Inhalt

VGH München, Beschluss v. 07.11.2022 – 15 CS 22.1998
Titel:

Anordnung der Unterlassung des Baubeginns - Baugenehmigungsfiktion

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5, § 113 Abs. 1 S. 1, § 114 S. 1, § 146
BayBO Art. 59, Art. 68 Abs. 2, Abs. 6 Nr. 1, Art. 75 S. 1, S. 2 Nr. 1
BayVwVfG Art. 40, Art. 41 Abs. 1, Abs. 2 S. 2, Art. 42a, Art. 48
Leitsätze:
1. Eine Genehmigungsfiktion gem. Art. 42a BayVwVfG tritt auch dann ein, wenn der Ablehnungsbescheid zwar tatsächlich innerhalb der Entscheidungsfrist kraft elektronischer Übermittlung zugeht, aber so spät abgesandt wurde, dass der Bekanntgabezeitpunkt gemäß Art. 41 Abs. 2 Satz 2 BayVwVfG nach Fristende liegt. (Rn. 41)
2. Ist die Genehmigungsfiktion wegen Fristablaufs eingetreten, die Fiktionseintrittsbescheinigung aber noch nicht ausgestellt bzw. dem Bauherrn noch nicht zugegangen, ist im Rahmen des gem. Art. 75 Abs. 1, Satz, Satz 2 Nr. 1 i.V. mit Art. 60 Abs. 6 Nr. 1 BayBO, Art. 40 BayVwVfG auszuübenden Eingriffsermessens ein bestehender Anspruch des Bauherrn auf Ausstellung der Bescheinigung zu berücksichtigen. (Rn. 46)
Schlagworte:
erfolgreiche Beschwerde, Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung (präventives Bauverbot), Ermessen (bauordnungsrechtliches Eingreifen, intendiertes Ermessen, Sonderfall), Zeitpunkt der Bekanntgabe eines VA bei elektronischer Übermittlung, Baugenehmigungsfiktion im bayerischen Landesrecht, gesetzliche Pflicht zur Ausstellung der Fiktionseintrittsbescheinigung, Genehmigungsfiktion
Vorinstanz:
VG Regensburg, Beschluss vom 22.02.2022 – RO 7 S 22.1939
Fundstellen:
RÜ2 2023, 69
BayVBl 2023, 87
DVBl 2023, 282
DÖV 2023, 222
LSK 2022, 31550
BeckRS 2022, 31550

Tenor

I. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 22. August 2022 (RO 7 S 22.1939) wird in Nummern I. und II. geändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin vom 4. August 2022 (RO 7 K 22.1940) gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 14. Juli 2022 wird wiederhergestellt.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin wendet sich gegen ein ihr gegenüber erlassenes präventives Bauverbot (Anordnung der Unterlassung des Baubeginns).
2
Die Antragstellerin beantragte unter dem 13. Dezember 2021 eine Baugenehmigung für den Neubau eines Mehrfamilienhauses mit Tiefgarage auf den FlNrn. …80 und …89 der Gemarkung N. Nach Eingang der vollständigen Bauvorlagen verlängerte die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 7. April 2022 die Genehmigungsfiktionsfrist gem. Art. 68 Abs. 2 BayBO i.V. mit Art. 42a Abs. 2 Satz 3 BayVwVfG bis zum 20. Juni 2022.
3
Mit Bescheid vom 20. Juni 2022 lehnte die Antragsgegnerin den Bauantrag mit der Begründung ab, dass sich das Bauvorhaben im unbeplanten Innenbereich hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfüge. Das genehmigungspflichtige Vorhaben liege hinsichtlich der Geschossanzahl, der Grundfläche und der Traufhöhe über den maximalen Werten der Bebauung in der näheren Umgebung i.S. von § 34 Abs. 1 BauGB. Es begründe bodenrechtliche Spannungen; die Voraussetzungen des § 34 Abs. 3a BauGB lägen nicht vor.
4
Diesen Bescheid versandte die Antragsgegnerin als pdf-Kopie des unterschriebenen Originals am Nachmittag des 20. Juni 2022 elektronisch über ein besonderes Behördenpostfach (beBPo) an das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) des im Verwaltungsverfahren bevollmächtigten Rechtsanwalts der Antragstellerin mit folgendem Begleittext (Bl. 226 der Behördenakte WB-2021-646 = Bl. 80, 119 der Behördenakte I/10-6024/2021-12):
5
Sehr geehrter Herr Kollege T.,
6
in der Anlage übersende ich Ihnen vorab über das besondere elektronische Behördenpostfach den Bescheid zum Bauvorhaben Ihrer Mandantin in der S. straße … Das Original wird Ihnen auf dem Postweg zugehen.
7
Für Rückfragen stehe ich Ihnen selbstverständlich gern zur Verfügung.
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Mit freundlichen kollegialen Grüßen“
9
Hierfür erhielt die Antragsgegnerin eine elektronische Eingangsbestätigung vom 20. Juni 2022, 15:29:30 Uhr, wonach der Adressat die Datei „2022-06-20_Bescheid_K._BV-S* H.traße....pdf“ empfangen habe (Bl. 227 der Behördenakte WB-2021-646 = Bl. 81 der Behördenakte I/10-6024/2021-12). Am folgenden Tag (21. Juni 2022) wurde der Bescheid dem damaligen Bevollmächtigten der Antragstellerin sowohl per Postzustellungsurkunde zugestellt (vgl. Bl. 202 f. der Behördenakte WB-2021-646) als auch zugefaxt (Bl. 86 der Behördenakte I/10-6024/2021-12).
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Mit Schreiben vom 23. Juni 2022 forderte der damalige Bevollmächtigte der Antragstellerin die Antragsgegnerin auf, „die Bescheinigung nach Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BayBO i.V.m. Art. 42a Abs. 3 BayVwVfG unverzüglich auszustellen“; der Ablehnungsbescheid vom 20. Juni 2022 sei der Anwaltskanzlei erst am 21. Juni 2022 mit der Post zugestellt worden. Damit sei mit Ablauf des 20. Juni 2022 die Genehmigungsfiktion gemäß Art. 68 Abs. 2 BayBO i.V. mit Art. 42a BayVwVfG eingetreten. Zwar habe die Antragsgegnerin am 20. Juni 2022 gegen 15.30 Uhr den Versuch unternommen, den Ablehnungsbescheid über ein besonderes elektronisches Behördenpostfach bekanntzumachen. Dieser Versuch sei jedoch fehlgeschlagen, da die Zustellung vom anwaltseigenen Postfach nicht habe identifiziert werden können. Die Datei „2022-06-20_Bescheid_K._BV-S* H.straße_...pdf“ habe sich nicht öffnen lassen. Dieser Sachverhalt sei am Folgetag (21. Juni 2022) der Antragsgegnerin telefonisch mitgeteilt worden. Die Postzustellung am 21. Juni 2021 sei ebenso wie die Übermittlung per Telefax um einen Tag zu spät erfolgt. Das Risiko, dass ein Dokument wegen nicht kompatibler Software nicht lesbar sei, trage der Absender, mithin vorliegend die Antragsgegnerin. Für diese Risikoverteilung spreche auch, dass eine Verpflichtung der Rechtsanwälte, ein elektronisches Postfach zu unterhalten, bislang nur im Verhältnis zu den Gerichten bestehe.
11
Dem Anwaltsschreiben vom 23. Juni 2022 war der Ausdruck eines Screenshots einer aus dem elektronischen „Papierkorb“ aufgeladenen Datei aus dem beA-Programm des vormaligen Bevollmächtigten der Antragstellerin als Anlage beigefügt, in der einerseits der Empfang und der Zugang der übermittelten Datei „2022-06-20_Bescheid_K._BV-S* H.straße....pdf“ für den „20.06.2022“ um „15:29“ Uhr bestätigt wird, andererseits auf dem Bildschirm zum einen zentriert im oberen Bildschirmdrittel in roter Schrift und zum andern rechts oben in schwarzer Schrift jeweils ein „x“ mit folgendem Begleittext erscheint: „Die geöffnete Nachricht ist leider fehlerhaft und kann deswegen nicht geöffnet werden.“ (Bl. 212 der Behördenakte WB-2021-646 = Bl. 94 der Behördenakte I/10-6024/2021-12). Ferner war dem Anwaltsschreiben vom 23. Juni 2022 als Anlage ein ausgefülltes und unterschriebenes Formular „Baubeginnsanzeige“ beigefügt, in dem von der Antragstellerin als Tag des Baubeginns das (aus damaliger Sicht zukünftige) Datum „15.07.2022“ mitgeteilt wurde (Bl. 213 ff. der Behördenakte WB-2021-646).
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Die Antragsgegnerin lehnte mit Schreiben vom 7. Juli 2022 gegenüber dem damaligen Bevollmächtigten der Antragstellerin die Erteilung der Genehmigungsfiktionsbescheinigung ab. Aus ihrer Sicht sei der Ablehnungsbescheid am 20. Juni 2022 der Antragstellerin zugegangen.
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Nachdem die Antragstellerin per E-Mail vom 8. Juli 2022 mitgeteilt hatte, die Baubeginnsanzeige nicht zurückzuziehen, ordnete die Antragsgegnerin mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 14. Juli 2022 - gestützt auf Art. 75 BayBO analog - gegenüber der Antragstellerin unter Anordnung des Sofortvollzugs sowie unter Zwangsgeldandrohung an, es zu unterlassen, mit den Bauarbeiten auf den Baugrundstücken zu beginnen, solange sie weder über eine Baugenehmigung noch über eine Bescheinigung gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BayBO i.V. mit Art. 42a Abs. 3 BayVwVfG verfüge. In der Bescheidbegründung wird die Frage, ob die Voraussetzungen einer fingierten Baugenehmigung (Art. 68 Abs. 2 BayBO i.V. mit Art. 42a BayVwVfG) eingetreten sind oder nicht, nicht näher thematisiert. Laut der Bescheidbegründung war für den Erlass der Verfügung ausschlaggebend, dass der von der Antragstellerin angekündigte Baubeginn im Widerspruch zu Art. 68 Abs. 6 Nr. 1 BayBO stehe, weil der Antragstellerin für das beantragte Vorhaben weder eine Baugenehmigung noch eine Fiktionseintrittsbescheinigung zugestellt worden sei. Der Bescheiderlass gründe auf der Ermessenserwägung, rechtswidrige Zustände zu verhindern. Hinzukomme, dass das Bauvorhaben mit dem materiellen Recht nicht in Einklang stehe, da es bauplanungsrechtlich nicht genehmigungsfähig sei. Das öffentliche Interesse an der Einhaltung der Rechtsordnung überwiege gegenüber den Belangen der Antragstellerin, mit dem Bau beginnen zu können. Es lägen objektiv konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass die Antragstellerin als Bauherrin rechtswidrig mit den Bauarbeiten beginne. Die Antragstellerin werde mit dem Bescheid in den gleichen Stand versetzt, wie ihn ein gesetzestreuer Bürger einnehme, der mit den Bauarbeiten erst nach Erhalt einer Genehmigung bzw. einer Bescheinigung über den Eintritt der Genehmigungsfiktion beginne.
14
Die Antragstellerin erhob am 18. Juli 2022 beim Verwaltungsgericht Regensburg zunächst eine (dort weiterhin unter dem Az. RO 7 K 22.1821 anhängige) Klage mit den Hauptanträgen auf Feststellung, dass hinsichtlich des streitgegenständlichen Vorhabens die Genehmigungsfiktion eingetreten sei, und auf Verurteilung der Antragsgegnerin zur Erteilung der Fiktionseintrittsbescheinigung sowie dem Hilfsantrag, die Antragsgegnerin unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 20. Juni 2022 zu verpflichten, die beantragte Baugenehmigung zu erteilen. Am 4. August 2022 erhob die Antragstellerin sodann eine weitere Klage beim Verwaltungsgericht Regensburg mit dem Antrag, den Bescheid vom 14. Juli 2022 aufzuheben. Auch über diese Klage (Az. RO 7 K 22.1940) wurde noch nicht entschieden.
15
Ihren ebenso am 4. August 2022 gestellten Eilantrag gem. § 80 Abs. 5 VwGO, die aufschiebende Wirkung ihrer Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 14. Juli 2022 wiederherzustellen, lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 22. August 2022 ab. Die im Eilverfahren vorzunehmende Interessenabwägung gehe - so die Beschlussbegründung - zu Lasten der Antragstellerin aus, weil die gegen die streitgegenständliche Unterlassungsverfügung vom 14. Juli 2022 gerichtete Anfechtungsklage nach summarischer Prüfung erfolglos bleiben werde. Der nach erfolgter Anhörung formell rechtmäßige Bescheid in Gestalt eines Baubeginnsverbots sei gestützt auf Art. 75 Abs. 1 Satz 1 i.V. mit Satz 2 Nr. 1 BayBO analog auch materiell rechtmäßig. Hierdurch sei auch ein präventives Baubeginnsverbot abgedeckt, wenn - wie hier - hinreichend konkrete und begründete Anhaltspunkte dafür bestünden, dass mit der Errichtung einer Anlage alsbald und ernsthaft begonnen werde und es hinreichend wahrscheinlich sei, dass ein dem öffentlichen Recht widersprechender Zustand geschaffen werde bzw. wenn zu befürchten sei, dass innerhalb kurzer Zeit später nicht mehr oder nur noch sehr schwer rückgängig zu machende Baumaßnahmen erfolgten. Die Eingriffsvoraussetzungen seien gegeben, weil der Antragstellerin bislang weder eine Baugenehmigung noch eine Genehmigungsfiktionsbescheinigung zugegangen sei und deshalb ein wegen Verstoßes gegen Art. 68 Abs. 6 Nr. 1 BayBO rechtswidriger Baubeginn unmittelbar bevorgestanden habe. Damit sei ein bauordnungsrechtliches Einschreiten auf Tatbestandsebene gerechtfertigt. Mit der Erwägung, dass die Antragstellerin mangels Baugenehmigung bzw. Bescheinigung gem. Art. 42a Abs. 3 BayVwVfG nicht berechtigt sei, mit dem Bau zu beginnen, und deshalb die Gefahr bestehe, dass durch den Baubeginn rechtswidrige Zustände geschaffen werden, seien hinreichende Ermessenserwägungen erfolgt. Bei Bauarbeiten ohne die notwendige Genehmigung sei vor dem Hintergrund des von einer Baueinstellung verfolgten Zwecks eines möglichst frühzeitigen Eingreifens in den Entstehungsprozess illegaler Vorhaben von einem sog. intendierten Ermessen auszugehen. Mit der Argumentation der Antragstellerin, dass die Antragsgegnerin evident verpflichtet gewesen sei, ihr eine den Baubeginn ermöglichende Bescheinigung nach Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BayBO i.V. mit Art. 42a Abs. 3 BayVwVfG auszustellen, könne ein Ermessensfehler nicht begründet werden. Im Meinungsstreit zu Art. 75 BayBO hinsichtlich der Rechtsfrage, ob die evidente Genehmigungsfähigkeit bei der Ermessensausübung im Rahmen einer Baueinstellung Berücksichtigung finden müsse, sei die Auffassung vorzugswürdig, dass auch eine evidente Genehmigungsfähigkeit bei der Baueinstellung keine Rolle spiele, da der Bauherr unabhängig davon die gesetzlichen Voraussetzungen einzuhalten habe, nämlich eine Baugenehmigung oder Bescheinigung i.S.v. Art. 42a Abs. 3 BayVwVfG abzuwarten bzw. ggf. einzuklagen, bevor mit dem Bau begonnen werde. Andernfalls würde das Baugenehmigungsverfahren zur „leeren Hülse“ und der Zweck des Art. 75 BayBO verfehlt, u.a. das formelle Baurecht durchzusetzen. Komme es damit nicht auf die evidente Genehmigungsfähigkeit eines Vorhabens im Rahmen der Baueinstellung an, so müsse dies auch für den geltend gemachten evidenten Anspruch auf Erteilung einer Bescheinigung nach Art. 42a Abs. 3 BayVwVfG gelten. Die Antragstellerin sei insoweit auf das anhängige Klageverfahren RO 7 K 22.1821 zu verweisen. Zweifel an der richtigen Störerauswahl oder an der Verhältnismäßigkeit der streitgegenständlichen Anordnung bestünden ebenfalls nicht.
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Mit ihrer gegen den ablehnenden Eilbeschluss des Verwaltungsgerichts vom 22. August 2022 gerichteten Beschwerde verfolgt die Antragstellerin ihr Rechtsschutzbegehren weiter. Sie trägt vor, es komme vorliegend schon nicht auf eine evidente Genehmigungsfähigkeit an, da eine Fiktionsgenehmigung unabhängig von einer Genehmigungsfähigkeit eingreife und nach den Grundsätzen der Genehmigungsfiktion eine Genehmigung für das Bauvorhaben bereits vorliege. Die streitgegenständliche Maßnahme sei rechtswidrig, weil die Antragsgegnerin evident verpflichtet gewesen sei, ihr gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BayBO eine den Baubeginn ermöglichende Bescheinigung nach Art. 42a Absatz 3 BayBO auszustellen; die Anordnung auf Baueinstellung verstoße gegen die Grundsätze von Treu und Glauben und sei ermessensfehlerhaft. Sie - die Antragstellerin - habe von ihrer Seite als Bauherrin im Baugenehmigungsverfahren alles Erforderliche veranlasst. Vorliegend sei im Rahmen der Ermessensausübung zu berücksichtigen, dass mit dem Fristablauf eine Genehmigung bereits vorhanden sei. Das Eingriffsermessen sei zugunsten der Bauherrnseite auf null reduziert, da unter Berücksichtigung des Willkürverbots eine Behörde nicht eine Baueinstellung verfügen dürfe, wenn sie von Gesetzes wegen zur Erteilung eines Fiktionszeugnisses verpflichtet sei. Die Versagung der Baugenehmigung sei erst am 21. Juni 2022 und damit um einen Tag zu spät bekannt gegeben worden sei. Der Zustellungsversuch auf elektronischem Weg am 20. Juni 2022 sei an einem Übermittlungsfehler gescheitert. Ihr im Verwaltungsverfahren bevollmächtigter Anwalt habe den lesbaren Teilen der elektronisch übermittelten Nachricht der Antragsgegnerin vom 20. Juni 2022 nicht entnehmen können, dass die Versagung der Genehmigung in der Nachricht enthalten sei. Zudem regle bei elektronischer Zusendung das Gesetz in Art. 41 Abs. 2 Satz 2 BayVwVfG den Bekanntgabezeitpunkt dahingehend, dass der Verwaltungsakt erst am dritten Tag nach der Versendung als bekanntgegeben gelte.
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Die Antragstellerin beantragt,
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unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 22. August 2022 die aufschiebende Wirkung ihrer Anfechtungsklage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 14. Juli 2022 wiederherzustellen.
19
Die Antragsgegnerin beantragt,
20
die Beschwerde zurückzuweisen,
21
und verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung. Ergänzend bringt sie u.a. vor, dass wegen Deckungsgleichheit der Streitgegenstände des dem Eilverfahren zugrundeliegenden Hauptsacheverfahrens (RO 7 K 22.1940) und des weiteren Klageverfahrens RO 7 K 22.1821 von einer unzulässigen doppelten Rechtshängigkeit auszugehen sei. Selbst wenn im Rahmen der Ermessensausübung eine etwaige offensichtliche (fingierte) Genehmigung zu einer Ermessensreduzierung führen würde, sei dem Eilantrag der Erfolg zu versagen. Aufgrund des am 20. Juni 2022 dokumentierten Zugangs des Ablehnungsbescheids bestehe keine fiktive Genehmigung. Der Vortrag der Antragstellerin, dass die am 20. Juni 2022 tatsächlich elektronisch zugegangene Nachricht bzw. ihr Dateianhang objektiv nicht zu öffnen gewesen sei, werde in Abrede gestellt. Bei einem besonderen elektronischen Behördenpostfach sei jederzeit die Möglichkeit gegeben, die versandte Nachricht erneut vom Server abzuholen. Der Ablehnungsbescheid sei u.a. aufgrund der elektronischen Eingangsbestätigung ersichtlich am 20. Juni 2022 dem im Verwaltungsverfahren bevollmächtigten Rechtsanwalt der Antragstellerin elektronisch zugegangen. Tatsächlich sei daher der von der Antragstellerin behauptete Eintritt der Fiktion weder evident noch offenkundig. Im Übrigen setze der rechtmäßige Erlass einer Baueinstellungsverfügung nach der Rechtsprechung nur voraus, dass konkrete Anhaltspunkte vorlägen, die es wahrscheinlich machten, dass ein dem öffentlichen Recht widersprechender Zustand geschaffen werde, nicht aber die tatsächliche Bestätigung dieser Vermutung. Selbst wenn von einer fingierten Genehmigung auszugehen wäre, wäre der Bescheid vom 14. Juli 2022 nicht ermessensfehlerhaft. Weil das Bauvorhaben nicht genehmigungsfähig sei, bestünde ohne den angefochtenen Bescheid die Gefahr der Schaffung rechtswidriger Zustände. Insoweit sei der Antragstellerin bereits mitgeteilt worden, dass im Fall einer gerichtlich rechtskräftigen Feststellung der von ihr behaupteten fingierten Genehmigung unverzüglich die Rücknahme erklärt werde. Jedenfalls sei der angegriffene Beschluss des Verwaltungsgerichts Regensburg schon deshalb richtig, weil die dort vertretene Rechtsauffassung, es komme auf eine etwaige offensichtliche Genehmigungsfähigkeit nicht an, da andernfalls das Baugenehmigungsverfahren zur „leeren Hülse“ würde, zutreffend sei.
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Der Vertreter des öffentlichen Interesses hat sich im Beschwerdeverfahren nicht beteiligt. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen sowie auf die vorgelegten Behördenakten der Antragsgegnerin Bezug genommen.
II.
23
Die zulässige Beschwerde ist begründet.
24
Das Verwaltungsgericht hat es nach Maßgabe der Beschwerdebegründung (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) zu Unrecht abgelehnt, die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen die streitgegenständliche präventive Baueinstellungsverfügung vom 14. Juli 2022 wiederherzustellen.
25
Im Rahmen eines Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht aufgrund der sich im Zeitpunkt seiner Entscheidung darstellenden Sach- und Rechtslage eine eigene Ermessensentscheidung darüber, ob die öffentlichen Interessen, die für einen sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts sprechen, oder die privaten Interessen (hier der Antragstellerin als Bauherrin), die für die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung streiten, höher zu bewerten sind. Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache zu berücksichtigen. Diese sind ein wesentliches, aber nicht das alleinige Indiz für und gegen den gestellten Antrag. Wird der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein (weil er zulässig und begründet ist), so wird regelmäßig nur die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Wird dagegen der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf voraussichtlich keinen Erfolg haben (weil er unzulässig oder unbegründet ist), so ist dies ein starkes Indiz für die Ablehnung des Antrags auf Wiederherstellung des Suspensiveffekts. Sind schließlich die Erfolgsaussichten offen, findet eine allgemeine, von den Erfolgsaussichten unabhängige Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt (BayVGH, B.v. 18.9.2017 - 15 CS 17.1675 - juris Rn. 11).
26
Im vorliegenden Fall wird die am 4. August 2022 erhobene Klage in der Hauptsache, also die Anfechtungsklage der Antragstellerin mit dem Antrag, den Bescheid vom 14. Juli 2022 aufzuheben, voraussichtlich erfolgreich sein.
27
1. Die weiterhin anhängige Anfechtungsklage vom 4. August 2022 ist nicht wegen doppelter Rechtshängigkeit (§ 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 17 Abs. 1 Satz 2 GVG) unzulässig. Die parallel anhängige Klage vor dem Verwaltungsgericht Regensburg Az. RO 7 K 22.1821 zielt auf die Feststellung, dass die Genehmigungsfiktion eingetreten ist, bzw. auf die Verurteilung der Antragsgegnerin zur Ausstellung der Fiktionsbescheinigung sowie hilfsweise auf die Verpflichtung der Antragsgegnerin, die beantragte Baugenehmigung zu erteilen. Mit der am 4. August 2022 erhobenen Anfechtungsklage Az. RO 7 K 22.1940, auf die der von der vorliegenden Beschwerde umfasste Eilantrag gem. § 80 Abs. 5 VwGO bezogen ist, begehrt die Antragstellerin demgegenüber die Kassation der bauordnungsrechtlichen Anordnung vom 14. Juli 2022, den Baubeginn zu unterlassen. Die Klagen betreffen mithin unterschiedliche Streitgegenstände und damit unterschiedliche prozessuale Ansprüche (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 14.11.2016 - 5 C 10.15 D - NVwZ-RR 2017, 635 = juris Rn. 17).
28
2. Die Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 14. Juli 2022 wird sich nach gegenwärtiger Akten- und Sachlage voraussichtlich auch gem. § 113 Abs. 1 Satz 1 i.V. mit § 114 Satz 1 VwGO als begründet erweisen, weil die präventive Baueinstellung am Maßstab von Art. 75 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1, Art. 68 Abs. 6 BayBO i.V. mit Art. 40 BayVwVfG ermessensfehlerhaft ergangen ist.
29
a) Die Frage, ob die Verfügung vom 14. Juli 2022 rechtmäßig ist und keine subjektiven Rechte der Antragstellerin verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), beantwortet sich nach dem aus Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes danach, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen der Befugnisnorm des Art. 75 Abs. 1 BayBO einschlägig sind, ob diese Eingriffsermächtigung hinsichtlich ihrer Rechtsfolge in direkter oder analoger Anwendung die Anordnung eines präventiven Bauverbots abdeckt und ob das durch Art. 75 Abs. 1 Satz 1 BayBO eröffnete Ermessen fehlerfrei ausgeübt wurde (Art. 40 BayVwVfG, § 114 Satz 1 VwGO).
30
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Baueinstellungsverfügung ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts; denn bei einer Baueinstellung bzw. (hier) einer Anordnung der Unterlassung des Baubeginns (= präventives Bauverbot) handelt es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung (Decker in Busse/Kraus, BayBO, Stand Mai 2022, Art. 75 Rn. 137 m.w.N.). Da die von Art. 75 BayBO erfassten Maßnahmen Instrumente präventiver Bauaufsicht sind, ist für das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen entscheidend, ob aufgrund objektiver Anhaltspunkte die Schaffung eines dem öffentlichen Recht widersprechenden Zustands droht. Es genügt mithin ein „Anfangsverdacht“ dafür, dass eine bauliche Anlage im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet wird, (vgl. BayVGH, B.v. 10.4.2017 - 15 ZB 16.672 - juris Rn. 10; B.v. 26.4.2021 - 1 CS 21.449 - juris Rn. 12; B.v. 18.10.2021 - 15 CS 21.1990 - juris Rn. 41; B.v. 18.10.2021 - 15 CS 21.2407 - juris Rn. 39; B.v. 10.11.2021 - 15 ZB 21.1329 - juris Rn. 9; Decker a.a.O. Art. 75 Rn. 48; Weber in Schwarzer/König, BayBO, 5. Aufl. 2022, Art. 75 Rn. 5 f.; Molodovsky/Waldmann in Molodovsky/Famers/Waldmann, BayBO, Stand Mai 2022, Art. 75 Rn. 17; Manssen in Spannowsky/Manssen, BeckOK Bauordnungsrecht Bayern, Stand September 2022, Art. 75 BayBO Rn. 5). Art. 75 Abs. 1 Satz 1 BayBO räumt zwar an sich nur die bauordnungsrechtliche Befugnis ein, die Einstellung bereits begonnener rechtwidriger Baumaßnahmen anzuordnen. Über den engeren Wortlaut ist die Bauaufsichtsbehörde analog Art. 75 Abs. 1 Satz 1 BayBO auch befugt, Arbeiten präventiv einzustellen, also - wie hier durch den streitgegenständlichen Bescheid vom 14. Juli 2022 ausgesprochen - den Beginn der Bauausführung zu untersagen, falls konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine rechtswidrige Bauausführung unmittelbar bevorsteht (Decker a.a.O. Art. 75 Rn. 42; Weber a.a.O., Art. 75 Rn. 11). Ist der Eingriffstatbestand des Art. 75 Abs. 1 BayBO erfüllt, genügt auf der Rechtsfolgenseite die behördliche Erwägung, rechtswidrige Zustände zu verhindern, im Allgemeinen den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Ermessensausübung (Art. 40 BayVwVfG). Im Fall des Art. 75 BayBO werden auch mit Blick auf Art. 20 Abs. 3 GG und die Ordnungsfunktion des Bauordnungsrechts an die Ermessensausübung und ihre Begründung (Art. 39 Abs. 1 Satz 3 BayVwVfG) grundsätzlich geringe Anforderungen gestellt. Denn es ist Sache des Bauherrn, vor Baubeginn die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Baubeginn zu schaffen und es ist ihm grundsätzlich auch unter Hinnahme wirtschaftlicher Nachteile zuzumuten, bis dahin mit dem Beginn oder der Fortsetzung der Bauarbeiten zuzuwarten. Das der Bauaufsichtsbehörde nach Art. 75 Abs. 1 Satz 1 BayBO eingeräumte Ermessen ist mithin insoweit im Regelfall ein bloßes „intendiertes Ermessen“, weil generell ein öffentliches Interesse daran besteht, die Fortführung rechtswidriger Bauarbeiten zu verhindern. Der schlichte Verweis auf die Zielrichtung, rechtmäßiger Zustände herstellen zu wollen, genügt demgegenüber aber dann nicht, wenn ausnahmsweise besondere Gründe vorliegen, die eine andere Entscheidung als die Baueinstellung rechtfertigen (zum Ganzen vgl. BayVGH, B.v. 2.8.2000 - 1 ZB 97.2669 - juris Rn. 5; B.v. 29.10.2020 - 1 CS 20.1979 - juris Rn. 14; B.v. 26.04.2021 - 1 CS 21.449 - juris Rn. 17; Decker a.a.O. Art. 75 Rn. 83 ff., 100 f.; Weber a.a.O. Art. 75 Rn. 9; Molodovsky/Waldmann a.a.O. Art. 75 Rn. 41).
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Nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage und in Auswertung der Aktenlage ist die Antragstellerin vorliegend wegen Fristablaufs Inhaberin einer fingierten Baugenehmigung gem. Art. 68 Abs. 2 BayBO i.V. mit Art. 42a BayVwVfG geworden [im Folgenden b) ]. Der Senat geht zwar - insofern im Einklang mit der Begründung des streitgegenständlichen Bescheids sowie der im Beschluss vom 22. August 2022 vertretenen Rechtsansicht des Verwaltungsgerichts - davon aus, dass sowohl im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids vom 14. Juli 2022 als auch gegenwärtig die tatbestandlichen Voraussetzungen der Befugnisnorm des Art. 75 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 i.V. mit Art. 68 Abs. 6 Nr. 1 BayBO erfüllt sind. Bei dem hier gegebenen Sonderfall, dass die in Art. 68 Abs. 2 Satz 1 BayBO i.V. mit Art. 42a Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG vorgesehene Fiktionswirkung wegen Fristablaufs gem. Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BayBO i.V. mit Art. 42a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BayVwVfG eingetreten ist und deshalb die Antragstellerin als Bauherrin Inhaberin einer fingierten Baugenehmigung geworden ist, ist aber die bauordnungsrechtliche Anordnung der Unterlassung des Beginns der Bauausführung wegen eines Ermessensfehlers nicht von Art. 75 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 BayBO i.V. mit Art. 40 BayVwVfG gedeckt. Da die Antragsgegnerin keine Rücknahme der fingierten Baugenehmigung unter Anordnung des Sofortvollzugs verfügt bzw. konkret in die Wege geleitet hat, ist zu prognostizieren, dass die Anfechtungsklage der Antragstellerin mit dem Ziel der Aufhebung des Bescheids vom 14. Juli 2022 voraussichtlich Erfolg haben wird [unten c) ].
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b) Die Antragsgegnerin ist vorliegend gem. Art. 68 Abs. 2 BayBO i.V. mit Art. 42a Abs. 1 BayVwVfG Inhaberin einer fingierten Baugenehmigung geworden.
33
Da der Bauantrag der Antragstellerin auf die Errichtung eines Gebäudes (Art. 2 Abs. 2 BayBO), das ausschließlich bzw. überwiegend dem Wohnen dient, gerichtet ist und zudem über den Bauantrag des gem. Art. 55 Abs. 1 BayBO genehmigungspflichtigen Vorhabens im vereinfachten Genehmigungsverfahren (Art. 59 BayBO) zu entscheiden ist und schließlich kein Verzicht der Antragstellerin gem. Art. 68 Abs. 2 Satz 3 BayBO im Raume steht, ist vorliegend der Anwendungsbereich des Art. 68 Abs. 2 BayBO eröffnet.
34
Nach Art. 83 Abs. 7 BayBO gilt für ab dem 1. Mai 2021 eingereichte Bauanträge gemäß Art. 68 Abs. 2 BayBO i.V. mit Art. 42a Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG im Falle des Ablaufs der in Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BayBO i.V. mit Art. 42a Abs. 2 BayVwVfG näher reglementierten Fiktionsfrist eine beantragte Baugenehmigung als erteilt (Genehmigungsfiktion). Mit der Einführung einer Baugenehmigungsfiktion hat der Gesetzgeber in Kauf genommen, dass trotz der Bindung der Bauaufsichtsbehörde als vollziehende Gewalt an das Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise selbst materiell rechtswidrige Baugenehmigungen als erteilt gelten (OVG Berlin-Bbg, B.v. 4.7.2017 - OVG 10 S 37.16 - NVwZ-RR 2018, 96 = juris Rn. 6 m.w.N.). Die Baugenehmigungsbehörde kann den Eintritt der Fiktionswirkung dadurch verhindern, dass sie vor Ablauf der Frist dem antragstellenden Bauherrn eine Entscheidung - sei es eine klassische Baugenehmigung, sei es einen Ablehnungsbescheid - gem. Art. 41, Art. 43 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG wirksam bekannt gibt (vgl. OVG Berlin-Bbg, B.v. 4.7.2017 a.a.O. Rn. 8; Molodovsky/Waldmann in Molodovsky/Famers/ Waldmann, BayBO, Stand Mai 2022, Art. 68 Rn. 213; Laser in Schwarzer/König, BayBO 5. Aufl. 2022, Art. 68 Rn. 53 m.w.N.; Baer in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand April 2022, § 42a VwVfG Rn. 47 m.w.N.). Läuft die Fiktionsfrist hingegen ab, ohne dass über den Bauantrag von der Baugenehmigungsbehörde entschieden wurde, gilt die Baugenehmigung kraft Gesetzes als erteilt. Die Genehmigungsfiktion beruht auf dem Ablauf der Bearbeitungsfrist und ist nicht von der Bescheinigung ihres Eintritts (vgl. Art. 42a Abs. 3 BayVwVfG i.V. mit Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BayBO) abhängig. Die fingierte Genehmigung steht hinsichtlich ihrer Regelungswirkungen mit Ausnahme der in Art. 68 Abs. 3 und Abs. 4 BayBO normierten (systemgerechten) Ausnahmen (Art. 68 Abs. 2 Satz 3 BayBO) einer ausdrücklich erteilten Baugenehmigung in jeder Hinsicht gleich (LT-Drs. 18/8547 S. 22; SächsOVG, U.v. 18.1.2006 - 1 B 444/05 - BauR 2006, 1108 = juris Rn. 36; HambOVG, B.v. 2.9.2010 - 2 Bs 144/10 - NordÖR 2011, 84 = juris Rn. 3; Grothmann/Ansorge/Kranz, ZfIR 2021, 405/406, 415; Thies, jurisPR-UmwR 2/2021 Anm. 1; Knauff, VerwArch 2018, 480/488). Sie stellt einen Verwaltungsakt kraft gesetzlicher Fiktion dar, der den Inhalt einer Baugenehmigung auf der Grundlage des eingereichten Bauantrags mit den hierzu konkretisierten Bauvorlagen / Plänen hat, und stellt damit die Übereinstimmung des Bauvorhabens mit den in Art. 59 Satz 1 BayBO genannten Anforderungen fest (Legalisierungs- bzw. Feststellungswirkung - allg. hierzu vgl. BayVGH, U.v. 8.7.2022 - 15 B 22.772 - juris Rn. 47 m.w.N.; Laser a.a.O. Art. 68 Rn. 11). Aufgrund der Gleichstellung mit einer ausdrücklich erteilten Baugenehmigung finden auf die fingierte Baugenehmigung z.B. auch die Vorschriften über die Aufhebung von Verwaltungsakten gem. Art. 48 ff. BayVwVfG unmittelbar Anwendung, was Art. 42a Abs. 1 Satz 2 BayVwVfG bestätigt (zum Ganzen vgl. Laser a.a.O. Art. 68 Rn. 51 ff.; Decker in Busse/Kraus, BayBO, Stand Mai 2022, Art. 68 Rn. 423 ff.; Greim-Diroll in Spannowsky/Manssen, BeckOK Bauordnungsrecht Bayern, Stand September 2022, Art. 68 BayBO Rn. 35n ff.; Molodovsky/Waldmann a.a.O. Art. 68 Rn. 215 ff., 227; Lang, BayVBl 2021, 833 ff.; Grothmann/Ansorge/Kranz, ZfIR 2021, 405 ff.; vgl. auch OVG Saarl., U.v. 9.3.2006 - 2 R 8/05 - NVwZ-RR 2006, 678 = juris Rn. 29 ff.; Hullmann/Zorn, NVwZ 2009, 756 ff.; Adolph in Giehl/Adolph/Käß, Verwaltungsverfahrensrecht in Bayern, Stand Januar 2021, Art. 42a Rn. 22 ff.; speziell zur Rücknahme einer fingierten Baugenehmigung vgl. OVG SH, B.v. 28.7.2020 - 1 MB 11/20 - juris Rn. 18 ff.; OVG Berlin-Bbg, B.v. 4.7.2017 a.a.O. Rn. 8 ff.; SächsOVG, U.v. 18.1.2006 a.a.O. Rn. 36; VG Berlin, U.v. 9.10.2020 - 19 K 215.18 - juris Rn. 36 ff.; Grothmann/Ansorge/Kranz, ZfIR 2021, 405/415 f.).
35
Die gem. Art. 68 Abs. 2 BayBO, Art. 42a Abs. 2 Satz 1 BayVwVfG grundsätzlich dreimonatige Fiktionsfrist hätte vorliegend gem. Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a BayBO an sich drei Wochen nach dem 13. Dezember 2021 (Zeitpunkt des Zugangs des Bauantrags bei der Antragsgegnerin, vgl. die Eingangsbestätigung Bl. 70 der Behördenakte WB-2021-646) zu laufen begonnen. Allerdings hat die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 30. Dezember 2022 gegenüber der Antragstellerin den Bauantrag wegen fehlender Bauvorlagen (u.a. Entwässerungsplanung, Brandschutznachweis) als unvollständig gerügt und die fehlenden Unterlagen / Angaben gem. Art. 65 Abs. 2 Satz 1 BayBO nachgefordert. Die Fiktionsfrist begann mithin tatsächlich erst gem. Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b BayBO drei Wochen nach dem am 17. Januar 2077 erfolgten Eingang der nachgereichten Unterlagen (Bl. 77 der Behördenakte WB-2021-646) und hätte folglich am 9. Mai 2022 (Montag) um 24:00 Uhr geendet (Art. 31 Abs. 1, Abs. 3 BayVwVfG, §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 Alt. 1 BGB). Die Antragsgegnerin hat sodann mit Schreiben an die Antragstellerin vom 7. April 2022 (Bl. 93 der Behördenakte WB-2021-646) gestützt auf Art. 42a Abs. 2 Satz 3 BayVwVfG die Frist bis zum Ablauf des 20. Juni 2022 verlängert. Unabhängig von der Frage der Rechtmäßigkeit der Fristverlängerung, die im Beschwerdeverfahren von keiner Seite infrage gestellt wird, wurde damit das Ablaufdatum der Fiktionsfrist vorliegend jedenfalls spätestens auf den 20. Juni 2022 (24:00 Uhr) festgesetzt. Für die behördliche Abwehr des Fristablaufs bzw. den Eintritt der Fiktionswirkung ist daher entscheidend, ob der Ablehnungsbescheid vom 20. Juni 2022 - bevor er erst am 21. Juni 2022 über die Post förmlich zugestellt wurde - noch am 20. Juni 2022 dem damaligen Bevollmächtigten der Antragsgegnerin (Art. 41 Abs. 1 Satz 2 BayVwVfG) rechtzeitig vor Ablauf der Frist auf elektronischen Weg gem. Art. 3a Abs. 1 i.V. mit Art. 41 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 BayVwVfG bekanntgemacht worden ist und damit der Antragstellerin gegenüber wirksam wurde (Art. 43 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG). Dies ist zu verneinen.
36
Da gem. Art. 68 Abs. 3 Satz 1 BayBO nur für die Baugenehmigung, nicht aber für deren Ablehnung die Schriftform gesetzlich angeordnet ist (vgl. Molodovsky in Molodovsky/Famers/Waldmann, BayBO, Stand Mai 2022, Art. 54 Rn. 96 i.V. mit Molodovsky/Waldmann in ebenda, Art. 68 Rn. 119), dürfte die für die Ersetzung der Schriftform in Art. 3a Abs. 2 BayBO zwingend vorgesehene elektronische Bekanntmachungsform mit einer qualifizierten elektronischen Signatur vorliegend entbehrlich sein. Zudem können die tatsächlich und rechtlich schwierigen Fragen,
37
- ob für die gewählte elektronische Übermittlung des Bescheids in pdf-Datei-Format unter Nutzung des „Elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfachs“ (EGVP) in Form der Übermittlung des Bescheids von einem besonderen elektronischen Behördenpostfach auf ein besonderes elektronisches Anwaltspostfach nach der Verkehrsanschauung eine ausreichende (konkludente) Zugangseröffnung i.S. von Art. 3a BayVwVfG, also eine Bereitschaft des Empfängers zur (auch außergerichtlichen) Kommunikation mit der Behörde anzunehmen ist (allg. vgl. BT-Drs. 14/9000 S. 30 f.; BVerwG, U.v. 7.12.2016 - 6 C 12.15 - NVwZ 2017, 967 = juris Rn. 19; OVG NW, B.v. 13.11.2014 - 2 B 1111/14 - NVwZ-RR 2015, 172 = juris Rn. 11 ff.; zu diesbezüglichen Einzelfragen vgl. Käß in Giehl/Adolph/Käß, Verwaltungsverfahrensrecht in Bayern, Stand Januar 2021, Art. 3a Rn. 55 ff.; Tegethoff in Kopp/Ramsauer, 23. Aufl. 2022, § 3a Rn. 7 ff.; Schiller in Obermayer/Funke-Kaiser, VwVfG, 6. Aufl. 2021, § 3a Rn. 7 ff.; Stelkens in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 41 Rn. 87 ff.; Baer in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand April 2022, § 41 VwVfG Rn. 33),
38
- ob die Bevollmächtigung eines Rechtsanwalts auch die Entscheidung über Zugangseröffnung i.S. von Art. 3a BayVwVfG umfasst (bejahend Baer a.a.O § 41 VwVfG Rn. 33; verneinend Stelkens a.a.O. § 41 Rn. 91),
39
- ob die elektronische Übermittlung am 20. Juni 2022 mit einem gem. Art. 41 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG erforderlichen Bekanntgabewillen erfolgte, obwohl im Übermittlungstext von einer Übersendung „vorab“ die Rede ist und im Übrigen auf das noch im Postweg zuzugehende Original verwiesen wird (vgl. BFH, U.v. 4.10.1989 - V R 39/84 - juris Rn. 21 ff.; B.v. 18.3.2015 - I B 47/14 - juris Rn. 4; OVG MV, U.v. 24.3.2015 - 1 L 313/11 - NordÖR 252 = juris Rn. 58; Tegethoff a.a.O. § 41 Rn. 41; Baer a.a.O. § 41 Rn. 58; Stelkens a.a.O. § 41 Rn. 87) sowie
40
- ob der elektronische Zugang daran scheitert, dass sich die am 20. Juni 2022 elektronisch mitversandte pdf-Datei mit der Kopie des unterschriebenen Bescheids (aus welchen Gründen auch immer) vom vormaligen Bevollmächtigten der Antragstellerin als Empfänger technisch nicht öffnen ließ (hierzu unter divergierenden Blickwinkeln und Sachverhaltsvarianten vgl. Couzinet/Fröhlich in Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, 2. Aufl. 2019, § 41 Rn. 79, 97 ff.; Tegethoff a.a.O. § 3a Rn. 13a, § 41 Rn. 41, 41a; Stelkens a.a.O. § 41 Rn. 93; Dietlein/Heinemann, NWVBl 2005, 53/55 f.; vgl. auch BGH, B.v. 8.3.2022 - VI ZB 25/20 - DVBl. 2022, 899 f.; U.v. 22.3.2021 - AnwZ (Brfg) 2/20 - NJW 2021, 2206 ff.; OLG Rostock, B.v. 2.12.2020 - 4 U 70/20 - juris),
41
hier offenbleiben. Denn selbst wenn von einem ordnungsgemäßen Zugang der pdf-Datei mit der Kopie des unterschriebenen Ablehnungsbescheids noch am 20. Juni 2022 durch elektronische Übermittlung auszugehen sein sollte, scheitert eine Bekanntgabe an diesem Tag an der gesetzlichen Bestimmung in Art. 41 Abs. 2 Satz 2 BayVwVfG, wonach ein Verwaltungsakt, der im Inland oder in das Ausland elektronisch übermittelt wird, erst am dritten Tag nach der Absendung als bekanntgegeben gilt (zur Berechnung der Drei-Tages-Fiktion vgl. Tegethoff a.a.O. § 41 Rn. 39b; Baer a.a.O. § 41 Rn. 87; Couzinet/Fröhlich a.a.O. § 41 Rn. 89 f.; Stuhlfauth in Obermayer/Funke-Kaiser, VwVfG, 6. Aufl. 2021, § 41 Rn. 35). Diese Regelung, der es aus Gründen der Rechtssicherheit (Stuhlfauth a.a.O. § 41 Rn. 34) um die Berücksichtigung von Unwägbarkeiten bei der Benutzung elektronischer Medien geht (Adolph in Giehl/Adolph/Käß, Verwaltungsverfahrensrecht in Bayern, Stand Januar 2021, Art. 41 Rn. 53; Couzinet/Fröhlich a.a.O. § 41 Rn. 95), gilt auch für elektronisch übermittelte schriftliche Verwaltungsakte, die keine elektronischen Verwaltungsakte i.e.S. sind (Tegethoff a.a.O. § 41 Rn. 41; Baer a.a.O. § 41 Rn. 83). Art. 41 Abs. 2 Satz 2 BayVwVfG legt im Fall elektronischer Übermittlung den Bekanntgabezeitpunkt für den Verwaltungsakt unabhängig vom tatsächlichen Zugangszeitpunkt auf den dritten Tag nach Absendung fest. Unabhängig, ob man von einer dogmatischen Einordnung als gesetzliche Fiktion oder unwiderlegliche Vermutung ausgeht, ist der dritte Tag als Zeitpunkt der Bekanntmachung auch dann grundsätzlich maßgeblich, wenn die Sendung dem Adressaten tatsächlich bereits früher zugegangen ist. Nach Art. 41 Abs. 2 Satz 3 BayVwVfG gilt nur dann etwas Anderes, wenn nachgewiesen wird, dass der Verwaltungsakt gar nicht oder s p ä t e r zugegangen ist. Ein eventuell früherer Zugang ist dagegen nach dem Gesetzeswortlaut unerheblich, wobei in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung über den Wortlaut des Art. 41 Abs. 2 Satz 3 BayVwVfG anerkannt ist, dass sich der Adressat des Verwaltungsakts zu seinen Gunsten auf einen nachgewiesenen früheren Zugang berufen kann (Baer a.a.O. § 41 Rn. 86), um etwa von einer elektronisch früher zugegangenen Genehmigung Gebrauch machen zu können. Sofern ein früherer Eintritt der Wirksamkeit eines Verwaltungsakts für den Adressaten nachteilig wäre, gilt hingegen bei elektronischer Bekanntgabe die gem. Art. 41 Abs. 2 Satz 2 BayVwVfG vorgesehene Drei-Tages-Frist strikt, d.h. der versendenden Behörde - hier der Antragsgegnerin - steht nicht die Möglichkeit eines Gegenbeweises für einen früheren Zugang zu (zum Ganzen: Adolph a.a.O. Art. 41 Rn. 52 ff.; Stelkens a.a.O. § 41 Rn. 121 ff.; Tiedemann in Bader/Ronellenfitsch, BeckOK VwVfG, Stand Juli 2022, § 41 Rn. 79 f.; Stuhlfauth a.a.O. § 41 Rn. 31 ff.; Ruffert in Knack/Henneke, VwVfG, 11. Aufl. 2020, § 41 Rn. 34, 46; Couzinet/Fröhlich a.a.O. § 41 Rn. 78; Baer a.a.O. § 41 Rn. 86; Tegethoff a.a.O. § 3a Rn. 13, § 41 Rn. 39 ff.; für die vergleichbare Rechtslage im Fall einer Bekanntgabe durch Versendung eines einfachen Briefs vgl. NdsOVG, U.v. 23.6.2009 - 12 LC 136/07 - NVwZ-RR 2009, 866 = juris Rn. 31). Deshalb tritt eine Genehmigungsfiktion gem. Art. 42a BayVwVfG auch dann ein, wenn der Ablehnungsbescheid zwar tatsächlich innerhalb der Entscheidungsfrist kraft elektronischer Übermittlung zugeht, aber so spät abgesandt wurde, dass der Bekanntgabezeitpunkt gemäß Art. 41 Abs. 2 Satz 2 BayVwVfG nach Fristende liegt (Baer a.a.O. § 41 Rn. 86, § 42a Rn. 47). Soweit mithin eine ordnungsgemäße Versendung (vgl. Baer a.a.O. § 41 Rn. 84) noch am 20. Juni 2022 und zudem ein ordnungsgemäßer Zugang der Datei im elektronischen Postfach des damaligen Bevollmächtigten der Antragstellerin vorliegen sollte, gälte der Ablehnungsbescheid vom 20. Juni 2022 in Anwendung von Art. 41 Abs. 2 Satz 3 BayVwVfG erst am 23. Juni 2022 als bekannt gegeben, was angesichts der unstreitigen postalischen Zustellung am 21. Juni 2022 im Ergebnis ins Leere läuft. Mangels rechtzeitiger Bekanntgabe des Ablehnungsbescheids noch am 20. Juni 2022 ist folglich die Fiktionsfrist eingetreten und die Antragstellerin wurde damit Inhaberin einer fingierten Baugenehmigung mit dem Inhalt ihres eingereichten Bauantrags. Eine frühere Bekanntmachung über eine elektronische förmliche Zustellung gem. Art. 41 Abs. 5 BayVwVfG i.V. mit Art. 5 Abs. 5, Abs. 5 VwZVG (vgl. Baer a.a.O. § 41 Rn. 83) kommt vorliegend unabhängig vom Vorliegen der sonstigen formalen Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 5 VwZVG schon deshalb nicht in Betracht, weil im Übermittlungstext bei der elektronischen Versendung am 20. Juni 2022 nicht der gesetzlich geforderte Einleitungshinweis „Zustellung gegen Empfangsbekenntnis“ enthalten war (vgl. Smollich in Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, 2. Aufl. 2019, § 5 Rn. 12).
42
c) Weil damit dem im Verwaltungsverfahren bevollmächtigten Anwalt der Antragstellerin der Ablehnungsbescheid vom 20. Juni 2022 nicht mehr rechtzeitig vor dem spätestens am 20. Juni 2022, 24.00 Uhr, erfolgten Ablauf der Fiktionsfrist bekannt gegeben wurde und weil deshalb die Fiktionswirkung zugunsten der Antragstellerin eingetreten ist, ist die mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 14. Juli 2022 verfügte präventive Baueinstellung aufgrund eines Ermessensfehlers am Maßstab von Art. 75 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 BayBO i.V. mit Art. 40 BayVwVfG rechtswidrig und verletzt daher Rechte der Antragstellerin (§ 113 Abs. 1 Satz 1, § 114 Satz 1 VwGO). Denn die Antragstellerin hat mit der Erlangung der Inhaberschaft der fingierten Baugenehmigung einen von der materiellen Genehmigungsfähigkeit ihres Bauvorhabens unabhängigen Anspruch auf unverzügliche Ausstellung der Fiktionseintrittsbescheinigung gem. Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BayBO i.V. mit Art. 42a Abs. 3 BayVwVfG, sodass die Antragsgegnerin - weil sie nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, die fingierte Baugenehmigung unter Anordnung des Sofortvollzugs zurückzunehmen (Art. 48 BayVwVfG; § 80 Abs. 2 Nr. 4, Abs. 3 VwGO) oder eine solche Rücknahme zumindest konkret in die Wege zu leiten - ihrerseits verpflichtet ist, die Bescheinigung auszustellen und deshalb daran mitzuwirken, dass mit Blick auf Art. 68 Abs. 6 Nr. 1 BayBO die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Baubeginn eintreten.
43
aa) Auch wenn, wovon die Begründung des Ablehnungsbescheids vom 20. Juni 2022 ausgeht, das streitgegenständliche Vorhaben der Antragstellerin am bauplanungsrechtlichen Maßstab des § 34 BauGB materiell rechtswidrig und deswegen nicht genehmigungsfähig sein sollte - was im Rahmen der vorliegenden Beschwerdeentscheidung allein nach Aktenlage nicht abschließend beurteilt werden kann und auch nicht muss -, hat dies auf die Wirksamkeit der eingetretenen Genehmigungsfiktion keine Auswirkungen. Dasselbe gilt für die gem. Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BayBO i.V. mit Art. 42a Abs. 3 BayVwVfG automatisch mit dem Eintritt der Genehmigungsfiktion entstehende Verpflichtung der Behörde, dem Bauherrn / Bauantragsteller „unverlangt und unverzüglich“ eine Fiktionseintrittsbescheinigung auszustellen (Lang, BayVBl 2021, 833/836; Kluth JuS 2011, 1078/1080 f.; Stelkens in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 42a Rn. 93). Schon weil im Ablehnungsbescheid vom 20. Juni 2022 kein Aufhebungsermessen ausgeübt wurde, kann dieser nicht als Rücknahmebescheid gem. Art. 48 BayVwVfG ausgelegt bzw. in einen solchen gem. Art. 47 Abs. 1 BayVwVfG umgedeutet werden (OVG SH, B.v. 28.7.2020 - 1 MB 11/20 - juris Rn. 18; OVG Berlin-Bbg, B.v. 4.7.2017 - OVG 10 S 37.16 - NVwZ-RR 2018, 96 = juris Rn. 9; HambOVG, B. v. 18.11.2010 - 3 Bs 206/10 - GewArch 2011, 120 = juris Rn. 45; Laser in Schwarzer/König, BayBO, 5. Auf. 2022, Art. 68 Rn. 53; Lang BayVBl. 2021, 833/838; Decker in Busse/Kraus, BayBO, Stand Mai 2022, Art. 68 Rn. 422; Hullmann/Zorn, NVwZ 2009, 756/760); Kluth JuS 2011, 1078/1081; Knauff, VerwArch 2018, 480/498 f.; Ramsauer in Kopp/Ramsauer, VwVfG, 23. Aufl. 2022, § 42a Rn. 14). Der mit der Postzustellung am 21. Juni 2022 und damit spät bekannt gemachte Ablehnungsbescheid geht daher ins Leere, d.h. ihm kommt kraft Gesetzes keinerlei Regelungswirkung zu, weil kraft Gesetzes der eingetretenen Genehmigungsfiktion Vorrang gebührt (OVG SH, B.v. 28.7.2020 a.a.O.; Ramsauer a.a.O.; Lang, BayVBl 2021, 833/838).
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bb) Allerdings sind trotz des gesetzlichen Eintritts der Genehmigungsfiktion die tatbestandlichen Eingriffsvoraussetzungen des Art. 75 Abs. 1 Satz 1 BayBO zu bejahen. Diese lassen sich zwar aufgrund der Legalisierungs- und Feststellungswirkung der fingierten Baugenehmigung nicht mit einer materiellen Rechtswidrigkeit des Vorhabens der Antragstellerin begründen (Lang, BayVBl. 2021, 833/838). Es verbleibt aber ein formaler Verstoß gegen Art. 68 Abs. 6 Nr. 1 BayBO. Nach dieser Regelung darf neben anderen formalen Voraussetzungen auch im Fall der gesetzlich ausgelösten Genehmigungsfiktion mit der Bauausführung erst begonnen werden, wenn dem Bauherrn die Baugenehmigung oder die Fiktionseintrittsbescheinigung (Art. 42a Abs. 3 BayVwVfG) zugegangen ist. Art. 75 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BayBO bestätigt ausdrücklich, dass auch in diesem Fall der Bauaufsichtsbehörde die Eingriffsbefugnisse des Art. 75 Abs. 1 Satz 1 BayBO tatbestandlich eröffnet sind. Im vorliegenden Fall lagen und liegen deshalb weiterhin aufgrund der Ankündigung des Beginns der Bauausführung durch die Antragstellerin konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass die Antragstellerin auch ohne Erhalt der Fiktionseintrittsbescheinigung und damit unter Verstoß gegen Art. 68 Abs. 6 Nr. 1 BayBO mit der Bauausführung beginnen will.
45
Unabhängig von der Streitfrage, ob die Fiktionsbescheinigung als feststellender Verwaltungsakt, mit dem die Rechtslage für den Einzelfall verbindlich festgestellt werden soll, einzuordnen ist (so für das bayerische Bauordnungsrecht Laser a.a.O. Art. 68 Rn. 49; Grothmann/Ansorge/Kranz, ZfIR 2021, 405/414 f.; vgl. auch OVG Saarl., U.v. 12.2.2009 - 2 A 256/08 - juris Rn. 27; OVG LSA, B.v. 28.7.2020 - 2 M 48/20 - NVwZ-RR 2020, 1114 = juris Rn. 11; VG Hamburg, U.v. 15.3.2017 - 6 K 3225/14 - juris Rn. 46, 48; VG Frankfurt a.M., U.v. 4.3.2015 - 8 K 2909/14.F - juris Rn. 37; Adolph in Giehl/Adolph/Käß, Verwaltungsverfahrensrecht in Bayern, Stand Januar 2021, Art. 42a Rn. 59 f.; Schemmer, in Bader/Ronellenfitsch, BeckOK VwVfG, Stand Juli 2022, § 42a Rn. 15; Guckelberger, DÖV 2010, 109/117) oder ob es sich um eine bloße „Wissenserklärung“ ohne eigenständige Regelungswirkung (und damit ohne Verwaltungsaktqualität) handelt, die lediglich nach außen hin zwecks erleichterten Nachweises den Eintritt der mit Fristablauf kraft Gesetzes (automatisch) eingetretenen Genehmigungsfiktion als bereits bestehende Rechtslage bestätigen soll (so: SächsOVG, U.v. 8.11.2018 - 1 A 175/18 - juris Rn. 49 ff.; U.v. 19.11.2020 - 1 A 1279/17 - LKV 2021, 172 = juris Rn. 22 f.; OVG SH, U.v. 6.2.2020 - 1 LB 1/17 - BRS 88 Nr. 98 = juris Rn. 27; VG Berlin, U.v. 1.7.2020 - 19 K 3.18 - juris Rn. 29; VG Hamburg, U.v. 26.7.2019 - 7 K 5423/17 - jurisRn. 31; Decker a.a.O. Rn. 426, 606 ff.; Molodovsky/Waldmann a.a.O. Art. 68 Rn. 131, 223, 228; Greim-Diroll in Spannowsky/ Manssen, BeckOK Bauordnungsrecht Bayern, Stand September 2022, Art. 68 BayBO Rn. 35l; Ramsauer a.a.O. § 42a Rn. 30; Stelkens in Bonk/Sachs/Stelkens, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 42a Rn. 96 f.; Baer in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand April 2022, § 42a VwVfG Rn. 57; Broscheit, DVBl 2014, 342 ff.; speziell im Personenbeförderungsrecht: BVerwG, U.v. 8.11.2018 - 3 C 26/16 - BVerwGE 163, 321 = juris Rn. 10 ff.), genügt wegen der eindeutig formulierten Regelung in Art. 68 Abs. 6 Nr. 1 BayBO nach bayerischer Gesetzeslage die an sich kraft Gesetzes eintretende Gestattungswirkung der fingierten Baugenehmigung für sich allein nicht, dass der Bauherr rechtmäßig mit deren Umsetzung starten darf. Dass die Zulässigkeit des Baubeginns nicht wie im Bauordnungsrecht anderer Bundesländer bereits an den Eintritt der Baugenehmigungsfiktion (vgl. z.B. § 72 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2 BauO Bln, § 73 Abs. 6 Nr. 1 Alt. 2 LBO Saarl.), sondern erst an den Zugang des Fiktionszeugnisses geknüpft ist, stellt eine Besonderheit des bayerischen Landesrechts dar (Lang, BayVBl 2021, 833/837). Mit der Entscheidung, die „Baufreigabe“ im Fall des Eintritts der Genehmigungsfiktion frühestens mit dem Zugang des Fiktionszeugnisses eintreten zu lassen, war es dem bayerischen Gesetzgeber offenbar wichtig, die rechtliche Zulässigkeit des Baubeginns ähnlich wie bei der „echten“ (schriftlich erteilten) Baugenehmigung an das Innehaben einer behördlichen Bescheinigung zu knüpfen, die das Gestattungsrecht, auch wenn es kraft Gesetzes bereits mit Fristablauf entstanden ist, nach außen hin „verbrieft“. Beginnt der Bauherr unter Verstoß gegen Art. 68 Abs. 6 Nr. 1 BayBO - also im Fall einer eingetretenen Genehmigungsfiktion ohne Zugang der Fiktionseintrittsbescheinigung - mit der Bauausführung, begeht er einen Gesetzesverstoß, der nicht nur eine Ordnungswidrigkeit nach Art. 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 BayBO begründet, sondern der zudem - wie Art. 75 Abs. 2 Nr. 1 BayBO ausdrücklich vorsieht - grundsätzlich eine Einstellung von Bauarbeiten nach sich ziehen k a n n. Konsequenz der in Art. 68 Abs. 6 Nr. 1 BayBO vorgesehenen Rechtslage, wonach selbst bei abgelaufener Fiktionsfrist die Baufreigabe nicht vor dem Zugang der Fiktionseintrittsbescheinigung eintreten soll, ist, dass der Bauherr für den Fall, dass er die Voraussetzungen des Eintritts der Genehmigungsfiktion für gegeben hält, die Baugenehmigungsbehörde hingegen die Ausstellung der Bescheinigung (aus welchen Gründen auch immer) verweigert, ein auf Erhalt der Bescheinigung gerichtetes Rechtsmittel einlegen kann, um sich hierüber die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit des Baubeginns gerichtlich zu erstreiten. Einstweiliger Rechtsschutz etwa mit dem Ziel des Erhalts einer vorläufigen Bescheinigung, um vor einer womöglich erfolgreichen und vollstreckbaren Entscheidung in der Hauptsache rechtmäßig mit dem Bau beginnen zu können, wäre über § 123 VwGO zu suchen (im Personenbeförderungsrecht vgl. BayVGH, B.v. 5.9.2022 - 11 CE 22.1606 - juris). Aufgrund der eindeutig mit Art. 75 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 i.V. mit Art. 68 Abs. 6 Nr. 1 BayBO formulierten Rechtslage und des Primats des Gesetzgebers im parlamentarischen Regierungssystem kann keine unbewusste Rechtslücke ausgemacht werden, mit der eine teleologische Reduktion des Art. 75 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 BayBO dahingehend begründet werden könnte, dass von der Befugnisnorm Fallgestaltungen, in denen die Behörde rechtswidrig die Ausstellung der Fiktionseintrittsbescheinigung unterlässt, tatbestandlich (also im Sinne einer ungeschriebenen negativen Tatbestandsvoraussetzung) nicht umfasst seien (so aber Lang in Seidel/Stendel/ Lang, Besonderes Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 2023, S. 184 f.; ders. BayVBl 2021, 833/838).
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cc) Ist - wie hier - die Genehmigungsfiktion wegen Fristablaufs eingetreten, die Fiktionseintrittsbescheinigung aber noch nicht ausgestellt bzw. dem Bauherrn noch nicht zugegangen, ist im Rahmen des gem. Art. 75 Abs. 1, Satz, Satz 2 Nr. 1 i.V. mit Art. 60 Abs. 6 Nr. 1 BayBO, Art. 40 BayVwVfG auszuübenden Eingriffsermessens ein bestehender Anspruch des Bauherrn auf Ausstellung der Bescheinigung zu berücksichtigen. Es bestünde mit Blick auf die Grundentscheidung des Gesetzgebers für die Implementierung einer von der materiellen Genehmigungsfähigkeit gerade unabhängigen und bei Ablauf einer Fiktionsfrist automatisch ausgelösten Baugenehmigungsfiktion mit gesetzlicher bestehender Pflicht der Bauaufsichtsbehörde zur unverlangten und unverzüglichen Ausstellung einer Fiktionseintrittsbescheinigung (Art. 42a Abs. 3 BayVwVfG i.V. mit Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BayBO) und unter Berücksichtigung des mit der Einführung der Genehmigungsfiktion gesetzlich verfolgten Beschleunigungszwecks (vgl. hierzu Grothmann/Ansorge/Kranz, ZfIR 2021, 405 f.; OVG Saarl., U.v. 9.3.2006 - 2 R 8/05 - NVwZ-RR 2006, 678 = juris Rn. 29) ein normativer Wertungswiderspruch, wenn der Behörde uneingeschränkt eine bauordnungsrechtliche Eingriffsbefugnis gegenüber dem Bauherrn gemäß Art. 75 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 i.V. mit Art. 68 Abs. 6 Nr. 1 (Alt. 2) BayBO verbliebe, obwohl sie es selber in der Hand hätte, den rechtswidrigen Zustand durch gesetzesgemäßes Verhalten - nämlich durch das unverzügliche Ausstellen der Fiktionseintrittsbescheinigung - zu beseitigen. Der Behörde (hier: der Antragsgegnerin) darf m.a.W. eine eigene rechtswidrige Verweigerungshaltung nicht dergestalt zugutekommen, dass sie zulasten eines Bürgers bauordnungsrechtlich eingreifen könnte, obwohl bei rechtmäßigem behördlichen Verhalten die Voraussetzungen des Eingriffstatbestands nicht mehr bestünden (insofern zu Recht Lang, BayVBl 2021, 833/838). In diesem Fall liegen aufgrund der gesetzlichen Grundentscheidungen für eine von der materiellen Genehmigungsfähigkeit unabhängigen Fiktionseintritt und für einen ebenso von der materiellen Rechtslage unabhängigen Anspruch auf unverzügliche Ausstellung des Fiktionseintrittszeugnisses besondere Umstände vor, die ein behördliches Eingreifen gestützt auf die sonst geltenden Grundsätze des intendierten Ermessens gem. Art. 40 BayVwVfG nicht zu rechtfertigen vermögen. Für den Fall, dass der Anspruch des Bauherrn auf Erhalt der Fiktionsbescheinigung zu Unrecht nicht erfüllt wird und die Behörde - wie hier die Antragsgegnerin - keine weiteren, auf kurzfristige Aufhebung der Fiktionswirkung gerichteten Maßnahmen konkret in die Wege leitet, ist daher grundsätzlich von einem Ermessensfehler auszugehen. Der schlichte Rekurs der Behörde auf die dem Bauherrn fehlende Bescheinigung zur Rechtfertigung einer auf Art. 75 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 BayBO gestützten (präventiven) Baueinstellung wegen Widerspruchs zu Art. 68 Abs. 6 Nr. 1 BayBO wäre nicht nur als eine dem Beschleunigungszweck zuwiderlaufende „Förmelei“ zu bewerten sein, sondern auch als Verwaltungshandeln einzustufen, das gesetzlich normierten Pflichten der Behörde widerspricht. Es wäre mit dem allgemeinen Rechtsgrundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) nicht zu vereinbaren, ein bauordnungsrechtliches Eingreifen als ermessensgerecht anzusehen, wenn die Behörde über einen auf Art. 75 BayBO (analog) gestützten Bescheid von einem betroffenen Bürger etwas verlangt (hier von der Antragstellerin das Unterlassen des Baubeginns), was sie mit Blick auf den Charakter der bauaufsichtlichen Maßnahme als Dauerverwaltungsakt sowie als gem. Art. 20 Abs. 3 GG zum rechtmäßigen Handeln verpflichteter Hoheitsträger im nächsten Moment sofort wieder revidieren müsste, weil sie wegen Art. 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BayBO i.V. mit Art. 42a Abs. 3 BayVwVfG zur Ausstellung der Fiktionsbescheinigung verpflichtet ist und damit den tatbestandlichen Eingriffsvoraussetzungen des Art. 75 Abs. 1 BayBO wieder den Boden entziehen muss.
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Andererseits liegt es für den Fall, dass die Bauaufsichtsbehörde - wie hier die Antragsgegnerin - das Vorhaben materiell nicht für genehmigungsfähig hält, an ihr, die gestattende Wirkung der Fiktionsgenehmigung durch Rücknahme gem. Art. 48 BayVwVfG wieder aus der Welt zu schaffen. Insofern erscheint es unter bestimmten Voraussetzungen denkbar, dass sich die Bauaufsichtsbehörde ihrerseits auf den - auf den Treu und Glauben beruhenden - allgemeinen Rechtsgrundsatz „dolo agit, qui petit, quod statim redditurus est“ (zu dessen grundsätzlicher Geltung auch im Verwaltungsrecht insbesondere als behördliche Gegeneinrede vgl. BVerwG, U.v. 9.8.2016 - 4 C 5.15 - BVerwGE 156, 1 = juris Rn. 17; VGH BW, U.v. 1.8.2022 - 2 S 3368/21 - juris Rn. 46) berufen kann, wenn das streitgegenständliche Vorhaben tatsächlich am Maßstab von § 34 BauGB materiell rechtswidrig sein sollte und deshalb eine Gegensteuerungsmöglichkeit über eine auf Art. 48 BayVwVfG gestützte Rücknahme der fingierten Baugenehmigung zur Verfügung steht. Insofern sind Konstellationen dankbar, in denen die Einforderung der Fiktionseintrittsbescheinigung durch den Bauherrn trotz Vorliegens der Ausstellungsvoraussetzungen gem. Art. 68 Abs. 2 Nr. 2 BayBO, Art. 42a Abs. 3 BayVwVfG rechtsmissbräuchlich wäre, weil die Bescheinigung für den Fall der von der Antragsgegnerin angekündigten Rücknahme alsbald wieder wegen Art. 52 BayVwVfG zurück zu gewähren wäre (vgl. OVG NW, U.v. 15.5.1990 - 5 A 1692/89 - NVwZ 1990, 1183 = juris Rn. 19; VG Köln, B.v. 18.11.2020 - 21 L 2135/20 - juris Rn. 24 f.; Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs, § VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 52 Rn. 15). Die bloße Ankündigung der Antragsgegnerin, die als erteilt geltende Genehmigung wegen Fehlens einer zwingenden Genehmigungsvoraussetzung gemäß Art. 48 BayVwVfG für den Fall zurücknehmen zu wollen, dass sie - die Antragsgegnerin - rechtskräftig zur Erteilung der Fiktionseintrittsbescheinigung verurteilt werden sollte (vgl. das behördliche Schreiben vom 7. Juli 2022, die Begründung des streitgegenständlichen Bescheids vom 14. Juli 2022 sowie die Schriftsätze vom 18. August 2022 im erstinstanzlichen Eilverfahren sowie vom 23. August 2022 im erstinstanzliches Klageverfahren RO 7 K 22.1940) - genügt hierfür aber nicht (ebenso Molodovsky/Waldmann in Molodovsky/Famers/ Waldmann, BayBO, Stand Mai 2022, Art. 68 Rn. 213; vgl. auch die Erwägungen bei Lang, BayVBl. 2021, 833/836, u.a. unter Rekurs auf HambOVG, B.v. 18.11.2010 - 3 Bs 206/10 - GewArch 2011, 120 = juris Rn. 44 ff.). Denn in diesem Fall bestünde für das gem. § 114 Satz 1 VwGO zur Prüfung der Rechtmäßigkeit der fehlerfreien Ermessensausübung berufene Gericht kein Anhaltspunkt, ob es überhaupt und zu welchem voraussichtlichen Zeitpunkt es zu einer Rechtslage kommt, die es der Antragsgegnerin gestattet, die Ausstellung des Fiktionszeugnisses zu verweigern, um so - dann berechtigterweise - Umstände aufrechtzuerhalten, unter denen der Bauherr (hier die Antragstellerin) von Gesetzes wegen verpflichtet ist, die Bauausführung noch nicht zu beginnen. Allerdings ist speziell für die bayerische Rechtslage zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber mit Art. 68 Abs. 6 Nr. 1 BayBO - gerade weil diese Regelung die Rechtmäßigkeit des Beginns der Bauausführung anders als in anderen Bundesländern nicht an den Eintritt der Fiktionswirkung, sondern erst an die Zustellung der Fiktionseintrittsbescheinigung knüpft - der Bauaufsichtsbehörde offenbar ein zeitliches Handlungsfenster für kurzfristige Korrekturmaßnahmen im Fall einer eingetretenen Genehmigungsfiktion für ein aus ihrer Sicht nicht genehmigungsfähiges Vorhaben eingeräumt hat. Es spricht daher in der Gesamtschau der gesetzlichen Regelungen Vieles dafür, dass der Erlass eines Bauverbots im Sinne einer Ermessensreduzierung auf null zugunsten des Bauherrn (nur) solange ausgeschlossen ist, als nicht die Bauaufsichtsbehörde ihrerseits aktenkundig dokumentiert konkrete Schritte eingeleitet hat, die alsbald in eine Rücknahme der fingierten Baugenehmigung gem. Art. 48 BayVwVfG unter Anordnung des Sofortvollzugs (§ 80 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 3 VwGO) münden sollen.
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dd) Solange die Behörde - wie hier die Antragsgegnerin - von dem ihr eingeräumten Instrument der Rücknahme mit Anordnung des Sofortvollzugs hingegen keinen Gebrauch macht, ist es nach der Zielrichtung und der Gesetzessystematik - hier gem. Art. 68 Abs. 2 BayBO i.V. mit Art. 42a BayVwVfG - konsequent, dem Bauherrn den Anspruch auf die Fiktionseintrittsbescheinigung uneingeschränkt zu belassen. In diesem Fall bleibt eine auf Art, 75 Abs. 1 BayBO gestütztes bauordnungsrechtliches Eingreifen zur Verhinderung der Bauausführung bzw. dessen Beginns ermessensfehlerhaft. Erweist sich mithin die Anfechtungsklage gegen den streitgegenständlichen Bescheid vom 14. Juli 2022 wegen des dargestellten Ermessensfehlers als voraussichtlich erfolgreich, ist als Ergebnis der nach § 80 Abs. 5 VwGO gerichtlich vorzunehmenden Interessenabwägung unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 22. August 2022 die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen.
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3. Der Antragsgegnerin trägt die Kosten sowohl des erstinstanzlichen Verfahrens als auch des Beschwerdeverfahrens, weil sie unterlegen ist (§ 154 Abs. 1 VwGO). Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47, § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 52 Abs. 1 GKG. Sie orientiert sich an Nr. 9.4 und Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (abgedruckt in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, Anhang) und folgt der Streitwertfestsetzung der erstinstanzlichen Entscheidung, gegen die im Beschwerdeverfahren keine Einwände erhoben worden sind.
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4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).