Inhalt

VGH München, Beschluss v. 24.10.2022 – 12 CE 22.1977
Titel:

Vorläufige Bewilligung von Eingliederungsmaßnahmen 

Normenketten:
VwGO § 123
SGB VIII § 35a
GG Art. 19 Abs. 4
Leitsätze:
1. Die Gewährung einer Jugendhilfemaßnahme im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes kann nur dann erfolgen, wenn es sich bei dieser Maßnahme um die einzig erforderliche und geeignete handelt. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ist die vom Jugendamt präferierte vollstationäre Betreuung des Antragstellers aktuell nicht konkret verfügbar oder aufgrund fehlender Mitwirkung der Sorgeberechtigten jedenfalls derzeit nicht erreichbar, sind die von ihm beantragten Hilfen dann als die aktuell einzig möglichen anzusehen, mit der Folge, dass sie gegebenenfalls im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes einstweilen zu bewilligen sind. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Geeignetheit verschiedener Eingliederungshilfemaßnahmen, Vorläufiger Rechtsschutz, Eingliederungshilfe, Maßnahmen, Alltagsassistenz, Nachmittagsbetreuung, vollstationäre Betreuung, Geeignetheit, Jugendamt, Gewährung, vorläufiger Rechtsschutz
Vorinstanz:
VG Würzburg, Beschluss vom 12.08.2022 – W 3 E 22.1238
Fundstelle:
BeckRS 2022, 31548

Tenor

I. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 12. August 2022 (Az.: W 3 E 22.1238) wird aufgehoben und das Verfahren wird an das Verwaltungsgericht zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.
II. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

I.
1
Der am ... 2008 geborene Antragsteller verfolgt mit seiner Beschwerde die Verpflichtung des Antragsgegners weiter, ihm vorläufig bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache verschiedene Eingliederungshilfemaßnahmen (Alltagsassistenz, Nachmittagsbetreuung in einer heilpädagogischen Tagesstätte von Montag bis Donnerstag, Reittherapie, Mobilitätskosten) zu bewilligen. Das Verwaltungsgericht hat den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom 12. August 2022 abgelehnt und dabei sowohl das Vorliegen eines Anordnungsgrunds wie eines Anordnungsanspruchs verneint. Hiergegen richtet sich die mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 31. August 2022 eingelegte und mit weiterem Schriftsatz vom 19. September 2022 begründete Beschwerde. Demgegenüber verteidigt der Antragsgegner den angefochtenen Beschluss. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die dem Senat vorliegenden Gerichts- und Behördenakten verwiesen.
II.
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1. Die zulässige Beschwerde hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Der Senat macht insoweit von seinem ihm eingeräumten Ermessen Gebrauch, auch im Rahmen der Gewähr vorläufigen Rechtsschutzes den angefochtenen Beschluss aufzuheben und das Verfahren zur erneuten Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen, wenn dieses - wie im vorliegenden Fall - keine Entscheidung in der Sache getroffen hat (vgl. Kuhlmann in Wysk, VwGO, 3. Aufl. 2020, § 150 Rn. 4 m.w.N.). Der dem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes innewohnende Beschleunigungsgrundsatz steht der Zurückverweisung vorliegend nicht entgegen, da angesichts der Aktenkenntnis der zuständigen Kammer eine kurzfristige Entscheidung über das Rechtsschutzbegehren des Antragstellers möglich ist, sofern nicht der Antragsgegner selbst unmittelbar Abhilfe schafft.
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2. Der angefochtene Beschluss erweist sich bereits insoweit als fehlerhaft, als er den Antrag des Antragstellers nicht in einer die Garantie effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG berücksichtigenden Art und Weise nach § 88 VwGO ausgelegt hat (zur Auslegung bei nicht anwaltlich vertretenen Antragstellern vgl. etwa Peters/Kujath in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 88 Rn. 25 ff.). Mit Schriftsatz vom 1. August 2022 haben die nicht durch einen Prozessbevollmächtigten vertretenen gesetzlichen Vormünder des Antragstellers im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO beantragt, den Antragsgegner zu verpflichten,
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„dem Antrag der Vormünder des Klägers vom 30.05.2022 (vgl. Anlage AS 17) auf Gewährung von Eingliederungshilfe stattzugeben und dem Kläger bis auf Weiteres folgende Einzelmaßnahmen zu finanzieren:
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a) Alltagsassistenz im Umfang von 30 Wochenstunden über den freien Träger Lebenshilfe M.-Sp. e.V. (die Assistenz übernimmt auch die erforderliche Schulbegleitung).
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b) Anschlussbetreuung (im Anschluss an die Schule) in der Heilpädagogischen Tagesstätte (HPT) der Kr. G., Montag bis Donnerstag bis 14:30 Uhr (Freitag ist die HPT geschlossen).
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c) Kosten der Beförderung, soweit diese nicht vom Schulträger übernommen wird.
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d) Kostenübernahme für pädagogische Betreuungseinheiten (Reiten 2 Std./Woche).“
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Soweit das Verwaltungsgericht hieraus schlussfolgert, „dass nicht die Gewährung der genannten Hilfen selbst, sondern lediglich deren Finanzierung begehrt“ werde und in der Folge hieraus das Fehlen eines glaubhaft gemachten Anordnungsgrunds ableitet, da „unabhängig von allen anderen Gesichtspunkten schon dann, wenn der Antragsteller bzw. dessen Sorgeberechtigte diese Finanzierung vollständig selbst übernehmen können bzw. nicht glaubhaft gemacht worden ist, dass ihnen dies nicht möglich ist“, es an der Eilbedürftigkeit mangelt, geht dies fehl. Den im erstinstanzlichen Eilverfahren nicht anwaltlich vertretenen Vormündern des Antragstellers eine bewusste Differenzierung zwischen einem Anspruch auf Gewähr einer Jugendhilfemaßnahme und einem Anspruch lediglich auf deren „Finanzierung“ zu unterstellen, läuft dem Grundsatz der Gewähr effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG, der insbesondere bei der Auslegung von Anträgen nach § 88 VwGO zu beachten ist, zuwider. Zu Recht macht daher der jetzige Bevollmächtigte des Antragstellers geltend, dass die Anträge im vorläufigen Rechtsschutzverfahren, zumal, wenn sie von juristischen Laien stammen, nach der Interessenlage des Antragstellers und im Sinne größtmöglicher Effektivität auszulegen sind.
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Das Verwaltungsgericht wird daher bei einer nochmaligen Prüfung der Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrunds zu berücksichtigen haben, dass der Antragsteller die Verpflichtung des Antragsgegners beansprucht, ihm im Rahmen der Eingliederungshilfe verschiedene Einzelmaßnahmen „zu gewähren, zur Verfügung zu stellen und zu finanzieren“, soweit der Antragsgegner nicht unmittelbar selbst Abhilfe schafft. Im Übrigen ergeben sich aus den dem Senat vorliegenden Akten keine Anhaltspunkte dafür, dass eine kurzfristige anderweitige Finanzierung der beantragten Eingliederungshilfemaßnahmen - durch den Antragsteller selbst oder durch ihm Unterhaltsverpflichtete - bis zum Ergehen einer Hauptsacheentscheidung möglich wäre.
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3. Auch soweit das Verwaltungsgericht hinsichtlich der verschiedenen beantragten Einzelmaßnahmen die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs verneint, geht es zu Unrecht von der fehlenden „Entscheidungsreife“ aus und trifft daher im Ergebnis keine Sachentscheidung.
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3.1 Dies gilt zunächst für den Antrag auf Bewilligung von „Alltagsassistenz“ bzw. Schulbegleitung, soweit das Verwaltungsgericht hier bemängelt, es fehle dem Jugendamt an den notwendigen Informationen, wie viele Unterrichtsstunden pro Woche der Antragsteller am Unterricht in der Schule teilnehmen würde. Ohne diese Information könne der Antragsgegner nicht einmal ansatzweise erkennen, in welchem Umfang eine Beschulung im Schulgebäude stattfinden werde. Sei ihm dies nicht bekannt, könne er keinen hinreichend bestimmten Bescheid erlassen und zudem nicht einschätzen, für welchen Zeitraum tatsächlich ein Schulbegleiter benötigt werde.
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Indes ergibt sich der Umfang der beantragten Alltagsassistenz, nämlich 30 Stunden wöchentlich, bereits aus dem Antrag des Antragstellers vom 30. Mai 2022. Darüber hinaus hat der Antragsteller zum Umfang der beanspruchten Hilfe sowohl im erstinstanzlichen Verfahren wie auch im Beschwerdeverfahren nähere Angaben gemacht. Insoweit erschließt sich nicht, weshalb der Antragsteller bzw. seine Vormünder bei der Feststellung des Hilfebedarfs nicht hinreichend mitgewirkt haben sollen, sodass kein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht sei.
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Das Verwaltungsgericht wird im Rahmen der erneut erforderlichen Sachentscheidung weiter zu berücksichtigen haben, dass der Antragsgegner „gewillt ist, die Schulbegleitung im erforderlichen Umfang zu gewähren“, soweit der Antragsgegner nicht unmittelbar selbst Abhilfe schafft.
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3.2 Auch soweit das Verwaltungsgericht den Antrag auf Betreuung nach Unterrichtsende in einer Heilpädagogischen Tagesstätte im Hinblick auf die Ungeeignetheit dieser Maßnahme angesichts der „Sonderrolle“ des Antragstellers als „Gast“, dem kein regulärer Platz zur Verfügung steht, abgelehnt hat, ist aus Sicht des Senats der zugrundeliegende Sachverhalt nicht hinreichend erfasst worden. So ist insbesondere nicht nachvollziehbar, wie sich aus einer Sondervereinbarung zur Finanzierung eine Sonderform der Betreuung und damit letztlich eine „Außenseiterrolle“ des Antragstellers ableiten lässt. Das Verwaltungsgericht wird insoweit bei seiner erneuten Entscheidung zu berücksichtigen haben, inwieweit angesichts des vorliegenden Konzepts der Betreuung des Antragstellers in der Heilpädagogischen Tagesstätte tatsächlich eine „Außenseiterrolle“ vorliegt, die die Maßnahme als für den Antragsteller ungeeignet erscheinen lässt, soweit der Antragsgegner nicht unmittelbar selbst Abhilfe schafft.
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3.3 Schließlich wird auch eine erneute Sachentscheidung hinsichtlich des beanspruchten therapeutischen Reitens unter Berücksichtigung der vorhandenen Informationen erforderlich sein. Hierbei gibt der Senat allerdings zu bedenken, dass die Eilbedürftigkeit dieser nicht im Zentrum des jugendhilferechtlichen Bedarfs des Antragstellers stehenden Maßnahme und die damit einhergehende vorläufige Bewilligung bis zum Ergehen einer Hauptsacheentscheidung durchaus zweifelhaft erscheint.
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3.4 Zweifelhaft erscheint im Übrigen angesichts der Schwerbehinderung des Antragstellers und der Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises mit den Merkzeichen B (Begleitperson) und H (Hilflosigkeit) sowie der allgemeinen Regelungen zur Schülerbeförderung die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs im Hinblick auf die einstweilige Übernahme von Beförderungskosten. Da Maßnahmen zur Herstellung der Mobilität des Antragstellers hier jedoch an die übrigen beanspruchten Jugendhilfemaßnahmen anknüpfen, wird das Verwaltungsgericht auch hierüber, insbesondere unter Berücksichtigung des Umstands, ob und zu welchen Zeiten die jeweiligen vom Antragsteller besuchten Einrichtungen mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen sind, erneut zu entscheiden haben, soweit der Antragsgegner nicht selbst unmittelbar Abhilfe schafft.
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3.5 Schließlich lässt sich das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht unter Hinweis auf die vom Antragsgegner präferierte vollstationäre Unterbringung des Antragstellers ablehnen. Zwar trifft es insoweit zu, dass die Gewährung einer Jugendhilfemaßnahme im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes nur dann erfolgen kann, wenn es sich bei dieser Maßnahme um die einzig erforderliche und geeignete handelt (vgl. hierzu etwa BayVGH, B.v. 21.2.2013 - 12 CE 12.2136 - BeckRS 2013, 47782 Rn. 30).
19
Allerdings ist zu berücksichtigen, dass es ausgehend von der vom Verwaltungsgericht zutreffend in Bezug genommenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U.v. 18.10.2012 - 5 C 21.11 - BVerwGE 145, 1 = BeckRS 2013, 45836) der Verweis auf eine vom Jugendamt für geeignet erachtete Jugendhilfemaßnahme es nicht ausschließ, dem Antragsteller andere, seinen Bedarf möglicherweise nur teilweise deckende Maßnahmen zu bewilligen. Im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens ist daher im vorliegenden Fall zu berücksichtigen, dass - angesichts des unstreitigen Hilfebedarfs des Antragstellers - ihm grundsätzlich geeignete Hilfen nicht unter Hinweis auf eine mutmaßlich fachlich besser geeignete Maßnahme - hier die vollstationäre Unterbringung - verweigert werden kann, solange vom Antragsgegner diese Hilfe nicht ansatzweise konkretisiert und belegt worden ist, dass diese Hilfe auch tatsächlich zur Verfügung steht. Ist die vom Jugendamt präferierte vollstationäre Betreuung des Antragstellers aktuell nicht konkret verfügbar oder aufgrund fehlender Mitwirkung der Sorgeberechtigten jedenfalls derzeit nicht erreichbar, sind die von ihm beantragten Hilfen dann als die aktuell einzig möglichen anzusehen, mit der Folge, dass sie gegebenenfalls im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes einstweilen zu bewilligen sind. Andernfalls würden dem hilfebedürftigen Antragsteller verfügbare und auch offenkundig nicht kontraproduktive Hilfen unter Hinweis auf eine aktuell gar nicht mögliche vollstationäre Unterbringung versagt; sein Hilfebedarf bliebe im Hinblick auf die vage Aussicht auf eine andere Maßnahme ungedeckt. Dies wäre weder mit der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG noch mit der grundsätzlichen Zielrichtung des Jugendhilferechts vereinbar. Der Senat geht deshalb davon aus, dass der Antragsgegner unmittelbar selbst Abhilfe schafft.
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4. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Eine Streitwertfestsetzung ist angesichts der Gerichtskostenfreiheit in jugendhilferechtlichen Angelegenheiten nach § 188 Satz 2, 1 VwGO entbehrlich. Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.