Inhalt

VGH München, Beschluss v. 07.11.2022 – 6 CS 22.2105
Titel:

Keine „Verdachtsentlassung“ eines Soldaten auf Zeit 

Normenketten:
SG § 55 Abs. 5
WBO § 23 Abs. 6 S. 3
Leitsatz:
Da § 55 Abs. 5 SG mit Blick auf den Tatbestand einer schuldhaften Dienstpflichtverletzung keinerlei Hinweise auf ein herabgestuftes Beweismaß enthält, ist die volle Überzeugungsgewissheit erforderlich. Es reicht damit nicht der Verdacht, der Soldat habe seine Dienstpflichten wahrscheinlich verletzt. Die Vorschrift rechtfertigt keine „Verdachtsentlassung“. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Soldatenrecht, Soldat auf Zeit, Fristlose Entlassung, Schuldhafte Dienstpflichtverletzung, Strafrechtliches Ermittlungsverfahren, Überzeugungsgrundsatz, Verdachtsentlassung, "Verdachtsentlassung", fristlose Entlassung
Vorinstanz:
VG Würzburg, Beschluss vom 16.09.2022 – W 1 S 22.1374
Fundstelle:
BeckRS 2022, 31608

Tenor

I. Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 16. September 2022 - W 1 S 22.1374 - geändert.
Die aufschiebende Wirkung der Beschwerde des Antragstellers gegen den Bescheid des Bundesamtes für das Personalmanagement der Bundeswehr vom 10. August 2022 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen zu tragen.
III. Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 7.712,17 € festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller, der vom 1. Juli 2002 bis 1. März 2003 freiwilligen Grundwehrdienst geleistet hatte, wurde mit Wirkung vom 4. Juni 2019 in das Dienstverhältnis eines Soldaten auf Zeit berufen (Dienstzeitende: 31.8.2035).
2
Mit Verfügung vom 20. Juli 2022 wurde gegen ihn ein gerichtliches Disziplinarverfahren unter Hinweis auf strafrechtliche Ermittlungen wegen des Verdachts der Vergewaltigung, der sexuellen Nötigung und sexuellen Belästigung zum Nachteil der damals 14-jährigen Stieftochter D. eingeleitet. Er wurde vorläufig des Dienstes enthoben verbunden mit der Anordnung, dass 40 Prozent der jeweiligen monatlichen Dienstbezüge einbehalten werden. Zugleich wurde das Disziplinarverfahren bis zum Abschluss des Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft bzw. bis zur rechtskräftigen Beendigung des Strafverfahrens ausgesetzt. Zur Begründung der Einleitungsverfügung ist insbesondere ausgeführt, dass der Antragsteller hinreichend verdächtig sei, seine Dienstpflichten schuldhaft verletzt zu haben. Der Verdacht sei nach den Zeugenaussagen zum derzeitigen Zeitpunkt auch hinreichend wahrscheinlich. An der Glaubhaftigkeit der Aussagen zu zweifeln, bestehe aus hiesiger Sicht kein Anlass. Die Wehrdisziplinaranwaltschaft übersandte die Einleitungsverfügung mit einer Kopie der Strafakte an das Bundesamt für das Personalmanagement der Bundeswehr (im Folgenden: Bundesamt) mit der Bitte um Prüfung einer statusrechtlichen Maßnahme nach § 55 Abs. 5 SG und unter Hinweis darauf, dass die ersten vier Dienstjahre wohl zum 31. August 2022 erreicht würden.
3
Das Bundesamt entließ den Antragsteller nach Anhörung mit Bescheid vom 10. August 2022 gemäß § 55 Abs. 5 SG fristlos aus dem Dienstverhältnis eines Soldaten auf Zeit. Zur Begründung wiederholte es den Tatvorwurf aus der Einleitungsverfügung und führte aus, der Antragsteller habe gegen geltende Gesetzesbestimmungen, insbesondere gegen seine Pflicht zum treuen Dienen und seine allgemeine und außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht schwerwiegend verstoßen und das in ihn als Soldaten gesetzte Vertrauen grob missachtet, indem er seine 14-jährigen Stieftochter mehrfach vergewaltigt habe. Sein Verhalten und sein Verbleiben in den Streitkräften gefährdeten die militärische Ordnung ernstlich.
4
Der Antragsteller legte gegen die Entlassungsverfügung Beschwerde ein, über die bislang nicht entschieden ist. Zur Begründung führte er unter anderem aus: Er bestreite den ihm vorgeworfenen Sachverhalt ausdrücklich. Es bestünden erhebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Aussage der vermeintlich Geschädigten D. Der Antragsteller legte als Kopie aus den Strafakten ein polizeiliches Vernehmungsprotokoll vom 14. Juli 2022 vor, wonach die zwei Jahre ältere Schwester Z., die dem Antragsteller zusammen mit D. ebenfalls sexuellen Missbrauch vorgeworfen hatte, ihre Anzeige zurückgezogen und ihre früheren Vorwürfe nunmehr als erfunden bezeichnet hat.
5
Den Antrag, die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegen den Entlassungsbescheid anzuordnen, hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 16. September 2022 abgelehnt. Bei summarischer Prüfung erweise sich die Entlassungsverfügung nicht als offensichtlich rechtswidrig, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 55 Abs. 5 SG jedenfalls dann vorlägen, wenn man die Zeugenaussage der Stieftochter D. zugrunde lege. Die Antragsgegnerin habe mit der Entlassungsverfügung reagieren dürfen, obwohl das gegen den Antragsteller eingeleitete Strafverfahren bislang nicht abgeschlossen sei. Dem stehe nicht die Unschuldsvermutung entgegen, die sich nur auf Strafverfahren beziehe. Die Entlassungsbehörde sei aufgrund der Einleitung des Strafverfahrens und einer detaillierten Zeugenaussage der mutmaßlich geschädigten Person zu Recht davon ausgegangen, dass die Beschuldigungen gegen den Antragsteller nicht haltlos seien und schon wegen der Art der vorgeworfenen Straftaten aus präventiven Zwecken ein sofortiges Handeln zum Schutz des Ansehens der Bundeswehr erforderlich sei. Die durch die detaillierte und glaubwürdige Zeugenaussage des mutmaßlichen Opfers gegebene hinreichende Tatsachengrundlage für die Entlassung sei auch nicht durch die nunmehr bekannt gewordene Aussage der Schwester entwertet worden.
6
Der Antragsteller hat gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts fristgerecht Beschwerde eingelegt, mit der er seinen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz weiterverfolgt. Die Antragsgegnerin ist dem entgegengetreten und verteidigt die angegriffene Entscheidung.
II.
7
Die Beschwerde des Antragstellers ist zulässig und begründet.
8
Die Beschwerdegründe, die der Antragsteller innerhalb der Begründungsfrist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO dargelegt hat, führen zu einer Änderung der erstinstanzlichen Entscheidung (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO). Die Entlassungsverfügung vom 10. August 2022 erscheint bei summarischer Prüfung rechtswidrig, weshalb die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegen diese Personalmaßnahme gemäß § 23 Abs. 6 Satz 3 WBO in Verbindung mit § 80 Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 1 VwGO angeordnet wird (zum Prüfungsmaßstab BayVGH, B.v. 22.6.2022 - 6 CS 22.689 - juris Rn. 8 m.w.N.).
9
Rechtsgrundlage für die angefochtene Personalmaßnahme ist § 55 Abs. 5 SG. Danach kann ein Soldat auf Zeit während der ersten vier Dienstjahre fristlos entlassen werden, wenn er seine Dienstpflichten schuldhaft verletzt hat und sein Verbleiben in seinem Dienstverhältnis die militärische Ordnung oder das Ansehen der Bundeswehr ernstlich gefährden würde. Wesentliche Voraussetzung ist, dass der Soldat ein Dienstvergehen (vgl. § 23 Abs. 1 SG) begangen hat. Dazu muss die Entlassungsbehörde, wie zu jeder gesetzlichen Voraussetzung für einen Eingriff in subjektive Rechtpositionen, durch geeignete Ermittlungen den notwendigen Grad an Überzeugung gewinnen (vgl. allgemein Engel/Pfau in Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, 2. Aufl. 2019, § 24 Rn. 29; Kallerhoff/Fellenberg in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018 § 24 Rn. 20 ff.). Da § 55 Abs. 5 SG mit Blick auf die Tatbestandsvoraussetzung einer schuldhaften Dienstpflichtverletzung - anders als hinsichtlich des Merkmals „ernstliche Gefährdung“ der militärischen Ordnung oder des Ansehens der Bundeswehr - keinerlei Hinweise auf ein herabgestuftes Beweismaß enthält, ist die volle Überzeugungsgewissheit erforderlich („mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“). Es reicht nicht der Verdacht, der Soldat habe seine Dienstpflichten - mehr oder weniger - wahrscheinlich verletzt. Die Vorschrift rechtfertigt keine „Verdachtsentlassung“, unabhängig davon, wie schwer der Vorwurf wiegt.
10
Das hat das Bundesamt bei seiner Entlassungsverfügung vom 10. August 2022 nicht berücksichtigt. Es hat sich, ohne den Fortgang des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens abzuwarten oder eigene Ermittlungen anzustellen, allein auf die disziplinarrechtliche Einleitungsverfügung vom 20. Juli 2022 gestützt, die sich ihrerseits auf den damaligen Stand des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens gegen den Antragsteller gründete. Die in Bezug genommene disziplinarrechtliche Einleitungsverfügung geht indes lediglich von dem „hinreichenden Verdacht“ eines Dienstvergehens aus („Der Verdacht ist nach den Zeugenaussagen zum derzeitigen Zeitpunkt auch hinreichend wahrscheinlich. An der Glaubhaftigkeit der Zeugenaussagen zu zweifeln, besteht aus hiesiger Sicht kein Anlass“). Die Entlassungsverfügung des Bundesamts gibt in der Sachverhaltsschilderung (Nr. I der Gründe) den Tatvorwurf und die disziplinarrechtliche (Verdachts-)Bewertung im Wesentlichen wörtlich wieder, zieht daraus aber (in Nr. II der Gründe) ohne jede weitere Begründung oder gar eigenständige Beweiswürdigung den Schluss, der Antragsteller habe die ihm vorgeworfene Straftat begangen („Indem Sie Ihre 14-jährigen Stieftochter … mehrfach vergewaltigt haben, haben Sie gegen geltende Gesetzesbestimmungen… schwerwiegend verstoßen und das in Sie als Soldaten gesetzte Vertrauen grob missbraucht“). Diese schlichte Gleichsetzung von Verdacht und Nachweis unterschreitet das nach dem Gesetz erforderliche Beweismaß und ist durch den - damaligen wie heutigen - Stand der strafrechtlichen Ermittlungen nicht gerechtfertigt, zumal die Staatsanwaltschaft bislang keine öffentliche Klage erhoben hat. Der Sache nach handelt es sich - offenkundig - um eine bloße Verdachtskündigung, die § 55 Abs. 5 SG nicht zulässt.
11
Dieser Verstoß wiegt umso schwerer, als das Bundesamt im Zeitpunkt der Entlassungsverfügung am 10. August 2022 - objektiv - aufgrund eines bereits überholten Aktenstands aus dem strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens entschieden hat. Denn bereits am 14. Juli 2022 hatte die ältere Schwester der vermeintlich Geschädigten D., die bei der ersten polizeilichen Vernehmung am 25. November 2021 ebenfalls ausgesagt hatte, vom Antragsteller sexuell missbraucht worden zu sein, gegenüber der Polizei ihre eigenen Vorwürfe als frei erfunden zurückgezogen. Es mag gleichwohl weiterhin hinreichender Tatverdacht zumindest hinsichtlich D. bestehen. Eine abschließende Würdigung der Aussagen beider Schwestern mit einem für eine Entlassung nach § 55 Abs. 5 SG erforderlichen Grad der Überzeugung lässt sich jedoch weder damals noch heute allein auf die (schriftliche) Aktenlage stützen. Im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ist inzwischen ausweislich der vom Antragsteller vorgelegten Unterlagen die Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens zur Aussage der jüngeren Schwester D. geplant.
12
Bei dieser Sachlage scheiden im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren auch vorläufige Bewertungen zur Glaubhaftigkeit der jeweiligen Zeugenaussagen und damit eine Erfolgsprognose für das Hauptsacheverfahren von vornherein aus. Im Übrigen erscheint es wegen der Befristung einer Entlassung nach § 55 Abs. 5 SG auf die ersten vier Dienstjahre eines Soldaten zumindest zweifelhaft, ob eine mit dem Gesetz unvereinbare Verdachtskündigung auch nach dem Ende des vierten Dienstjahres durch „Erhärtung“ des Tatverdachts zur vollen Überzeugungsgewissheit im weiteren Verfahrensverlauf geheilt werden könnte.
13
Ein öffentliches Interesse an einer vorläufigen Vollziehung der rechtswidrigen (Verdachts-)Entlassung ist nicht ersichtlich. Einem etwaigen Interesse des Dienstherrn daran, dass der Antragsteller wegen des weiterhin gegen ihn bestehenden Tatverdachts nicht als Soldat tätig wird, ist durch die vorläufige Dienstenthebung in der disziplinarrechtlichen Einleitungsverfügung vom 20. Juli 2022 ausreichend Rechnung getragen.
14
Die Antragsgegnerin hat gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen zu tragen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1, Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 GKG unter Berücksichtigung von Nr. 1.5 der Empfehlungen des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl. BayVGH, B.v. 28.5.2018 - 6 CS 18.775 - juris Rn. 17; B.v. 19.4.2018 - 6 CS 18.580 - juris Rn. 19).
15
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).