Inhalt

VGH München, Beschluss v. 20.10.2022 – 24 ZB 22.31062
Titel:

Erfolgloser Berufungszulassungsantrag – Rückführung eines anerkannten Schutzberechtigten nach Polen

Normenketten:
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1, Nr. 3, Abs. 4 S. 4
VwGO § 86 Abs. 1 S. 1, § 138
GG Art. 103 Abs. 1
Leitsatz:
Das Verlangen nach bloßer Neubewertung unveränderter Tatsachen- oder Erkenntnisquellen im Asylstreitverfahren rechtfertigt eine Zulassung der Berufung grundsätzlich nicht. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Berufungszulassungsantrag (abgelehnt), Anerkannter Schutzberechtigter, Rückführung nach Polen, Keine Erkenntnismittel genannt, die eine Neubewertung der Lage durch den Verwaltungsgerichtshof erfordern, Berufungszulassungsantrag, grundsätzliche Bedeutung, Tatsachenfragen, anerkannter Schutzberechtigter, unveränderte Erkenntnisquellen, Neubewertung der Lage, rechtliches Gehör, Sachaufklärungspflicht
Vorinstanz:
VG Würzburg, Urteil vom 31.08.2022 – W 1 K 22.30205
Fundstelle:
BeckRS 2022, 31600

Tenor

I. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Prozessbevollmächtigten wird abgelehnt.
II. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
III. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

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I. Dem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Bevollmächtigten (§ 166 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 114 ff. ZPO) kann nicht entsprochen werden. Die Rechtsverfolgung hat aus den nachstehenden Gründen gemäß § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO keine Aussicht auf Erfolg.
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II. Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg, denn keiner der in § 78 Abs. 3 AsylG genannten Berufungszulassungsgründe ist hinreichend dargelegt (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG).
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1. Die Berufung ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zuzulassen. Zur Darlegung einer grundsätzlichen Bedeutung ist erforderlich, dass eine konkrete Tatsachen- oder Rechtsfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und klärungsfähig, insbesondere entscheidungserheblich, ist; ferner, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124a Rn. 72; Seeger in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1.7.2022, § 78 AsylG Rn. 18 ff.).
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Tatsachenfragen sind grundsätzlich nicht berufungsgerichtlich klärungsbedürftig, wenn das Verwaltungsgericht die verfügbaren Informationen herangezogen, aufbereitet und sachgerecht bewertet hat, ohne dass gegen diese Bewertung beachtliche Zweifel erkennbar sind und wenn keine gewichtigen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass das Verwaltungsgericht die tatsächlichen Verhältnisse im Ergebnis unzutreffend beurteilt hat (BayVGH, B.v. 22.1.2020 - 11 ZB 20.30210 - juris Rn. 3 m.w.N.). Es genügt nicht, die gerichtlichen Feststellungen zu den Gegebenheiten im Herkunftsland des Asylsuchenden bloß in Zweifel zu ziehen oder schlicht gegenteilige Behauptungen aufzustellen. Vielmehr muss durch Benennung bestimmter Erkenntnisquellen zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür dargelegt werden, dass nicht die Feststellungen, Erkenntnisse und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts, sondern die gegenteiligen Behauptungen in der Antragsschrift zutreffend sind, so dass es zur Klärung der sich insoweit stellenden Fragen der Durchführung eines Berufungsverfahrens bedarf (OVG NW, B.v. 14.3.2018 - 13 A 341/18.A - juris Rn. 5 f. m.w.N.; BayVGH, B.v. 22.2.2018 - 20 ZB 17.30393 - juris Rn. 11; B.v. 19.4.2018 - 11 ZB 18.30588 - juris Rn. 4; NdsOVG, B.v. 8.2.2018 - 2 LA 1784/17 - juris Rn. 4). Das Verlangen nach bloßer Neubewertung unveränderter Tatsachen- oder Erkenntnisquellen rechtfertigt die Berufungszulassung grundsätzlich nicht. Diese Voraussetzungen erfüllt die Begründung des Berufungszulassungsantrags nicht.
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Der Kläger hält für grundsätzlich klärungsbedürftig, ob Personen mit internationalem Schutzstatus, die aus einem außereuropäischen Kulturkreis kommen und ohne familiäre Verbindungen in Polen sind, in Polen Obdachlosigkeit und Arbeitslosigkeit droht, da aufgrund der hohen Anzahl aufgenommener ukrainischer Kriegsflüchtlinge in Polen sich die Unterbringungs- und Versorgungssituation von international Schutzberechtigten, die nicht aus der Ukraine, Weißrussland oder Russland stammen, seit dem 24. Februar 2022 zu den Jahren 2020 und 2021 verschlechtert hat, und diesen Personen eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 4 GrCH und Art. 3 EMRK mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Zur Begründung bezieht er sich auf einen Eilbeschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 7. April 2022 (15 L 236/22.A), dem stattgegeben worden ist und auf die Internetseite des UNHCR, aus der sich ergeben soll, dass derzeit ca. 1,2 Millionen ukrainische Staatsangehörige in Polen Schutz suchen, während im Jahr 2020 nur 2.803 Asylanträge in Polen gestellt worden seien, wovon nur 392 Personen internationalen Schutz erhalten hätten. Zudem beruft er sich auf einen Bericht von Human Rights Watch vom 29. April 2022 mit dem Titel „Poland: Trafficking, Exploitation Risks for Refugees“, aus dem sich ergeben soll, dass der polnische Staat bei der Versorgung und Unterbringung der Geflüchteten aus der Ukraine inaktiv ist und letztlich die Organisation und Versorgung der Geflüchteten Nichtregierungsorganisationen und Freiwilligen überlässt.
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Mit diesem Vortrag sind keine Erkenntnisquellen genannt, die zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür bieten, dass nicht die Feststellungen, Erkenntnisse und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts, sondern die gegenteiligen Behauptungen in der Antragsschrift zutreffend sind. Der genannte Artikel von Human Rights Watch bezieht sich auf die Situation unmittelbar nach Kriegsbeginn in der Ukraine und trifft über die jetzigen Verhältnisse keine Aussagen. Dass es zu diesem Zeitpunkt möglicherweise erhebliche Schwierigkeiten gegeben hat, die zahlreichen Flüchtenden vorübergehend zu versorgen und unterzubringen, bis sie entweder weiterreisen oder bei Verwandten und Bekannten unterkommen konnten, führt nicht dazu, dass jetzt nicht von einer Konsolidierung der Situation ausgegangen werden kann. Die bloße Bezugnahme auf die Asylzahlen aus dem Jahr 2020 hat ebenfalls keine Aussagekraft bezüglich der derzeitigen Verhältnisse. Der stattgebende Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf ist vereinzelt geblieben und kurz nach Kriegsbeginn in der Ukraine erlassen worden. Demgegenüber hat sich das Verwaltungsgericht auf zahlreiche Entscheidungen anderer Verwaltungsgerichte aus den Monaten April bis Juni 2022 bezogen, die keine Engpässe bei der Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen in Polen festgestellt haben. Der Kläger setzt sich mit diesen Entscheidungen nicht substantiiert auseinander und nennt weder spätere Entscheidungen anderer Verwaltungsgerichte noch aktuelle Erkenntnismittel aus denen sich ergeben könnte, dass die Situation für anerkannte Flüchtlinge in Polen zu unmenschlichen Zuständen führt. Auf dieser Basis ist eine Neubewertung der vorhandenen Informationen durch den Verwaltungsgerichtshof nicht erforderlich.
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2. Die Berufung ist auch nicht wegen einer Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG zuzulassen. Der Anspruch der Prozessbeteiligten auf rechtliches Gehör verpflichtet das Gericht, seine Entscheidung nur auf Tatsachen oder Beweisergebnisse zu stützen zu denen sich die Beteiligten äußern konnten (§ 108 Abs. 2 VwGO), sowie ihre rechtzeitigen und möglicherweise erheblichen Ausführungen zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, soweit sie aus verfahrens- oder materiellrechtlichen Gründen nicht ausnahmsweise unberücksichtigt bleiben müssen oder können (BayVerfGH, E.v. 23.9.2015 - Vf. 38-VI-14 - BayVBl 2016, 49 Rn. 44 m.w.N.). Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Gericht den von ihm entgegengenommenen Vortrag der Beteiligten in seine Erwägungen einbezogen hat. Nur wenn besondere Umstände den eindeutigen Schluss zulassen, dass es die Ausführungen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht erwogen hat, wird der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt (vgl. BVerfG, U.v. 8.7.1997, BVerfGE 96, 205, 215; B.v. 1.2.1978, BVerfGE 47, 182, 187; BVerwG, B.v. 30.3.2015 - 5 PB 26.14 - juris Rn. 3; SächsOVG, B.v. 31.3.2015 - 4 A 8/14 - juris Rn. 31). Eine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs liegt jedoch nicht schon dann vor, wenn das Gericht Tatsachen, zu denen sich die Betreffenden äußern konnten, in einer Weise würdigt oder aus ihnen Schlussfolgerungen zieht, die nicht seinen subjektiven Erwartungen entsprechen oder von ihm für unrichtig gehalten werden (stRspr, vgl. BVerwG, B.v. 25.5.2017 - 5 B 75.15 D - juris Rn. 11 m.w.N.).
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Der Kläger macht geltend, das Verwaltungsgericht habe nicht zur Kenntnis genommen, dass er sich auf den Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 7. April 2022 bezogen habe. Die vom Verwaltungsgericht herangezogenen Entscheidungen beruhten auch nicht auf aktuellen Erkenntnissen und Auskünften, sondern teilweise auf Feststellungen aus den Jahren 2020 und 2021. Es hätte sich deshalb eine Sachaufklärungspflicht von Amts wegen aufdrängen müssen und es hätten weitere Auskünfte eingeholt werden müssen.
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Damit ist ein Gehörsverstoß nicht hinreichend dargelegt. Zwar trifft es zu, dass sich das Verwaltungsgericht nicht ausdrücklich mit dem vom Kläger in seinem Schriftsatz vom 9. August 2022 genannten Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 7. April 2022 (15 L 236/22.A) auseinandergesetzt hat. Das Verwaltungsgericht hat aber sowohl auf einen aktuelleren Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 10. August 2022 (12 L 1303/22.A) als auch auf aktuellere Entscheidungen anderer Verwaltungsgerichte Bezug genommen und damit zum Ausdruck gebracht, dass es der in dem Beschluss vom 7. April 2022 geäußerten Auffassung nicht folgt.
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Soweit der Kläger kritisiert, das Verwaltungsgericht habe seine Sachaufklärungspflicht verletzt und hätte aktuelle Auskünfte einholen müssen, kann dies nicht zur Zulassung der Berufung führen. Die Behauptung, das Gericht habe einem tatsächlichen Umstand nicht die richtige Bedeutung für weitere tatsächliche oder rechtliche Folgerungen beigemessen oder das Gericht habe es versäumt, Beweis zu erheben, vermag einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG nicht zu begründen (vgl. BVerfG, B.v. 15.2.2017 - 2 BvR 395/16 - juris Rn. 5 m.w.N.; BayVGH, B.v. 22.10.2019 - 9 ZB 19.31503 - juris Rn. 8). Art. 103 Abs. 1 GG statuiert keine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht (vgl. BVerfG, B.v. 5.3.2018 - 1 BvR 1011/17 - juris Rn. 16). Ein (behaupteter) Verstoß gegen die umfassende Aufklärungspflicht des Verwaltungsgerichts (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO) ist kein in § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 VwGO bezeichneter Verfahrensmangel und vermag somit die Zulassung der Berufung nicht zu rechtfertigen (vgl. BayVGH, B.v. 22.5.2019 - 9 ZB 19.31904 - juris Rn. 3). Ein beachtlicher Verfahrensfehler kann ausnahmsweise zwar dann gegeben sein, wenn die tatrichterliche Beweiswürdigung auf einem Rechtsirrtum beruht, objektiv willkürlich ist oder allgemeine Sachverhalts- und Beweiswürdigungsgrundsätze, insbesondere gesetzliche Beweisregeln, Natur- oder Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, missachtet (vgl. BayVGH, B.v. 24.6.2019 - 15 ZB 19.32283 - juris Rn. 17 m.w.N.; B.v. 8.5.2018 - 20 ZB 18.30551 - juris Rn. 2 m.w.N.). Demgemäß kommt eine Verletzung des Rechts aus Art. 103 Abs. 1 GG in Betracht, soweit das Gericht eine Beweisanregung nicht zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat oder ihr nicht gefolgt ist, obwohl sich dies hätte aufdrängen müssen (BVerwG, B.v. 4.3.2014 - 3 B 60.13 - juris Rn. 7; BayVGH, B.v. 1.10.2019 - 9 ZB 19.33217 - juris Rn. 8). Dass ein solcher Mangel vorliegt, zeigt das Zulassungsvorbringen aber nicht auf. Vielmehr hat der anwaltlich vertretene Kläger bei seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 23. August 2022 keinen Beweisantrag gestellt. Die Rüge eines Verfahrensmangels ist aber kein Mittel, Versäumnisse eines Verfahrensbeteiligten im vorangegangenen Instanzenzug zu kompensieren (BVerwG, B.v. 20.12.2012 - 4 B 20.12 - juris Rn. 6).
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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4. Dieser Beschluss, mit dem das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG), ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).