Inhalt

VG Würzburg, Beschluss v. 16.09.2022 – W 1 S 22.1374
Titel:

Entlassung eines Soldaten auf Zeit, Verdacht von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, Verstoß gegen die Pflichten zum Wohlverhalten und zum treuen Dienen, Interessenabwägung

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
SG § 55 Abs. 5
SG § 7
SG § 17
Schlagworte:
Entlassung eines Soldaten auf Zeit, Verdacht von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, Verstoß gegen die Pflichten zum Wohlverhalten und zum treuen Dienen, Interessenabwägung
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 07.11.2022 – 6 CS 22.2105
Fundstelle:
BeckRS 2022, 31609

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Antragssteller zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 7.712,17 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller leistete vom 01.07.2002 bis 01.03.2003 freiwilligen Grundwehrdienst. Er wurde mit Wirkung vom 04.06.2019 in das Dienstverhältnis eines Soldaten auf Zeit berufen. Die zuletzt für 17 Jahre erklärte Dienstzeit wurde bis zum 31.08.2035 festgesetzt.
2
Mit Verfügung des Ausbildungskommandos L. der Bundeswehr vom 20.07.2022 wurde gegen den Antragsteller ein gerichtliches Disziplinarverfahren eingeleitet. Gleichzeitig wurde er vorläufig des Dienstes enthoben und das Verfahren bis zum Abschluss des Strafverfahrens ausgesetzt. Der Kläger sei aufgrund von Zeugenaussagen in einem staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren hinreichend verdächtig, dadurch seine Dienstpflichten schuldhaft verletzt zu haben, dass er im Frühjahr/Sommer 2020 seine vierzehnjährige Stieftochter sexuell missbraucht habe. In der Folge sei es regelmäßig, meist in den Morgenstunden an den Wochenenden oder in den Ferien zu weiterem und mithin insgesamt bis zu fünfunddreissigmaligem Geschlechtsverkehr mit der minderjährigen Stieftochter gekommen.
3
Mit Schreiben des Bundesamtes für das Personalmanagement der Bundeswehr vom 01.08.2022 wurde dem Antragsteller mit Eröffnungs- und Anhörungsniederschrift vom gleichen Tage mitgeteilt, dass gegen ihn ein Entlassungsverfahren eingeleitet ist.
4
Mit Schreiben vom 02.08.2022 bestätigte der Antragsteller durch Unterschrift am 04.08.2022, dass ihm das Schreiben des Bundesamtes für das Personalmanagement der Bundeswehr vom 01.08.2022 ausgehändigt wurde. Er teilte mit, dass er mit der Personalmaßnahme nicht einverstanden sei und auf eine Stellungnahme verzichten würde. Er unterschrieb, dass er auf § 24 SBG zur Anhörung in Personalangelegenheiten hingewiesen wurde.
5
Am 02.08.2022 wurde der Antragsteller bezüglich der Anhörung der Gruppe der Soldaten im Personalrat zur Beteiligung in Personalangelegenheiten gemäß § 24 SBG angehört. Diesen Anhörungsbogen unterschrieb er mit Datum vom 04.08.2022. Das Kästchen zum Ablehnen der Anhörung des Beteiligungsorgans wurde durchgestrichen. Die Streichung wurde durch den die Anhörung durchführenden Soldaten, Oberleutnant V., vorgenommen, wobei sich die beteiligten Personen einig waren, dass der zuständige örtliche Personalrat in Bezug auf die Entlassung beteiligt werden sollte.
6
Mit Bescheid des Bundesamtes für das Personalmanagement der Bundeswehr (BAPersBw) vom 10.08.2022 wurde der Antragsteller fristlos aus den Diensten der Bundesrepublik Deutschland entlassen. Im Wesentlichen wurde die Entlassung damit begründet, dass der Soldat ein Dienstvergehen begangen hat, welches auf Grundlage der vorliegenden Einleitungsverfügung erstellt wurde. Eine Anhörung des Personalrates erfolgte vor Bescheiderlass nicht.
7
Mit Schreiben vom 26.08.2022 legte der Bevollmächtigte des Antragstellers in dessen Namen und Auftrag Beschwerde gegen den Entlassungsbescheid ein. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Entlassungsbescheid sei rechtswidrig, da eine Anhörung des Personalrates unterblieben sei, obwohl der Soldat eine Anhörung des Personalrates nicht ausdrücklich abgelehnt habe. Des Weiteren bestreite der Soldat den Sachverhalt und alleine die eingeleiteten Ermittlungen würden nicht ausreichen, um ein Dienstvergehen im Sinne der Vorschrift § 55 Abs. 5 SG rechtfertigen zu können. So sei fraglich, wie hat sich das BAPersBw ein Bild von der Sachlage habe machen können, ohne die vollständigen Unterlagen des Disziplinar-, bzw. Strafverfahrens geprüft zu haben. Ohne jede Frage wäre ein Sachverhalt, so wie er dem Soldaten vorgeworfen wird, geeignet eine Entlassung nach § 55 Abs. 5 SG rechtfertigen zu können. Der Soldat bestreite die Taten ausdrücklich. Der Verteidiger des Soldaten habe im Strafverfahren Akteneinsicht in die staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakte erhalten. Offensichtlich habe sich das BAPersBw die Ermittlungsakte vor der Entlassungsentscheidung nicht eingesehen. Mit Datum vom 14.07.2022 habe die Schwester der Stieftochter des Soldaten bei der Polizei erneut ausgesagt. Sie habe den Soldaten ebenso schwer belastet gehabt. Ausweislich der beigefügten Vernehmung habe diese sodann mitgeteilt, dass nichts von dem, was sie angezeigt habe, wirklich passiert sei. Der Soldat sei völlig unschuldig. Er habe sie nie angemacht, angefasst oder habe ähnliches gemacht. Es sei alles frei erfunden. Die Zeugin gebe an, der leibliche Vater habe sie zu der Aussage bewogen. Er (der leibliche Vater) habe ihrer Mutter und dem Stiefvater schaden wollen. Sie gebe an, dass der Vater sie zwar nicht zu dieser Aussage gedrängt habe, sich diese Aussage aber gewünscht habe. Sie gebe an, dass sie Angst gehabt habe, dass ihr leiblicher Vater sie rausschmeißen würde, wenn sie ihm diesen Gefallen nicht tue. Sie gebe weiter an, dass sie bei der Aussage nun die Wahrheit gesagt habe. Sie sage aus, dass sie alleine auf diese Idee gekommen sei, nochmal zur Polizei zu gehen. Hieraus würden sich auch im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit der Aussage der vermeintlich Geschädigten, die die Schwester der Zeugin sei, erhebliche Zweifel ergeben. Nachdem ein Dienstvergehen daher nicht zu bejahen sei, sei der Beschwerde stattzugeben.
8
Am 05.09.2022 stellte der Antragsteller beim Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Beschwerde gegen den Entlassungsbescheid vom 10.08.2022. Zur Begründung wurde ausgeführt, das Suspensivinteresse des Antragstellers überwiege das behördliche Vollzugsinteresse, da die Entlassungsverfügung rechtswidrig sei. In formeller Hinsicht sei gegen das Erfordernis des § 24 Abs. 3 Satz 2 SBG verstoßen worden, das Ergebnis der Anhörung der Vertrauensperson in die Personalentscheidung einzubeziehen. Im Bescheid fänden sich keine Anhaltspunkte dafür, inwieweit die Argumente der Vertrauensperson in die Erwägungen für die Personalentscheidung eingeflossen seien. In materieller Hinsicht wiederholt der Antragsteller im Wesentlichen sein Vorbringen aus dem Beschwerdeverfahren. Der Antragsteller bestreite die ihm vorgeworfenen Taten.
9
Der Antragsteller b e a n t r a g t:
Die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegen den Entlassungsbescheid des Bundesamtes für das Personalmanagement der Bundeswehr vom 10.08.2022 wird angeordnet.
10
Das BAPersBw beantragt für die Antragsgegnerin,
den Antrag abzulehnen.
11
Die Antragsgegnerin ist der Auffassung, formelle Fehler lägen nicht vor. Es führe nicht zum Erfolg des gerichtlichen Eilrechtsschutzverfahrens, dass die Antragsgegnerin den örtlichen Personalrat des Vereinten Nationen Ausbildungszentrum der Bundeswehr nicht angehört und damit nicht in ordnungsgemäßer Weise in ihre Ermessenserwägungen einbezogen habe, sondern fälschlicherweise festgestellt wurde, dass der Antragsteller die Anhörung der Gruppe der Soldaten im Personalrat abgelehnt habe. Die zwei durch das Kästchen neben der Aussage- „Hiermit lehne ich die Anhörung des Beteiligungsorgans ab“ - durchgezogenen Striche auf dem Formularblatt - Anhörung der Gruppe der Soldaten im Personalrat des Soldaten zur Beteiligung in Personalangelegenheiten gemäß § 24 SBG - vom 02.08.2022 hätten nämlich ausweislich der Stellungnahme des nächsten Disziplinarvorgesetzten Oberleutnant V. vom 07.09.2022 nicht zu bedeuten, dass der Antragsteller die Anhörung des Beteiligungsorgans ablehne. Nach § 24 Abs. 1 S. 1 Nr. 6 SBG solle die Vertrauensperson durch den nächsten Disziplinarvorgesetzten angehört werden, wenn beabsichtigt sei, das Dienstverhältnis vorzeitig zu beenden, soweit das Soldatengesetz einen Ermessensspielraum einräumt. Die Entlassung nach § 55 Abs. 5 SG gehöre zu den damit angesprochenen Personalmaßnahmen. Das Ergebnis der Anhörung sei in die Personalentscheidung einzubeziehen (§ 24 Abs. 3 Satz 2 SBG). Ein etwaiger Mangel dieser Anhörung habe nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aber nicht die Unwirksamkeit der Entscheidung aus formellen Gründen zur Folge, sondern führe bei Personalmaßnahmen, die - wie hier - nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen seien, zu einem Ermessensfehler, weil der Vorgesetzte das Ergebnis der Anhörung nicht in ordnungsgemäßer Weise in seine Ermessenserwägungen einbeziehen könne. Insofern komme eine fehlerhafte Ermessensausübung im Ausgangsbescheid entsprechend dem Rechtsgedanken des § 45 VwVfG hier nicht zum Tragen. Denn es sei aufgrund der konkreten Verfahrenssituation ohne weiteres möglich, aber auch geboten, die Stellungnahme des örtlichen Personalrats im Rahmen des anhängigen Beschwerdeverfahrens zu berücksichtigen. Eine ordnungsgemäße Nachholung der Beteiligung im Beschwerdeverfahren sei rechtlich möglich, solange die zuständige Stelle ihr Ermessen noch ausüben und dabei das Ergebnis einer (nachgeholten) ordnungsgemäßen Anhörung noch in die Entscheidung einbeziehen könne. Da das Beschwerdeverfahren einer umfassenden Überprüfung der Ausgangsentscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht diene und sich auch bei Streitigkeiten über die Entlassung eines Soldaten gemäß § 55 Abs. 5 SG die Rechtmäßigkeit der behördlichen Entscheidung nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung beurteile, spreche auch vorliegend nichts gegen die nachträgliche Einbeziehung der Stellungnahme des örtlichen Personalrats in den Beschwerdebescheid. In materieller Hinsicht wiederholt die Antragsgegnerin ihr Vorbringen aus der Begründung des Entlassungsbescheids. Indem der Antragsteller seine Stieftochter mehrfach über einen längeren Zeitraum vergewaltigt und sexuell genötigt habe, habe der Antragsteller gegen seine Pflicht zum treuen Dienen verstoßen. Vorliegend sei eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung gegeben, da es sich bei dem Fehlverhalten des Antragstellers um eine Straftat von erheblichem Gewicht handele. Darüber hinaus sei auch eine Nachahmungsgefahr zu bejahen. Zwar möge diese nicht gerade darin bestehen, dass sich andere Soldaten bei einem Verbleiben des Antragstellers im Dienst eher sexuellen Übergriffen hinreißen ließen. Jedoch könne das Verhalten des Antragstellers bei Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalles - insbesondere auch des Hintergrunds der Tat, die gerade nicht aus dem Affekt heraus oder im Rahmen einer schwierigen Lebenslage des Antragstellers begangen worden sei - ohne Entlassung einen Anlass für Nachahmungshandlungen in der Form bieten, dass andere Soldaten im privaten - wie auch im innerdienstlichen - Bereich sexuell übergriffig würden, weil sie die Risiken in dienstrechtlicher Hinsicht aufgrund der Signalwirkung des vorliegenden Falles gering einschätzen würden. Überdies wäre bei einem Verbleiben des Antragstellers im Dienst auch das Ansehen der Bundeswehr ernstlich gefährdet. Dies ergebe sich bereits daraus, dass es sich vorliegend um eine Straftat von erheblichem Gewicht handele. Die Entscheidung sei zudem ermessensgerecht.
12
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die dem Gericht vorliegenden Verwaltungsakten Bezug genommen.
II.
13
Der zulässige Antrag ist nicht begründet.
14
Gemäß § 23 Abs. 6 Satz 3 WBO i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung anordnen, wenn die im Rahmen des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes vorzunehmende Interessenabwägung ergibt, dass das Interesse des Antragstellers, von der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts bis zur endgültigen Entscheidung über seine Rechtmäßigkeit verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse an dessen sofortiger Vollziehung überwiegt. Zu berücksichtigen ist dabei allerdings, dass das öffentliche Vollzugsinteresse bereits durch den gesetzlich vorgesehenen Ausschluss der aufschiebenden Wirkung in § 23 Abs. 6 WBO erhebliches Gewicht erhält (vgl. BVerwG, B.v. 7.8.2014 - 9 VR 2.14 - juris Rn. 3). Insbesondere wenn die mit dem Hauptantrag erhobene Anfechtungsklage voraussichtlich keinen Erfolg haben wird, besteht kein Anlass von der gesetzlich bestimmten Regel der sofortigen Vollziehbarkeit abzugehen (vgl. BVerwG, B.v. 30.9.2008 - 7 VR 1.08 - juris Rn. 6). Ist hingegen die Rechtswidrigkeit der angegriffenen Verfügung offensichtlich, weil sie sich schon bei summarischer Prüfung ergibt, kann das Gericht die aufschiebende Wirkung anordnen (vgl. NdsOVG, B.v. 6.9.2007 - 5 ME 236/07 - juris Rn. 11). Das ist hier jedoch nicht der Fall. Die Entlassungsverfügung vom 10.08.2022 erweist sich bei summarischer Prüfung nicht als offensichtlich rechtswidrig, so dass die Interessenabwägung unter Berücksichtigung des erheblichen Gewichts des öffentlichen Vollzugsinteresses sowie des Umstandes, dass dem Antragsteller dann, wenn sich die Entlassungsverfügung im Hauptsacheverfahren als rechtswidrig erweisen wird, kein unumkehrbarer Schaden entsteht (vgl. Sohm in Eichen/Metzger/Sohm, Soldatengesetz, 4. Aufl. 2021, Rn. 93 zu § 55), zu Lasten des Suspensivinteresses des Antragstellers ausgeht.
15
Rechtsgrundlage für die angegriffene Maßnahme ist § 55 Abs. 5 SG. Danach kann ein Soldat auf Zeit während der ersten vier Dienstjahre fristlos entlassen werden, wenn er seine Dienstpflichten schuldhaft verletzt hat und sein Verbleiben in seinem Dienstverhältnis die militärische Ordnung oder das Ansehen der Bundeswehr ernstlich gefährden würde. Die fristlose Entlassung nach dieser Vorschrift ist keine disziplinarische Maßnahme, sondern soll die personelle und materielle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr gewährleisten. Sie stellt ein Mittel dar, um eine Beeinträchtigung der uneingeschränkten Einsatzbereitschaft zu vermeiden. Diese Gefahr muss gerade als Auswirkung einer Dienstpflichtverletzung des Soldaten drohen, was von den Verwaltungsgerichten aufgrund einer nachträglichen Prognose zu beurteilen ist (vgl. BVerwG, B.v. 28.1.2013 - 2 B 114.11 - juris Rn. 8; U.v. 28.7.2011 - 2 C 28.10 - juris Rn. 10; vgl. auch BayVGH, B.v. 21.2.2020 - 6 CS 19.2403 - juris Rn. 8; NdsOVG, B.v. 30.5.2006 - 5 ME 67/06 - juris Rn. 19). Maßgeblicher Zeitpunkt für eine solche Prognose ist der Zeitpunkt, in dem das Verwaltungsverfahren abgeschlossen wird (OVG SH, U.v. 19.10.2015 - 2 LB 25/14 - juris Rn. 32; OVG NW, U.v. 5.12.2012 - 1 A 846/12 - juris Rn. 44). Für den Begriff der Gefährdung ist ausreichend, dass die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts besteht, mithin eine Gefahr droht (OVG SH, U.v. 19.10.2015 - 2 LB 25/14 - juris Rn. 39; NdsOVG, B.v. 4.12.2012 - 5 LA 357/11 - juris Rn. 9, 15; vgl. auch BayVGH, B. v. 19.04.2018 - 6 CS 18.580 - juris Rn. 14). Mit dem Erfordernis, dass die Gefährdung der militärischen Ordnung ernstlich sein muss, entscheidet das Gesetz selbst die Frage der Angemessenheit der fristlosen Entlassung im Verhältnis zu dem erstrebten Zweck und konkretisiert so den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (BVerwG, B.v. 28.1.2013 - 2 B 114.11 - juris Rn. 9).
16
1. Die streitgegenständliche Entlassungsverfügung begegnet keinen durchgreifenden formellen Bedenken. Die Entlassungsverfügung ist nicht deshalb formell rechtswidrig, weil eine Stellungnahme des örtlichen Personalrats nicht eingeholt wurde, sondern fälschlicherweise festgestellt wurde, der Antragsteller lehne eine Beteiligung des Personalrats ab. Nach § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Soldatinnen- und Soldatenbeteiligungsgesetz (SBG) soll die Vertrauensperson durch den nächsten Disziplinarvorgesetzten angehört werden, wenn beabsichtigt ist, das Dienstverhältnis vorzeitig zu beenden, soweit das Soldatengesetz einen Ermessensspielraum einräumt. Die Entlassung nach § 55 Abs. 5 SG gehört zu den damit angesprochenen Personalmaßnahmen. Das Ergebnis der Anhörung ist in die Personalentscheidung einzubeziehen (§ 24 Abs. 3 Satz 2 SBG).
17
Ein etwaiger Mangel dieser Anhörung hat nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aber nicht die Unwirksamkeit der Entscheidung aus formellen Gründen zur Folge, sondern führt bei Personalmaßnahmen, die - wie hier - nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen sind, zu einem Ermessensfehler, weil der Vorgesetzte das Ergebnis der Anhörung nicht in ordnungsgemäßer Weise in seine Ermessenserwägungen einbeziehen kann (vgl. BVerwG, B.v. 27.02.2003 - 1 WB 57.02 - juris Rn. 30 f. und vom 27.01.1998 - 1 WB 51/97 - juris Rn. 5; OVG NRW, B.v. 17.09.2008 - 1 B 670/08 - juris Rn. 18). Der Kammer erschließt sich nicht, warum diese Rechtsprechung aufgrund einer Gesetzesänderung heute keine Gültigkeit mehr beanspruchen soll können, wie der Antragsteller meint. Ein etwaiger Ermessensfehler (vgl. dazu unten 3.) könnte zudem im Beschwerdeverfahren noch geheilt werden, indem die Anhörung nachgeholt wird (BVerwG, B.v. 30.08.2019 - 1 WB 24/18 - juris Rn. 40).
18
2. Bei summarischer Prüfung erweist sich die streitgegenständliche Entlassungsverfügung vom 10.08.2022 auch nicht als materiell offensichtlich rechtswidrig, da die tatbestandlichen Voraussetzungen der Rechtsgrundlage jedenfalls dann vorliegen, wenn man die Zeugenaussage der Stieftochter D. M. zugrunde legt.
19
In der Rechtsprechung haben sich Fallgruppen herausgebildet, bei denen eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung im Sinne des § 55 Abs. 5 SG regelmäßig anzunehmen ist: dies gilt vor allem für Dienstpflichtverletzungen im militärischen Kernbereich, die unmittelbar die Einsatzbereitschaft beeinträchtigen. Bei Dienstpflichtverletzungen außerhalb dieses Bereichs kann regelmäßig auf eine ernstliche Gefährdung geschlossen werden, wenn es sich entweder um Straftaten von erheblichem Gewicht handelt, wenn die begründete Befürchtung besteht, der Soldat werde weitere Dienstpflichtverletzungen begehen (Wiederholungsgefahr) oder es sich bei dem Fehlverhalten um eine Disziplinlosigkeit handelt, die in der Truppe als allgemeine Erscheinung auftritt oder um sich zu greifen droht (Nachahmungsgefahr). Jedenfalls die beiden letztgenannten Fallgruppen erfordern eine einzelfallbezogene Würdigung der konkreten Dienstpflichtverletzung, um die Auswirkungen für die Einsatzbereitschaft oder das Ansehen der Bundeswehr beurteilen zu können (BVerwG, B.v. 28.1.2013 - 2 B 114.11 - juris Rn. 10).
20
Gemessen daran besteht für die Kammer kein Zweifel daran, dass die (mehrfache) Vergewaltigung der minderjährigen Stieftochter eine Straftat von solchem Gewicht darstellt, dass dadurch die Voraussetzungen des § 55 Abs. 5 SG für eine Entlassung aus dem Soldatenverhältnis erfüllt werden. Wer als Soldat solche Straftaten begeht, verletzt durch dieses außerdienstliche Verhalten die Pflicht zu allgemeinem Wohlverhalten nach § 17 Abs. 2 Satz 3 SG schuldhaft und begeht damit ein Dienstvergehen im Sinne des § 23 Abs. 1 SG.
21
Nach § 17 Abs. 2 Satz 3 SG hat sich der Soldat außer Dienst so zu verhalten, dass er das Ansehen der Bundeswehr oder die Achtung und das Vertrauen, die seine dienstliche Stellung erfordert, nicht ernsthaft beeinträchtigt. Dabei kommt es bei einem Verstoß gegen § 17 Abs. 2 Satz 3 SG nicht darauf an, ob eine Beeinträchtigung des Ansehens der Bundeswehr oder der Achtungs- und Vertrauenswürdigkeit im konkreten Fall tatsächlich eingetreten ist. Es reicht vielmehr aus, dass das Verhalten geeignet war, eine solche Wirkung auszulösen. Die Achtungs- und Vertrauenswürdigkeit eines Soldaten können durch ein Verhalten schon dann Schaden nehmen, wenn diese Zweifel an seiner Redlichkeit und Zuverlässigkeit weckt oder seine Eignung für die jeweilige Verwendung in Frage stellt. Dies ist bei strafrechtlich relevantem Verhalten eines Soldaten auch außerhalb des Dienstes in Betracht zu ziehen (BVerwG, U.v. 20.3.2014 - 2 WD 5.13 - juris Rn. 48 ff.) und steht bei Straftaten wie den hier in Rede stehenden außer Zweifel.
22
Die Antragsgegnerin durfte auch mit der Entlassungsverfügung reagieren, obwohl das gegen den Antragsteller eingeleitete Strafverfahren bislang nicht abgeschlossen ist. Dies folgt schon daraus, dass das Strafverfahren und das soldatenrechtliche Entlassungsverfahren unterschiedlichen Zwecken dienen. Während das Strafverfahren allein die Sanktionierung begangenen Unrechts bezweckt, dient § 55 Abs. 5 SG ausschließlich dem Schutz der Bundeswehr vor künftigem Schaden. Die Entlassung stellt sich daher nicht als Sanktion gegen den betroffenen Soldaten auf Zeit dar, sondern als Mittel zur Abwendung einer drohenden ernstlichen Gefahr für die Bundeswehr (OVG Nordrhein-Westfalen, B.v. 27.01.2022 - 1 B 1756/21 - juris Rn. 9). Der Berücksichtigung von Sachverhalten, die Gegenstand eines noch nicht abgeschlossenen Strafverfahrens sind, steht hier auch die in Art. 6 Abs. 2 EMRK verankerte Unschuldsvermutung nicht entgegen. Deren Anwendungsbereich ist, soweit es um das Entlassungsverfahren geht, schon nicht eröffnet. Sie bezieht sich nämlich nur auf Strafverfahren i. S. v. Art. 6 EMRK, also auf (materiell) strafrechtliche Angelegenheiten, bei denen ein Verhalten gerichtlich mit einer bestrafenden und abschreckenden Sanktion belegt werden soll, und bindet dabei unmittelbar nur den Richter, der über die Begründetheit der Anklage zu entscheiden hat (Bay. VGH, B.v. 28.11.2018 - 6 C 18.2347 - juris Rn. 14). Nicht erfasst ist damit das soldatenrechtliche Entlassungsverfahren, das - wie ausgeführt - keinen sanktionierenden Charakter hat, sondern nur präventive Zwecke verfolgt. Allerdings ist die Entlassungsbehörde gehalten, die Entlassungsverfügung auf eine tragfähige, nachprüfbare Tatsachengrundlage zu stützen. Sie darf daher nicht aufgrund bloßer haltloser Unterstellungen eine Entlassung aussprechen. Vorliegend ist die Entlassungsbehörde aufgrund der Einleitung des Strafverfahrens durch die Staatsanwaltschaft und einer detaillierten Zeugenaussage der mutmaßlich geschädigten Person zu Recht davon ausgegangen, dass die Beschuldigungen gegen den Antragsteller nicht haltlos sind und schon wegen der Art der vorgeworfenen Straftaten aus präventiven Zwecken ein sofortiges Handeln zum Schutz des Ansehens der Bundeswehr erfordern. Dabei ist unerheblich, ob der Vorwurf gegenüber dem Antragsteller bislang außenstehenden Personen bekannt geworden ist. § 55 Abs. 5 SG verlangt lediglich eine Gefährdung der militärischen Ordnung oder des Ansehens der Bundeswehr, nicht aber einen bereits eingetretenen Schaden. Eine solche Gefahr liegt hier vor. Es entspricht der Lebenserfahrung, dass Vorwürfe wie die dem Antragsteller gegenüber erhobenen im Laufe der Zeit weitererzählt werden. Die Durchführung eines Disziplinarverfahrens genügt ungeachtet dessen, dass Disziplinarverfahren und Entlassungsverfahren unterschiedlichen Zwecken dienen, vorliegend nicht, um der Gefahr für das Ansehen der Bundeswehr hinreichend zu begegnen. Für die dem Antragsteller vorgeworfenen Dienstpflichtverletzungen beruft sich dieser nicht auf mildernde Umstände. Solche sind auch sonst nicht ersichtlich. Auch stellen die Dienstpflichtverletzungen kein leichteres Fehlverhalten im vorgenannten Sinne dar. Dies folgt bereits aus der Strafandrohung (§ 177 Abs. 1 StGB: Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren; § 177 Abs. 5 StGB: Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bei Ausnutzen einer schutzlosen Lage des Opfers). Darüber hinaus stellen diese Taten offensichtlich auch kein Augenblicksversagen dar, da sie sich über einen längeren Zeitraum hingezogen haben sollen.
23
Die durch die detaillierte und von den äußeren Umständen der Abgabe her glaubwürdige, mehrfach wiederholte Zeugenaussage des mutmaßlichen Opfers D. M. gegebene hinreichende Tatsachengrundlage für die Entlassung ist auch nicht durch die nunmehr bekannt gewordene Aussage der Z. O. M. vom 14.07.2022, wonach die ursprünglichen Beschuldigungen gegenüber dem Antragsteller frei erfunden gewesen seien, entwertet worden. Zum einen bezieht sich die Aussage vom 14.07.2022 ausdrücklich nicht auf die gegenüber der Zeugin D. M. vorgenommenen Taten, zum anderen besteht bei kritischer Würdigung der Aussage vom 14.07.2022 genauso gut die Möglichkeit, dass es sich bei dieser Aussage um eine Falschaussage handelt wie bei der ursprünglichen, den Antragsteller belastenden Aussage. Keinesfalls erscheint die zweite Zeugenaussage der älteren Schwester der mutmaßlich Geschädigten geeignet, deren Glaubwürdigkeit in Zweifel zu ziehen, wie dies in der Antragsbegründung vom 18.09.2022 versucht wird. Für das Gericht sind objektive Anhaltspunkte, dass die minderjährige Stieftochter die Unwahrheit gesagt hat, nicht erkennbar. Dies letztlich zu klären ist Sache des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens und eines sich daran anschließenden Strafverfahrens und kann nicht von der Entlassungsbehörde erwartet werden.
24
3. Die getroffene Maßnahme erweist sich schließlich auch trotz der unterbliebenen Anhörung der Vertrauensperson nicht als ermessenfehlerhaft. Die Frage der Angemessenheit einer fristlosen Entlassung zur Abwendung einer drohenden Gefahr für die Bundeswehr (hier: Gefährdung des Ansehens) ist bei Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 55 Abs. 5 SG bereits in Gestalt einer Vorabbewertung durch den Gesetzgeber jedenfalls im Wesentlichen durch die Vorschrift selbst konkretisiert worden, so dass für zusätzliche Erwägungen zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach der Gesetzeskonzeption im Rahmen des § 55 Abs. 5 SG (grundsätzlich) kein Raum ist. Dies zugrunde gelegt, ist das der zuständigen Behörde eingeräumte Ermessen („kann entlassen werden“) im Sinne einer sogenannten „intendierten Entscheidung“ auf besondere (Ausnahme-) Fälle zu beschränken (BayVGH, B.v. 21.04.2020 - 6 ZB 20.342 - juris Rn. 16). Es bleibt festzustellen, dass ein solcher, besondere Ermessenserwägungen verlangender atypischer Sachverhalt hier nicht gegeben ist, und sich insbesondere nicht daraus ergibt, dass die Entlassung kurz vor dem Ablauf der ersten vier Dienstjahre erfolgte (vgl. VG München, U.v. 23.10.2019 - M 21b K 18.6134 - juris Rn. 45).
25
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
26
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 GKG. Gem. Ziffer 1.5 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit war der Streitwert im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zu halbieren.