspitze und verschlechtere und mit einer Retraumatisierung zu rechnen sei (Seite 4). Damit macht er kein inlandsbezogenes, sondern ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis geltend, über das mit bindender Wirkung für das Aufenthaltsrecht zuletzt das VG Bayreuth im Asylfolgeverfahren mit Urteil vom 25.01.2022 entschieden hat.
27
Außerdem müssen ärztliche Ausführungen zur Reiseunfähigkeit jedenfalls in groben Zügen für die Ausländerbehörde und das Verwaltungsgericht nachvollziehbar sein (BayVGH, B. v. 10.01.2022 - 19 CE 21.2652 - juris Rn. 26). Erschließen sich die Gründe für die Reiseunfähigkeit des Ausländers nicht schon aus der Diagnose oder sonstigen Feststellungen im ärztlichen Attest selbst, muss das zur Glaubhaftmachung hierzu vorgelegte ärztliche Attest eine nachvollziehbare Begründung enthalten. Dies gilt vor allem bei diagnostizierten psychischen Erkrankungen oder Störungen, wenn das ärztliche Attest die Reisefähigkeit nur behauptet, aber nicht begründet, da die Reisefähigkeit in der Regel durch begleitende Maßnahmen sichergestellt werden kann (BayVGH, a.a. O.).
28
Eine solche nachvollziehbare Begründung ist hier nicht gegeben. Vielmehr findet sich Feststellung der fehlenden „Abschiebefähigkeit“ bereits identisch n früheren Attesten (mindestens seit Juli 2021) und wurde im letzten Attest begrifflich noch durch fehlende „Reisefähigkeit“ ergänzt.
29
Hinzukommt, dass der Antraggegner dem Gericht gegenüber dargelegt hat, die Reisefähigkeit während des Abschiebevorgangs und unmittelbar danach durch entsprechende Maßnahmen sicherzustellen, gerade auch weil die Anstaltsärztin nochmals auf Selbstbeschädigungs- und Selbsttötungsabsichten hingewiesen hat: der Antragsteller erhält die von ihm benötigten und eingenommenen Medikamente, der Transport aus der Abschiebungshafteinrichtung … nach … wird von (speziell ausgerüsteten) Polizeikräften durchgeführt und der Flug erfolgt als Sammelabschiebung mit Begleitung durch Sicherheitskräfte und ärztliches Personal (vgl. dazu BayVGH, B. v. 10.01.2022 - 19 CE 21.2652 - juris Rn.26).
30
Nach dem Schreiben des Bundesamtes vom 13.09.2022 gemäß § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG an den Antragsgegner, dass auf den erneuten Asylfolgeantrag vom 12.09.2022 kein weiteres Asylverfahren durchgeführt werden wird, ist dem Antragsteller auch nicht von Gesetzes wegen eine Duldung bis zu dieser Mitteilung zu erteilen (vgl. dazu Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 71 AsylG Rn. 15).
31
bbb) Gem. § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG kann einem Ausländer eine Duldung erteilt werden, wenn dringende humanitäre oder persönliche Gründe seine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern.
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Dringende persönliche oder humanitäre Gründe sind Gründe, die nicht rechtlich gewichtig genug sind, um zur rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung gem. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu führen, denen aber ein so großes Gewicht zukommt, dass sie geeignet sind, das öffentliche Interesse an der tatsächlich möglichen und gebotenen Aufenthaltsbeendigung zu überwiegen (Hoppe, in: Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 10 Rn. 47). Dringende persönliche Gründe können grundsätzlich insbesondere auch dann vorliegen, wenn die vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet ihm die Chance erhält, von einer Regelung für nachhaltig integrierte Ausländer zu profitieren, während ihm bei einer Abschiebung ein vollständiger Rechtsverlust droht (OVG Magdeburg, B. v. 31.03.2015 - 2 M17/15 - juris Rn. 5).
33
Als dringenden persönlichen Grund macht der Antragsteller geltend, dass er von der geplanten Neuregelung des Chancen-Aufenthaltsrechts profitieren will, die noch keine Gesetzeskraft erlangt hat. § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG-E sieht vor, dass einem geduldeten Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden soll, wenn er sich am 01.01.2022 seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten hat.
34
Die Voraussetzungen dieser Vorschrift würde der Antragsteller, anders als vorbringen lässt, aber nicht zweifelsfrei erfüllen.
35
Zum einen verfügte er, seit der Duldungsgrund, dass seine Rückführung mangels zur Einreise im Heimatland berechtigenden Dokumenten nicht möglich war, dadurch weggefallen ist, dass die nigerianischen Behörden verbindlich zugesagt hatten, einen Heimreiseschein auszustellen, seit 18.12.2021 über keine Duldung mehr (Bl. 920 Behördenakte). Damit war sein Aufenthalt nicht fünf Jahre seit 01.01.2017 bis 01.01.2022 ununterbrochen geduldet oder gestattet. Außerdem ist er seit 22.06.2022 erneut ausdrücklich nicht mehr geduldet, sondern steht unmittelbar zur Abschiebung an.
36
Zum zweiten sprechen die überzeugenderen Argumente hier von vornherein dagegen, die künftige gesetzliche Regelung bereits jetzt bei der Ermessenentscheidung zu seinen Gunsten zu berücksichtigen.
37
Eine Grenze des Ermessens i.S. v. Art. 40 BayVwVfG ergibt sich aus einem Gesetz erst dann, wenn es in Kraft getreten ist. Das Rechtsstaatsprinzip verpflichtet die Verwaltung zur Anwendung des jeweils geltenden Rechts und lässt es nicht zu, davon mit Blick auf eine vorgeschlagene künftige Rechtsänderung abzuweichen. Das Demokratiegebot wiederum lässt es nicht zu, die Beachtung der vom Parlament erlassene Gesetze zur Disposition der Verwaltung zu stellen (BVerwG, U. v. 20.06.2013 - 8 C 46/12 - BVerwGE 147, 81 = NVwZ 2014, 151 jew. Rn. 41). Auch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist eine geplante Rechtsänderung nur dann heranzuziehen, falls es nicht angemessen wäre, die geltende Rechtslage der Entscheidung zu Lasten des Antragstellers zugrunde zu legen, weil mit hinreichender Sicherheit vom Wirksamwerden der für ihn günstigeren Neuregelung zu einem bestimmten, absehbaren Zeitpunkt auszugehen wäre, weil der Bundestag über das Gesetz bereits gemäß Art. 78 GG beschlossen hätte (BVerwG, a.a.O. Rn.42). Bis zu diesem Zeitpunkt des Gesetzgebungsverfahren ist dagegen sowohl der Inhalt als auch das „Ob“ des Zustandekommens des Gesetzes offen und der Entwurf nicht zu berücksichtigen (Polzin, DÖV 2014, 1007/1009).
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Anders als bei der zur Bleiberechtsänderung 2015 ergangenen obergerichtlichen Entscheidung, als der Gesetzesentwurf der Bundesregierung bereits dem Bundestag übermittelt worden war und dort die erste Lesung stattgefunden hatte, hat die Bundesregierung den Gesetzesentwurf für das Gesetz zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts bislang lediglich am 05.08.2022 dem Bundesrat zugeleitet, der es an seine Ausschüsse überwies (BR-Drs. 367/22). Mit Beschluss vom 05.09.2022 haben es die zuständigen Ausschüsse an das Bundesrats-Plenum für die Sitzung am 16.09.2022 zurückverwiesen und dabei zahlreiche Änderungen gerade zu § 104c-AufenthG-E empfohlen (BR-Drs. 367/1/22, Seite 1, 9-13). Eine parlamentarische Behandlung im Bundestag ist erst ab Oktober 2022 ins Auge gefasst (www. proasyl.de/news/faq-fragen-und-antworten-zum-chancen-aufenthaltsrecht.de, aufgerufen am 13.09.2022). Wann der Bundestag über das Gesetz beschließen wird, ist deshalb derzeit offen.
39
Hinzukommt, dass der Antragsgegner bislang, anders als Brandenburg, Hessen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz, nicht im Vorgriff auf diese Regelung eine Weisung erlassen bzw. frühere Weisungen ergänzt hat, um die Aussetzung der Abschiebungen von potenziell begünstigten Personen zu ermöglichen (vgl. dazu www.asyl.net/view/update-laendererlasse-im-vorgriffaufdaschancen-aufenthaltsrecht.de Stand 23.08.2022).
40
3. Als unterliegender Teil trägt der Antragsteller die Kosten des Verfahrens (§ 154 Abs. 1 VwGO). Die Festsetzung des Streitwertes richtet sich nach § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG, § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG, § 52 Abs. 2 GKG i. V. m. Ziff. 8.3, 1.5 Streitwertkatalog 2013 (halber Auffangstreitwert, halbiert im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes).