Inhalt

VGH München, Urteil v. 21.10.2022 – 12 BV 20.2079
Titel:

Erfolgreiche Klage auf Erstattung von Jugendhilfekosten für einen minderjährigen jugendlichen Flüchtling 

Normenketten:
SGB VIII § 7, § 42, § 89d
BayAufnG § 7 Abs. 1, § 8
Leitsätze:
1. Das durch eine Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender dokumentiertes Asylersuchen reicht aus, um materiell das Entstehen eines gestatteten Aufenthalts kraft Gesetzes und damit zugleich die Leistungsberechtigung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu bewirken. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
2. Allein der Umstand, dass sich volljährige Verwandte eines unbegleitet ins Bundesgebiet eingereisten Minderjährigen ebenfalls im Inland befinden, macht sie nicht zu Erziehungsberechtigten; hinzukommen muss in jedem Fall die tatsächliche Verantwortungsübernahme für den Minderjährigen. (Rn. 34 und 36) (redaktioneller Leitsatz)
3. Art. 7 Abs. 1 AufnG erfordert für das Bestehen des Erstattungsanspruchs weder einen zeitlichen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der unbegleiteten Einreise des minderjährigen Ausländers und der Jugendhilfegewährung, noch führt eine länger als drei Monate andauernde zeitliche Unterbrechung der Jugendhilfegewährung dazu, dass der Anspruch nicht mehr besteht (Fortführung von VGH München BeckRS 2022, 15809). (Rn. 40 – 53) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, Inobhutnahme, Kostenerstattung, Erziehungsberechtigte, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, tatsächliche Verantwortungsübernahme
Vorinstanz:
VG Ansbach, Urteil vom 25.06.2020 – AN 6 K 18.385
Fundstelle:
BeckRS 2022, 31541

Tenor

I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 25. Juni 2020 (Az.: AN 6 K 18.385) und der Sammelbescheid des Beklagten vom 31. Januar 2018 in Nr. 5 werden aufgehoben. Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin für dem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling S. Albaysoumi im Zeitraum zwischen dem 15. Februar 2016 und dem 3. Juli 2016 erbrachte Jugendhilfeleistungen Kostenerstattung in Höhe von 33.341,40 € zuzüglich Prozesszinsen ab Rechtshängigkeit in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz zu leisten.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch die Klägerin durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht zuvor die Klägerin Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Der Streitwert wird auf 33.341,40 € festgesetzt.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1
Die Beteiligten streiten um die Erstattung der für die minderjährige syrische Jugendliche S. A. im Zeitraum zwischen dem 15. Februar 2016 und 3. Juli 2016 aufgewandten Jugendhilfekosten.
2
1. Die am ... 2000 in Da. geborene S. A. reiste am 23. August 2015 in die Bundesrepublik ein und wurde von der Polizei im ICE nach N. aufgegriffen. Da S. weder in Begleitung von Personensorgeberechtigten bzw. Erziehungsberechtigten war - ihre getrenntlebenden Eltern befanden sich in Ägypten bzw. im Irak -, wurde sie vom Jugendamt der Klägerin in Obhut genommen und in der Kinderschutzstelle R.-Straße in N. untergebracht; die Polizei stellte ihr bei dieser Gelegenheit eine Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchende aus. In der Kinderschutzstelle verblieb sie bis zum 9. September 2015. Nach entsprechenden Hinweisen auf weitere, sich im Bundesgebiet aufhaltende Verwandte - konkret S.s Großmutter sowie ein Onkel väterlicherseits und mehrere Cousins - wurde die Inobhutnahme am 9. September 2015 beendet. S. begab sich daraufhin im Rahmen einer „Familienzusammenführung“ in eine Asylbewerberunterkunft nach Pleinfeld, in der sich die genannten Verwandten zum damaligen Zeitpunkt aufhielten.
3
Am 15. Februar 2016 wurde S., die sich zu diesem Zeitpunkt mit ihrer Großmutter, ihrem Onkel, dessen Familie und zwei Cousins in der Gemeinschaftsunterkunft E.-Straße in N. aufhielt, auf ihren Wunsch vom Jugendamt der Klägerin erneut in Obhut genommen. Bereits am 12. Januar 2016 hatte sie sich an die Asylbetreuung der Gemeinschaftsunterkunft mit der Bitte um Hilfe gewandt, da sie nicht mehr bei ihrer Großmutter bleiben könne bzw. möchte (vgl. Vermerk Bl. 35 der Jugendhilfeakte). Aus einer Aktennotiz der zuständigen Jugendamtsmitarbeiterin vom 16. Februar 2016 über ein Gespräch am 15. Februar 2016 (Bl. 60 der Jugendhilfeakte) in der Gemeinschaftsunterkunft ergibt sich, dass S. durch einen Zettel gegenüber der Einrichtungsleitung um Hilfe gebeten habe, „da ihre Oma aufgrund ihres Alters und ihrer Einstellung nicht gut für sie sorgen könne“. Gegenüber der Jugendamtsmitarbeiterin gab S. weiter an, sie „würde von der Oma zu Sachen gezogen und davon abgehalten, die GU zu verlassen Zudem würde die Oma körperlich übergriffig werden.“ Sie sei in Not und sehe sich bei der Großmutter gefährdet. Im Gespräch mit den weiteren Familienmitgliedern, insbesondere der Großmutter und dem Onkel, ergab sich, dass im Hinblick auf S. keinen Konsens über das weitere Vorgehen bestand und die Familie sich nicht auf ein Gespräch hinsichtlich Förderung, Betreuung und Versorgung von S. einlassen würde. Daraufhin wurde S. auf ihren eigenen Wunsch vom 15. bis 17. Februar 2016 erneut in der Jugendschutzstelle in der R.-Straße in N., ab 18. Februar 2016 bis einschließlich 3. Juli 2016 in der dortigen Kindernotwohnung untergebracht. Zwischenzeitlich wurde das Jugendamt der Klägerin zum Amtsvormund für S. bestellt. Der Amtsvormund beantragte am 11. März 2016 für sie stationäre Jugendhilfe.
4
Aus weiteren Aktenvermerken (Bl. 62 ff. der Jugendhilfeakte) der zuständigen Jugendamtsmitarbeiterin ergibt sich, dass S. während der Unterbringung in der Kindernotwohnung in telefonischem Kontakt mit ihrem in Ägypten aufhältigen Vater stand und dass sie nicht bei ihrer Großmutter bleiben möchte. Diese würde stetig Kontrolle ausüben, ihr wenig erlauben und sie müsse viel helfen. In einem weiteren Gespräch gibt S. an, dass ihre Großmutter von ihrem Vater den Auftrag bekommen habe, sich um sie zu kümmern, wenn sie in Deutschland seien. Zugleich gibt sie an, dass sie zu ihrer Großmutter zurückgehen könnte, sofern diese eine eigene Wohnung gefunden habe. Im folgenden Gespräch führt S. aus, dass das Verhältnis zu ihrer Großmutter, zu der sie weiterhin Kontakt halte, besser geworden sei. Sie gehe aber davon aus, dass ihre Großmutter eine konservative Haltung in Bezug auf Erziehung und Beziehungen einnehme. Deshalb würde sie persönliche Dinge weniger erzählen bzw. mit der Großmutter besprechen. Bereits vor der Inobhutnahme habe S. einen fünf Jahre älteren Freund gehabt. Deshalb sei es mit der Großmutter auch immer wieder zu Auseinandersetzungen gekommen.
5
In einer Besprechung in der Gemeinschaftsunterkunft Ende Juni 2016 über eine mögliche Rückführung von S. dorthin (Bl. 76 der Jugendhilfeakte) gab sie an, dass sie ihre Großmutter und ihre Verwandten in der Vergangenheit regelmäßig in der Gemeinschaftsunterkunft besucht habe. Ihre Großmutter habe sich verändert; sie käme jetzt gut mit ihr zurecht. Die Streitigkeiten zwischen ihr und ihrer Großmutter seien ausgeräumt. Auch die Gründe, die zur Inobhutnahme geführt haben, seien besprochen worden. Beide hätten ein gemeinsames Miteinander gefunden. Frau T., S.s Großmutter, bedankte sich beim Jugendamt, dass man sich um ihre Enkelin gekümmert habe. Aktuell erweise sich die Situation mit der Enkeltochter als entspannt. Wenn S. möchte, könne sie wieder zu ihr. Dies habe sie mit ihrem Sohn, S.s Vater, besprochen. S.s Onkel legte dar, dass sie bereits in den letzten Wochen vermehrt darüber gesprochen und letztlich eine gemeinsame Haltung gefunden hätten. In der Folge wurde die Inobhutnahme S.s zum 3. Juli 2016 beendet; S. zog wieder zu ihrer Großmutter in die Gemeinschaftsunterkunft.
6
2. Mit Schreiben an das Bundesverwaltungsamt vom 23. August 2015 beantragte die Klägerin zunächst die Bestimmung eines überörtlichen Trägers der Jugendhilfe zur Kostenerstattung nach § 89d Abs. 3 SGB VIII a.F. Das Bundesverwaltungsamt bestimmte daraufhin mit Schreiben vom 17. September 2015 den Landschaftsverband Rheinland als überörtlichen Träger der Jugendhilfe für S. A. Mit Schriftsatz vom 14. Oktober 2016 erkannte der Landschaftsverband Rheinland seine Kostenerstattungspflicht nach § 89d Abs. 3 SGB VIII a.F. für die gegenüber S. im Zeitraum zwischen dem 23. August 2015 und 9. September 2015 erbrachte Jugendhilfemaßnahme (Inobhutnahme) an. Mit weiterem Schreiben vom 31. März 2017 meldete die Klägerin auch beim Bezirk Mittelfranken Kostenerstattungsansprüche für gegenüber S. A. erbrachte Jugendhilfemaßnahmen für den vorliegend streitgegenständlichen Zeitraum der Inobhutnahme vom 15. Februar 2016 bis 3. Juli 2016 an, gab aber gleichzeitig an, diesbezüglich noch mit der Regierung von Mittelfranken über eine Kostenerstattung nach Art. 7, 8 AufnG zu verhandeln. Weiterhin meldete die Klägerin der Regierung von Mittelfranken die für S. A. im Zeitraum vom 15. Februar 2016 bis 3. Juli 2016 erbrachte Inobhutnahme zur Kostenerstattung im Rahmen der sog. Quartalsabrechnungen vom 6. Dezember 2016, 7. Dezember 2016, 27. Januar 2017, 13. Februar 2017 und 27. November 2017 an. In der tabellarischen Aufstellung (Bl. 138 ff. der Jugendhilfeakte) wurde S. als unbegleitet aufgeführt. Sie sei am 23. August 2015 eingereist. Für die anfängliche Inobhutnahme sei Kostenerstattung nach § 89d SGB VIII geleistet worden. Daraufhin sei länger als drei Monate keine Jugendhilfe mehr gewährt worden. Ab dem 15. Februar 2016 sei sie wieder in Obhut genommen worden. Die Voraussetzungen des Aufnahmegesetzes bzw. von § 1 AslybLG seien erfüllt.
7
Mit Sammelbescheid vom 31. Januar 2018 lehnte der Beklagte die Kostenerstattung nach Art. 7, 8 AufnG ab. Im Hinblick auf S. A. (Nr. 5 des Sammelbescheids) könne Kostenerstattung nach Art. 7 Abs. 1, Art. 8 AufnG nicht geleistet werden. Nach Weisungslage diene die subsidiäre Kostenerstattung nach Art. 7 Abs. 1 AufnG nicht als Ersatz für eine nachträglich entfallende Kostenerstattung nach § 89d SGB VIII. Nach Einreise am 23. August 2015, die offensichtlich im Familienverband stattgefunden habe (durchgängig gemeinsamer Aufenthalt) sei zwar Jugendhilfe und Kostenerstattung nach § 89d SGB VIII gewährt worden. Nach Einstellung der Jugendhilfe im Zeitraum vom 10. September 2015 bis 14. Februar 2016 sei Kostenerstattung nach § 89d SGB VIII durch Überschreiten der Drei-Monats-Frist nunmehr jedoch ausgeschlossen. Für die ab dem 15. Februar 2016 nochmals erforderliche Inobhutnahme bestehe folglich kein Bezug zur Einreise mehr, den aber die Kostenerstattung nach Art. 7 Abs. 1 AufnG voraussetze. Des Weiteren sei bereits fraglich, ob im Fall von S. überhaupt von einer unbegleiteten Einreise auszugehen gewesen sei.
8
3. Mit beim Verwaltungsgericht Ansbach am 27. Februar 2018 eingegangenem Schriftsatz erhob die Klägerin Klage mit dem Ziel, den Beklagten nach Art. 7 Abs. 1 AufnG zur Erstattung der für S. A. im Zeitraum zwischen dem 15. Februar 2016 und dem 3. Juli 2017 aufgewandten Jugendhilfeleistungen in Höhe von 33.341,40 € nebst Prozesszinsen zu verpflichten. Diese Klage wies das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 25. Juni 2020 ab.
9
3.1 Rechtsgrundlage eines möglichen Kostenerstattungsanspruchs bilde Art. 7 Abs. 1, Art 8 Abs. 1 Satz 1 AufnG. Danach sei der Freistaat Bayern den Trägern der Jugendhilfe erstattungspflichtig, soweit unbegleitete minderjährige Personen, die nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes leistungsberechtigt seien, Anspruch auf Jugendhilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) besäßen. Die Erstattungspflicht sei nach Art. 7 Abs. 3 Satz 1 AufnG gegenüber einer Kostenerstattung nach § 89d Abs. 1 SGB VIII nachrangig. Die Anspruchsvoraussetzungen der Erstattungsnorm des Art. 7 Abs. 1 AufnG seien indes vorliegend nicht gegeben, da die begünstigte S. A. während des streitgegenständlichen Zeitraums der Jugendhilfegewährung nicht als unbegleitet anzusehen sei.
10
3.2 Unbegleitet sei ein Minderjähriger dann, wenn er zum maßgeblichen Zeitpunkt oder im maßgeblichen Zeitraum entweder völlig alleine sei oder wenn die Person, unter deren Obhut er stehe, weder personensorge- noch erziehungsberechtigt sei. Als maßgeblicher Zeitraum im Sinne von Art. 7 Abs. 1 AufnG sei der Zeitraum der Leistungsberechtigung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und derjenige der Jugendhilfegewährung anzusehen. Dagegen sei es nicht erforderlich, dass der Minderjährige bereits bei der Einreise unbegleitet gewesen sei. Zwar sei der Begriff des unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings bzw. Ausländers im Aufnahmegesetz nicht ausdrücklich definiert. Er könne aber in Anlehnung an die in § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII und in § 42a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII enthalten ausdrücklichen Begriffsbestimmungen verstanden werden. Der diesen Bestimmungen zugrundeliegende Rechtsgedanke, nämlich, dass weder personensorgeberechtigte noch erziehungsberechtigte Personen vor Ort seien, sei verallgemeinerungsfähig und folglich auch auf das Aufnahmegesetz anzuwenden.
11
Zu den Personensorgeberechtigten eines Minderjährigen zählten nach § 7 Abs. 1 Nr. 5 SGB VIII seine Eltern, Stiefeltern, Adoptiveltern, Lebenspartner oder sein Vormund, gegebenenfalls auch die Pflegeeltern. Weiterhin rechneten nach § 7 Abs. 1 Nr. 6 SGB VIII neben den Personensorgeberechtigten auch diejenigen volljährigen Personen zu den Erziehungsberechtigten des Minderjährigen, soweit sie aufgrund einer Vereinbarung mit dem Personensorgeberechtigten nicht nur vorübergehend und nicht nur für einzelne Verrichtungen Aufgaben der Personensorge wahrnehmen. Die geforderte Vereinbarung bedürfe keiner besonderen Form und könne sogar stillschweigend getroffen werden. Werde ein Minderjähriger von einem volljährigen Verwandten begleitet, bilde dies ein Indiz für das Bestehen der erforderlichen Vereinbarung. Daneben müsse die Begleitperson aber Kontakt zu den Eltern oder Personensorgeberechtigten besitzen, da in allen wesentlichen Angelegenheiten die Möglichkeit der Rücksprache gegeben sein müsse. Bei der Prüfung der Frage, ob Unbegleitetheit im Sinne von Art. 7 Abs. 1 AufenthG vorliege, blieben ferner Maßnahmen außer Betracht, die auf Veranlassung oder direkt von Jugendhilfeträgern getroffen würden und die darauf abzielten, einer unzureichenden Betreuung der minderjährigen Person zu begegnen. Art. 7 Abs. 1 AufnG ziele darauf ab, die Träger zu schützen und finanziell zu entlasten, die - in Überlast - dazu aufgerufen seien, Jugendhilfemaßnahmen in Folge der Unbegleitetheit eines Minderjährigen zu treffen. Fälle, in denen ein Minderjähriger zunächst von Personensorge- oder Erziehungsberechtigten betreut und dann allein wegen Missständen, unter denen die Betreuung leide, in Obhut genommen werde, entsprächen eher der typischen Situation der Gewährung kinder- und jugendhilferechtlicher Leistungen und nicht der Sonderkonstellation der Fürsorge für unbegleitete Minderjährige. Von derartigen Kosten sollen die Jugendhilfeträger nach Sinn und Zweck von Art. 7 Abs. 1 AufnG nicht entlastet werden. Sähe man in diesen Fällen den Minderjährigen als nachträglich unbegleitet an, hätte es der zuständige Jugendhilfeträger in der Hand, die „Unbegleitetheit“ des Minderjährigen selbst herbeizuführen. Demnach könnten kinder- und jugendhilferechtliche Maßnahmen, die eine Trennung des Minderjährigen von der erziehungsberechtigten Begleitperson bewirkten, nicht dazu führen, den Minderjährigen nunmehr als unbegleitet anzusehen.
12
3.3 Gemessen an diesen Grundsätzen sei S. A. während des vorliegend streitgegenständlichen Zeitraums der Leistungsgewährung nicht als unbegleitet anzusehen gewesen. Zwar sei sie zunächst unbegleitet eingereist. Vom Zeitpunkt der Familienzusammenführung an habe sie sich in der Begleitung ihrer Großmutter und ihres Onkels befunden, mithin in Begleitung volljähriger Verwandter. Diese hätten zunächst auch die Fürsorge für sie übernommen und mit ihr gemeinsam in der Gemeinschaftsunterkunft gewohnt. Zu dieser Zeit habe auch Kontakt zu S.s Eltern bestanden, was sich aus der Kinder- und Jugendhilfeakte der Klägerin ergebe. Es sei daher davon auszugehen, dass eine Vereinbarung zwischen S.s Eltern und ihrer Großmutter, in deren Obhut sie sich befunden habe, getroffen worden sei, auf der die Erziehungsberechtigung beruhe. Demnach habe es sich bei S. ab dem Zeitpunkt der Familienzusammenführung um eine begleitete Minderjährige gehandelt. Am 15. Februar 2016 sei S. im Rahmen ihr gewährter Jugendhilfe (erneut) in Obhut genommen worden. Die Unterbringung und Trennung von ihren Erziehungsberechtigten sei jedoch durch die Klägerin und damit durch eine öffentliche Stelle veranlasst worden und habe auf den Konflikten beruht, die zwischen S. und ihrer Erziehungsberechtigten bestanden und die ein Einschreiten erforderlich gemacht hätten. Auch während des Zeitraums der erneuten Inobhutnahme wäre S.s Großmutter bereit gewesen, sie zu betreuen. Zwischen beiden habe regelmäßiger Kontakt bestanden. Ausweislich der Jugendhilfeakte der Klägerin habe sich die Erziehungsberechtigte aktiv darum bemüht, S. wieder betreuen zu können. Gleichwohl sei S. durch die Maßnahmen der Klägerin nicht nachträglich als unbegleitet anzusehen gewesen.
13
3.4 Ferner sei nach § 124a Abs. 1 VwGO, § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO die Berufung zuzulassen gewesen, da „die Rechtssache“ grundsätzliche Bedeutung besitze. Allein bei dem erkennenden Gericht sei eine größere Zahl an ähnlich gelagerten Rechtsstreitigkeiten anhängig, sodass die Bedeutung der „zu klärenden Rechtsfragen“ über den vorliegenden Einzelfall hinausreichen. Eine genaue Benennung der Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung, die die Rechtssache aufwerfen soll, erfolgte indes durch das Verwaltungsgericht nicht.
14
4. Zur Begründung der zugelassenen und mit Telefax vom 7. September 2020 eingelegten Berufung trägt die Klägerin vor, dass ihr entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch für die Inobhutnahme von S. A. im Zeitraum zwischen dem 15. Februar 2016 und dem 3. Juli 2016 zustehe.
15
Soweit das Verwaltungsgericht annehme, ein Minderjähriger sei unbegleitet, wenn sich weder Personensorgeberechtigte noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhielten, sei dem zuzustimmen, ebenso soweit das Verwaltungsgericht davon ausgehe, dass die Unbegleitetheit des Minderjährigen nicht schon bereits bei Einreise hätte vorliegen müssen, um einen Kostenerstattungsanspruch nach Art. 7 AufnG zu begründen. Ebenso wenig sei, wie der Beklagte behaupte, ein Zusammenhang zwischen der Jugendhilfegewährung und der Einreise für das Entstehen des Kostenerstattungsanspruchs erforderlich. Die Unbegleitetheit eines Minderjährigen könne auch erst zu einem späteren Zeitpunkt nach der Einreise entstehen. Als unstrittig erweise sich ferner, dass S. A. bei ihrer Einreise in die Bundesrepublik unbegleitet gewesen sei. Später sei eine „Familienzusammenführung“ mit ihrer Großmutter, einem Onkle und zwei Cousins erfolgt, von denen jedoch keiner für S. personensorgeberechtigt gewesen sei.
16
Während des streitgegenständlichen Zeitraums der (zweiten) Inobhutnahme sei S. indes, anders als das Verwaltungsgericht meine, als unbegleitet anzusehen. Soweit das Verwaltungsgericht davon ausgehe, dass diejenigen kinder- und jugendhilferechtlichen Maßnahmen, die erst zu einer Trennung von Personensorge- bzw. Erziehungsberechtigten führen, nicht eine nachträgliche Unbegleitetheit des Hilfeempfängers bewirkten, wenn der Minderjährige allein wegen Missständen, unter denen seine Erziehung leide und damit nicht wegen fluchtspezifischer Umstände in Obhut genommen werde, so finde dieser Ansatz im vorliegenden Fall keine Anwendung. Insoweit gehe das Verwaltungsgericht fälschlich davon aus, dass die Inobhutnahme S.s auf Veranlassung der Klägerin erfolgt sei. Dabei werde außer Acht gelassen, dass gerade fluchtspezifische Ursachen zur Inobhutnahme führen, die eben doch nicht mit den typischen Kinder- und Jugendhilfefällen vergleichbar seien. Im vorliegenden Fall sei es gerade nicht „Idee der Klägerin“ gewesen, S. in Obhut zu nehmen. Sie hat vielmehr selbst um die Inobhutnahme gebeten. Damit liege gerade nicht eine Konstellation vor, bei der sich die Klägerin durch Gewähr einer Jugendhilfemaßnahme einen Kostenerstattungsanspruch quasi selbst verschafft habe. Angesichts der gesetzlichen Regelung in § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII sei das Jugendamt der Klägerin gesetzlich verpflichtet gewesen, S. auf ihre Bitte in Obhut zu nehmen. Darauf, ob daneben der jeweilige Fallverantwortliche (auch) das Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung annehme, komme es insoweit daher nicht an. Mithin liege keine von der Klägerin „selbst beschaffte“, sondern eine nach dem Gesetz vorgegebene Jugendhilfemaßnahme vor. Im Zeitpunkt der Inobhutnahme war S. daher als unbegleitet anzusehen.
17
Hinzu komme, dass im Zeitpunkt der Inobhutnahme keine Erziehungsberechtigung vorgelegen hätte bzw. die Großmutter nicht in der Lage gewesen sei, eine solche auszuüben. Allein das Vorhandensein von Verwandtschaft führe nicht automatisch zur Annahme einer Erziehungsberechtigung. Hinzu komme das Erfordernis, dass Kontakt zu den Personensorgeberechtigten bestehen müsse, was hier nicht der Fall gewesen sei. Wie sich aus der Jugendhilfeakte entnehmen lasse, habe es sich erst im Lauf der Sachverhaltsermittlungen und der Gespräche mit den Beteiligten herausgestellt, dass es wohl dem Willen von S.s Vater entsprochen habe, dass sich diese bei ihrer Großmutter aufhalten solle, sodass man eine Erziehungsberechtigung habe in Betracht ziehen können. Demzufolge sei im Anschluss an die streitgegenständliche Inobhutnahme die Gewähr von Hilfe zur Erziehung auch abgelehnt und S. wieder dem Familienverband bzw. ihrer Großmutter übergeben worden. Für den Zeitraum der Inobhutnahme war S. daher als unbegleitet anzusehen. Es bestehe folglich ein Kostenerstattungsanspruch aus Art. 7, 8 AufnG.
18
Weiter habe der Beklagte die Höhe der angefallenen Kosten nicht bestritten; sie könne daher als unstreitig angesehen werden. Die Aufwendungen seien ferner auch notwendig und angemessen im Sinne von Art. 7, 8 AufnG gewesen.
19
Die Klägerin beantragt daher:
20
Unter Aufhebung des angefochtenen Urteils wird der Beklagte verpflichtet, der Klägerin die Kosten für die in der Zeit vom 15.02.2016 bis 03.07.2016 gemäß § 42 SGB VIII erbrachten Jugendhilfeleistungen in Höhe von 33.341,40 € gemäß Art. 7, 8 AufnG zuzüglich der zustehenden Prozesszinsen ab Rechtshängigkeit in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz zu erstatten.
21
5. Demgegenüber beantragt der Beklagte:
22
Die Berufung wird zurückgewiesen.
23
Das Verwaltungsgericht habe zu Recht entschieden, dass S. während des Zeitraums der streitgegenständlichen Inobhutnahme nicht unbegleitet gewesen sei. Angesichts der „Gesamtsituation“ sei von einer Übertragung der Erziehungsberechtigung auf die Großmutter und den Onkel auszugehen. Die Voraussetzungen für die Annahme einer Erziehungsberechtigung hätten vorgelegen; insbesondere habe auch Kontakt zu S.s Eltern bestanden. Demgegenüber überspanne die Klägerin die Anforderungen an das Vorliegen einer Erziehungsberechtigung. Soweit durch die Klägerin eine Trennung von S. und ihren Angehörigen veranlasst worden sei, habe diese, wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt habe, außer Betracht zu bleiben. Unerheblich sei in diesem Zusammenhang, dass S. selbst um Inobhutnahme gebeten habe, denn auch dann liege, wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt habe, eine typische Situation der Gewährung jugendhilferechtlicher Leistungen vor, die nicht der besonderen Fürsorge für unbegleitete Minderjährige entsprängen. Werde, wie im vorliegenden Fall, ein Minderjähriger von Erziehungsberechtigten betreut und nehme das Jugendamt dann entweder auf Wunsch des Minderjährigen oder aufgrund fachlicher Einschätzung diesen in Obhut, sollen die Jugendhilfeträger nach dem Zweck von Art. 7 AufnG gerade nicht von den hierdurch veranlassten Kosten entlastet werden. Weiter sei darauf hinzuweisen, dass die Höhe der geltend gemachten Kosten mangels Prüfung nicht unstreitig sei.
24
6. Auf entsprechende Anfrage des Senats habe die Klägerin mit Schriftsatz vom 21. Dezember 2021 und der Beklagte mit Schriftsatz vom 16. Dezember 2021 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
25
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die dem Senat vorliegenden Gerichts- und Behördenakten, ferner auf die Parallelverfahren 12 BV 20.2077, 12 BV 20.2080 und 12 BV 20.1934 verwiesen.

Entscheidungsgründe

26
Die zulässige Berufung, über die der Senat nach § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist begründet. Der Klägerin kommt für die in der Zeit vom 15. Februar 2016 bis 3. Juli 2016 der syrischen Jugendlichen S. A. gewährte Jugendhilfeleistungen nach Art. 7 Abs. 1 AufnG ein Kostenerstattungsanspruch im geltend gemachten Umfang von 33.341,40 € nebst Prozesszinsen seit Klageerhebung zu.
27
Nach Art. 7 Abs. 1 AufnG ist der Freistaat Bayern den Trägern der Jugendhilfe kostenerstattungspflichtig, soweit unbegleitete minderjährige Personen im Sinne von Art. 1 Abs. 1 AufnG Anspruch auf Leistungen der Jugendhilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) besitzen.
28
1. Der Kostenerstattungsanspruch aus Art. 7 Abs. 1 AufnG tritt im vorliegenden Fall nicht nach Art. 7 Abs. 3 AufnG gegenüber einem Kostenerstattungsanspruch nach § 89d Abs. 1 SGB VIII zurück.
29
Für den vorliegend streitgegenständlichen Zeitraum der zweiten Inobhutnahme der Klägerin greift § 89d Abs. 4 SGB VIII ein, wonach die Verpflichtung zur Kostenerstattung entfällt, wenn inzwischen für einen zusammenhängenden Zeitraum von drei Monaten Jugendhilfe nicht zu gewähren war. Im vorliegenden Fall lebte S. vom 9. September 2015 bis 15. Februar 2016 in einer Gemeinschaftsunterkunft und bezog Sozialleistungen. Die ursprünglich bestehende und von der Klägerin auch geltend gemachte Kostenerstattung gegenüber dem nach § 89d Abs. 3 SGB VIII a.F. bestimmten Jugendhilfeträger konnte daher ab dem 15. Februar 2016 nicht mehr beansprucht werden, sodass die Vorrangregelung des Art. 7 Abs. 3 AufnG nicht eingreift.
30
2. Die Tatbestandsvoraussetzungen des Kostenerstattungsanspruchs aus Art. 7 Abs. 1 AufnG liegen im Hinblick auf die S. A. im Zeitraum zwischen dem 15. Februar 2016 und dem 3. Juli 2016 gewährten Jugendhilfeleistungen vor.
31
2.1 Im genannten Zeitraum handelt es sich bei S. um eine minderjährige Person im Sinne von Art. 1 Abs. 1 AufnG. Art. 1 Abs. 1 AufnG verweist zunächst auf die Gruppe der nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes leistungsberechtigten Personen. Hierzu rechnen nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 AslybLG Ausländer, die sich tatsächlich im Bundesgebiet aufhalten und die eine Aufenthaltsgestattung nach dem Asylgesetz besitzen. Eine förmliche Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylG besaß S. zum Zeitpunkt der zweiten Inobhutnahme zwar (noch) nicht. Jedoch war ihr bereits bei ihrer Einreise in die Bundesrepublik am 13. August 2015 von der zuständigen Polizeidienststelle eine Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchende ausgestellt worden. Das hierdurch dokumentierte Ersuchen um Asyl reicht aus, um materiell das Entstehen eines gestatten Aufenthalts kraft Gesetzes und damit zugleich die Leistungsberechtigung nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylbLG in der 2015 geltenden Fassung zu bewirken (vgl. hierzu Cantzler in Cantzler, Asylbewerberleistungsgesetz, 1. Aufl. 2019, § 1 Rn. 40). Weiter war S. während der streitgegenständlichen Inobhutnahme offensichtlich minderjährig.
32
2.2 S. A. war weiterhin entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts und des Beklagten seit ihrer Einreise in die Bundesrepublik am 13. August 2015 bis zu ihrer „Rückkehr“ in den Familienverbund am 3. Juli 2016, d.h. erst mit Ende der streitgegenständlichen Inobhutnahme auch eine unbegleitete Minderjährige. Insbesondere hat die „Familienzusammenführung“ mit ihrer Großmutter, ihrem Onkel und weiteren Cousins zwischen dem 9. September 2015 und dem 15. Februar 2016 angesichts der besonderen Umstände des Einzelfalls nicht dazu geführt, sie als von einem oder mehreren Erziehungsberechtigten im Sinne von § 7 Abs. 1 Nr. 6 SGB VIII begleitet anzusehen.
33
2.2.1. Nach Art. 2 lit. e der RL 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Aufnahmerichtlinie) ist ein Minderjähriger Ausländer bzw. Flüchtling unbegleitet, wenn er „ohne Begleitung eines für ihn nach dem einzelstaatlichen Recht oder den Gepflogenheiten des betreffenden Mitgliedstaats verantwortlichen Erwachsenen in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut eines solchen Erwachsenen befindet; dies schließt Minderjährige ein, die nach der Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats dort ohne Begleitung zurückgelassen wurden“. Unbegleitete minderjährige Ausländer (umA) sind nach Jugendhilferecht im Falle der unbegleiteten Einreise nach Deutschland nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII vorläufig in Obhut zu nehmen, nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII hingegen endgültig in Obhut zu nehmen, wenn sie unbegleitet nach Deutschland kommen und sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten. Die Pflicht zur Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII tritt auch dann ein, wenn der ursprünglich mit einem Personensorgeberechtigten oder Erziehungsberechtigten ins Bundesgebiet eingereiste minderjährige Ausländer nach der Einreise allein im Bundesgebiet zurückgelassen wird.
34
Personensorgeberechtigte, deren Begleitung bzw. Aufenthalt im Inland zum Begleitetsein des Minderjährigen führen, sind nach der Legaldefinition in § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB VIII diejenigen Personen, denen allein oder gemeinsam mit einer anderen Person nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs die Personensorge für den Minderjährigen zusteht. Neben den Personensorgeberechtigten ist nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 SGB VIII weiterhin jede sonstige Person über 18 Jahren Erziehungsberechtigte, soweit sie auf Grund einer Vereinbarung mit dem Personensorgeberechtigten nicht nur vorübergehend und nicht nur für einzelne Verrichtungen Aufgaben der Personensorge wahrnimmt. Dabei sind an die erforderliche Vereinbarung mit dem Personensorgeberechtigten keine hohen Anforderungen zu stellen. Sie können auch konkludent durch stillschweigende Billigung zustande kommen (Wapler in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 7 Rn. 14), setzen in diesem Fall aber voraus, dass die betroffene Person nicht nur vorübergehend und nicht nur für einzelne Verrichtungen Aufgaben der Personensorge wahrnimmt und dies in Kenntnis und mit Billigung im Sinne des Zulassens eines Personensorgeberechtigten geschieht (vgl. hierzu etwa Lack in BeckOGK Sozialrecht, § 7 SGB VIII Rn. 43). Die Erziehungsberechtigung erfordert mithin in jedem Fall neben der entsprechenden Vereinbarung die tatsächliche Verantwortungsübernahme einer volljährigen Person für den Minderjährigen (Meysen in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 7 Rn. 4), allerdings nicht nur begrenzt auf die Verrichtung erzieherischer Einzelaufgaben (Lack in BeckOGK Sozialrecht, § 7 SGB VIII Rn. 42). Nicht zwingend erforderlich ist hingegen, dass der Minderjährige mit dem Erziehungsberechtigten in einem Haushalt lebt (Lack in BeckOGK Sozialrecht, § 7 SGB VIII Rn. 46). Im Falle minderjährigen Ausländern ist weiter zu fordern, dass zwischen dem erziehungsberechtigten Volljährigen und dem oder den Personensorgeberechtigten Kontakt, beispielsweise über Telefon oder soziale Medien (WhatsApp, etc.,) besteht, sodass ein Austausch über die wesentlichen Entscheidungen für den Minderjährigen erfolgen kann (so etwa Meysen in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar zum SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 7 Rn. 4; Kontakte über Telefon oder Internet erachtet hingegen Kirchhoff in jurisPK SGB VIII Stand 2.8.2022, § 42 Rn. 129 nicht für ausreichend).
35
Reist ein minderjähriger Flüchtling mit einem Erziehungsberechtigten ins Bundesgebiet bzw. hält sich ein Erziehungsberechtigter im Bundesgebiet auf, ist der Minderjährige im Rechtssinne begleitet, nicht unbegleitet.
36
2.2.2 Im vorliegenden Fall fehlt es zunächst an hinreichenden Anhaltspunkten dafür, dass S.s Onkel bzw. ihre Cousins ihr gegenüber Erziehungsberechtigte im Sinne von § 7 Abs. 1 Nr. 6 SGB VIII sein könnten. Denn allein der Umstand, dass sich volljährige Verwandte eines unbegleitet ins Bundesgebiet eingereisten Minderjährigen ebenfalls im Inland befinden, macht sie nicht zu Erziehungsberechtigten. Hinzukommen muss in jedem Fall die tatsächliche Verantwortungsübernahme für den Minderjährigen. Hierfür ist insbesondere aus der Jugendamtsakte der Klägerin für S.s Onkel und Cousins nichts ersichtlich.
37
Aber auch S.s Großmutter ist nicht bereits durch die „Familienzusammenführung“ nach dem 9. September 2015 in der Gemeinschaftsunterkunft in P. zur Erziehungsberechtigten im Sinne von § 7 Abs. 1 Nr. 6 SGB geworden, sondern erst mit der Rückkehr S.s in die Gemeinschaftsunterkunft am 3. Juli 2016. Dies ergibt sich daraus, dass die Erziehungsberechtigung nach § 7 Abs. 1 Nr. 6 SGB VIII neben der Vereinbarung mit dem oder den Personensorgeberechtigten auch die tatsächliche Verantwortungsübernahme für die Minderjährige nicht nur in einzelnen Teilbereichen erfordert sowie darüber hinaus die tatsächliche Rückanbindung an den oder die Personensorgeberechtigten (vgl. oben sub 2.2.1) erfordert. Eine entsprechende „Einigung“ darüber, dass und wie die Großmutter Verantwortung für S. übernehmen soll, ist entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts jedoch erst mit der Besprechung über S.s Rückkehr in die Gemeinschaftsunterkunft in Abstimmung mit ihrem in Ägypten befindlichen Vater Ende Juni 2016 erfolgt und mit ihrer Rückkehr in die Gemeinschaftsunterkunft am 3. Juli 2016 wirksam geworden. Soweit das Verwaltungsgericht ohne Angabe näherer Umstände unterstellt, entsprechende Kontakte zwischen der Großmutter und den Eltern S.s hätten bereits vor und während der zweiten Inobhutnahme stattgefunden, lässt sich dies anhand der Jugendhilfeakte der Klägerin nicht nachvollziehen.
38
Hinzu kommt, dass angesichts der offenkundig zwischen S. und ihrer Großmutter bestehenden Konflikte, die dazu geführt haben, dass sich S. zunächst an die Leitung der Gemeinschaftsunterkunft und in der Folge an das Jugendamt gewandt hat, ebenfalls nicht von einer tatsächlichen Verantwortungsübernahme der Großmutter als Erziehungsberechtigter ausgegangen werden kann. Insbesondere der Umstand, dass - möglicherweise kulturell bedingt - es nach S.s ursprünglichen Angaben zu körperlicher Übergriffigkeit gekommen ist, lassen die Erziehungsberechtigung - so sie denn bestanden hat - entfallen. Auch im Verhältnis zur Großmutter bedurfte es ausweislich der entsprechenden Aktennotizen der Mitarbeiter der Klägerin erst einer Aussprache bzw. Klärung des Verhältnisses, sodass auch in dieser Hinsicht von einer tatsächlichen Verantwortungsübernahme erst mit der allseitig konsentierten Rückkehr S.s in die Gemeinschaftsunterkunft am 3. Juli 2016 auszugehen ist.
39
Dies hat zur Folge, dass S. jedenfalls während der zweiten Inobhutnahme durch die Klägerin im Zeitraum zwischen dem 15. Februar 2016 und dem 3. Juli 2016 als unbegleitet anzusehen ist. Auf die vom Verwaltungsgericht thematisierte Frage, ob die Klägerin durch die Inobhutnahme die „Unbegleitetheit“ erst generiert und sich damit quasi selbst einen Kostenerstattungsanspruch verschafft hat, kommt es demzufolge nicht an. Mithin liegen die Voraussetzungen des Kostenerstattungsanspruchs nach Art. 7 Abs. 1 AufnG im vorliegend streitgegenständlichen Zeitraum vor.
40
2.3 Diesem Kostenerstattungsanspruch steht auch nicht das Fehlen eines zeitlichen Zusammenhangs zwischen der Einreise S.s in die Bundesrepublik und der Jugendhilfegewährung bzw. die mehr als dreimonatige Unterbrechung der Jugendhilfegewähr entgegen. Dieses vom Beklagten im Wege der „gewandelten Auslegung“ von Art. 7 Abs. 1 AufnG postulierte Erfordernis des unmittelbaren zeitlichen Zusammenhangs lässt sich unter Anwendung der zulässigen Auslegungstopoi nicht begründen (vgl. hierzu bereits ausführlich BayVGH, U.v. 22.6.2022 - 12 BV 20.1934 - BeckRS 2022, 15809, LS 1).
41
2.3.1 Die Notwendigkeit einer einschränkenden Auslegung von Art. 7 Abs. 1 AufnG durch Herstellung eines „Gleichklangs“ mit § 89d SGB VIII dergestalt, dass der Kostenerstattungsanspruch sowohl einen zeitlichen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der unbegleiteten Einreise des minderjährigen Ausländers und der Jugendhilfegewährung erfordert bzw. bei einer länger als drei Monate andauernden zeitlichen Unterbrechung der Jugendhilfegewährung nicht mehr besteht, lässt sich mit den methodisch anerkannten Auslegungstopoi nicht annehmen. Sie folgt insbesondere nicht aus dem systematischen Zusammenhang zwischen der bundesrechtlichen Erstattungsnorm des § 89d SGB VIII und der landesrechtlichen Erstattungsnorm des Art. 7 Abs. 1 AufnG unter Berücksichtigung der jeweiligen Normgenese.
42
Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der ursprünglichen Fassung von Art. 7 AufnG 2002 regelte § 89d SGB VIII (in der bis zum 31.12.2006 geltenden Fassung) bundesrechtlich die Kostenerstattung bei Gewährung von Jugendhilfe nach der Einreise. Nach § 89d Abs. 1 SGB VIII a.F. waren dem örtlichen Jugendhilfeträger vom Land die aufgewandten Jugendhilfekosten zu erstatten, wenn innerhalb eines Monats nach der Einreise eines jungen Menschen diesem Jugendhilfe gewährt wird und sich die örtliche Zuständigkeit nach dem tatsächlichen Aufenthalt der Person oder nach der Zuweisungsentscheidung der zuständigen Landesbehörde richtet. Nach § 89d Abs. 1 Satz 2 SGB VIII a.F. galt dabei als Tag der Einreise der Tag des Grenzübertritts, sofern dieser amtlich festgestellt worden war, andernfalls der Tag, an dem der Aufenthalt im Inland erstmals festgestellt wurde bzw., falls es auch hieran gefehlt hatte, der Tag der ersten Vorsprache bei einem Jugendamt. War der Leistungsberechtigte im Ausland geboren und handelte es sich daher um einen unbegleiteten minderjährigen Ausländer bzw. Flüchtling, wurde nach § 89d Abs. 3 SGB VIII a.F. das nach § 89d Abs. 1 SGB VIII erstattungspflichtige Land auf der Grundlage eines Belastungsvergleichs nach § 89d Abs. 3 Satz 2 a.F. vom Bundesverwaltungsamt bestimmt. Dieses Verfahren diente - insoweit ist der Auffassung des Beklagten zuzustimmen - der Entlastung der in Grenznähe gelegenen Aufgriffsorte bzw. der jeweils örtlich zuständigen Jugendhilfeträger und damit einer bundesweiten Verteilung der Jugendhilfekosten für unbegleitet eingereiste, minderjährige Ausländer.
43
Der Kostenerstattungsanspruch nach § 89d SGB VIII a. F. erwies sich jedoch hinsichtlich verschiedener Fallgruppen als lückenhaft und unzureichend. So stand dem örtlichen Jugendhilfeträger dann kein Kostenerstattungsanspruch zu, wenn er die Monatsfrist zwischen Einreise und Jugendhilfegewährung nicht eingehalten hat, etwa, weil sich die Minderjährigkeit eines unbegleitet eingereisten Flüchtlings erst nach Ablauf der Frist des § 89d Abs. 1 Satz 2 SGB VIII a.F. herausgestellt hat. Daneben bestand regelmäßig kein bundesrechtlicher Kostenerstattungsanspruch bei einem „nachträglichen Unbegleitetwerden“, wenn der zunächst begleitet ins Bundesgebiet eingereiste Minderjährige von seinen Personensorge- oder Erziehungsberechtigten im Bundesgebiet allein zurückgelassen wurde und er deshalb in Obhut genommen werden musste. Schließlich rechneten hierzu auch diejenigen Fälle, in denen nach § 89d Abs. 4 SGB VIII a.F. die Verpflichtung zur Kostenerstattung infolge einer mehr als drei Monate andauernden Unterbrechung der Jugendhilfegewährung entfallen, wo aber nach der Unterbrechung ein erneuter Jugendhilfebedarf des unbegleiteten Minderjährigen aufgetreten war.
44
Demgegenüber sah die zunächst aufgrund eines bayerischen Ministerratsbeschlusses vom 12. Mai 1992 ergangene Verwaltungsvorschrift vom 2. Februar 1993 eine volle Erstattung der Kosten der Kinder- und Jugendhilfe für asylsuchende unbegleitete minderjährige Flüchtlinge durch den Freistaat Bayern ab dem 1. Januar 1993 vor (vgl. hierzu und zum Folgenden den Gesetzentwurf über die Aufnahme und Unterbringung der Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz [Aufnahmegesetz - AufnG], LT-Drucks. 14/8632 vom 5.2.2002). Da der Bayerische Oberste Rechnungshof in dieser Verwaltungsvorschrift keine hinreichende Rechtsgrundlage für die Kostenerstattung an die öffentlichen Jugendhilfeträger gesehen hatte, wurde mit Art. 7 Abs. 1 des Aufnahmegesetzes eine entsprechende Erstattungsnorm geschaffen, deren Normtext in der Folgezeit unverändert geblieben ist.
45
2.3.2 Dass es sich bei Art. 7 Abs. 1 AufnG um eine zur bundesrechtlichen Erstattungsnorm des § 89d SGB VIII komplementäre, in ihren Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolgen indes eigenständige landesrechtliche Erstattungsnorm handelt, die - um die vollständige Kostenerstattung zu gewährleisten - gerade diejenigen Fallgruppen abdecken soll, die bundesrechtlich von der Kostenerstattungspflicht nicht erfasst waren, zeigte sich insbesondere bei der Ergänzung von Art. 7 AufnG durch Art. 7 Abs. 3 AufnG durch das Gesetz zur Ausführung des Berufsbildungsgesetzes und des Aufnahmegesetzes 2012. Nachdem die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung den Kostenerstattungsanspruch nach Art. 7 Abs. 1 AufnG, Art. 8 AufnG als vorrangig gegenüber dem bundesrechtlichen Erstattungsanspruch aus § 89d Abs. 1 SGB VIII angesehen hatte, führte dies zu Nachteilen beim bundesweiten Belastungsausgleich nach § 89d Abs. 3 SGB VIII a.F. Als Konsequenz hat der Landesgesetzgeber durch die Einfügung von Art. 7 Abs. 3 AufnG den Nachrang der landesgesetzlichen Erstattungsregelung gesetzlich festgeschrieben (vgl. hierzu und zum Folgenden LT-Drucks. 16/12538 vom 15.5.2012). Danach „sind die Leistungen der Jugendhilfe nach dem SGB VIII für die unbegleiteten minderjährigen Personen im Sinne des Art. 1 AufnG in Bayern, wenn sowohl die Voraussetzungen des § 89d SGB VIII als auch die der Art. 7 und 8 AufnG gegeben sind, über das Kostenausgleichsverfahren nach dem SGB VIII zu erstatten. Nur wenn die Voraussetzungen nach § 89d SGB VIII nicht gegeben sind, greift die Kostenerstattung nach Art. 7 und 8 AufnG“ (LT-Drucks. 16/12538, S. 5; Hervorhebung durch den Senat).
46
Aus der komplementären Funktion der Kostenerstattungsregelung der Art. 7 und 8 AufnG, durch die die volle Erstattung der Jugendhilfekosten bei unbegleiteten minderjährigen Ausländern durch den Freistaat Bayern sichergestellt werden sollte, folgt jedoch zwangsläufig, dass die Tatbestandvoraussetzungen des § 89d SGB VIII - also der zeitliche Zusammenhang zwischen unbegleiteter Einreise und Jugendhilfegewährung - ebenso wie das Entfallen des Kostenerstattungsanspruchs nach dreimonatiger Unterbrechung der Jugendhilfegewährung gerade nicht implizite Tatbestandsvoraussetzungen des Erstattungsanspruchs aus Art. 7 Abs. 1 AufnG sein können. Andernfalls ließe sich der Regelungszweck der Art. 7, 8 AufnG - die Anordnung einer vollständigen Kostenerstattungspflicht für Jugendhilfekosten - nicht erreichen. Der vom Beklagten im vorliegenden Verfahren wiederholt postulierte „Gleichklang“ von § 89d SGB VIII und Art. 7 Abs. 1 AufnG steht demnach im Widerspruch zum systematischen Verhältnis von bundes- und landesrechtlicher Erstattungsregelung und zur Intention des Landesgesetzgebers. Bei Art. 7 Abs. 1 AufnG handelt es sich daher um eine eigenständige, gerade nicht an die Tatbestandsmerkmale der bundesrechtlichen Norm des § 89d SGB VIII gebundene Erstattungsvorschrift.
47
2.3.3 Hieran ändert entgegen der Ansicht des Beklagten auch die bundesrechtliche Einführung der vorläufigen Inobhutnahme und des sich daran anschließenden Verteilungsverfahrens für unbegleitete minderjährige Ausländer nach §§ 42a ff. SGB VIII mit Wirkung zum 1. November 2015 sowie die hieran anknüpfende Änderung des Gesetzes zur Ausführung der Sozialgesetze und des Aufnahmegesetzes vom 5.12.2017 (GVBl. 534 ff.) nichts. Zwar wurde insoweit bundesrechtlich das bisherige Kostenverteilungsverfahren nach § 89d Abs. 3 SGB VIII a.F. durch das Verfahren der vorläufigen Inobhutnahme und der anschließenden Verteilung der unbegleiteten minderjährigen Ausländer nach §§ 42a ff. SGB VIII ersetzt. Gleichwohl erfolgte in diesem Kontext keine Änderung von § 89d Abs. 1 SGB VIII (zur insoweit angeblich „gewandelten Auslegung“ der Bestimmung vgl. nachfolgend 2.3.4), sodass, ungeachtet des jeweils Kostenerstattungspflichtigen, die verschiedenen Fallgruppen, bei denen keine Kostenerstattung geleistet wird - „schuldlose“ Nichteinhaltung der Frist des § 89d Abs. 1 Satz 2 SGB VIII, nachträgliches „Unbegleitetwerden“, erneutes Auftreten eines Jugendhilfebedarfs nach mehr als dreimonatiger Unterbrechung - nach wie vor bestehen geblieben sind (vgl. hierzu etwa Bohnert/Stähr in Hauck/Noftz, SGB VIII, Stand September 2020, § 89d Rn. 11a; Kunkel/Pattar in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 89d Rn. 12). Folglich ist ausgehend von der beabsichtigten vollständigen Freistellung der öffentlichen Jugendhilfeträger von den Jugendhilfekosten unbegleiteter minderjähriger Ausländer weder der Anwendungsbereich noch der Regelungszweck von Art. 7 Abs. 1 AufnG durch die Gesetzesänderung entfallen.
48
Demzufolge hat der Landesgesetzgeber durch das Gesetz zur Ausführung der Sozialgesetze und des Aufnahmegesetzes vom 5.12.2017 (GVBl. 534 ff.) auch lediglich den Anwendungsbereich von Art. 7 Abs. 1 AufnG durch Einfügung von Art. 10a Abs. 2 AufnG auf vor dem 1. Januar 2018 entstandene Jugendhilfekosten beschränkt. Wenn die Gesetzesbegründung (vgl. LT-Drucks. 17/15589, S. 10 f.) gleichwohl - ohne dass dies Ausdruck im Normtext gefunden hätte - postuliert, dass nach der Abschaffung des bundesweiten Kostenverteilverfahrens kein Erfordernis einer subsidiären landesrechtlichen Kostenerstattung mehr bestehe und der „häufige Anwendungsfall der subsidiären Kostenerstattung nach Art. 7 Abs. 1 AufnG“ der unverschuldeten Versäumnis der Monatsfrist des § 89d Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII durch eine angebliche Änderung der „herrschenden Rechtsauffassung“ nicht mehr auftreten könne, da maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die Ausschlussfrist nunmehr die Kenntnis des Jugendamts von der unbegleiteten Einreise sein soll, ist dies nicht nachvollziehbar, da die behauptete Änderung der „herrschenden Rechtsauffassung“ zur Frist des § 89d Abs. 1 Satz 2 SGB VIII sich als unbeachtliche und gegen die eindeutige gesetzliche Regelung verstoßende Verwaltungsauffassung erweist und es - wie insbesondere das vorliegende Verfahren zeigt - nach wie vor neben dem geschilderten „häufigen Anwendungsfall“ der schuldlosen Fristversäumnis weitere Fallkonstellationen gibt, in denen der subsidiäre Kostenerstattungsanspruch eingreifen muss, will man die Jugendhilfeträger von den Jugendhilfekosten unbegleiteter minderjähriger Ausländer freistellen. Die Notwendigkeit einer einschränkenden Auslegung von Art. 7 Abs. 1 AufnG im „Gleichklang“ mit § 89d SGB VIII lässt sich demzufolge auch nicht mit der Änderung des bundesweiten Verteilverfahrens für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und der nachfolgenden Änderung des Aufnahmegesetzes begründen.
49
2.3.4 Entgegen der Auffassung des Beklagten lässt sich eine einschränkende Auslegung von Art. 7 Abs. 1 AufnG auch nicht aus dem gewandelten Kontext der Erstattungsregelungen, der Dynamik der Rechtsentwicklung sowie der „inneren Kohärenz“ der Erstattungsregelungen herleiten, nach denen angeblich der Bedarf für eine subsidiäre landesrechtliche Kostenerstattungsregelung entfallen sein soll.
50
Als rechtssystematisch verfehlt erweist sich dabei bereits der Ausgangspunkt, wonach § 89d Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 SGB VIII nunmehr - nach angeblich „herrschender Rechtsauffassung“ - so zu lesen sein soll, dass Ausgangspunkt des Fristlaufs - „innerhalb eines Monats nach der Einreise eines jungen Menschen“ - nicht mehr die eindeutige und normenklare Regelung des § 89d Abs. 1 Satz 2 SGB VIII sein soll, sondern stattdessen die „Kenntnis des Jugendamts von der Einreise des unbegleiteten minderjährigen Ausländers“. Diese allein von der Verwaltung, insbesondere wohl des Bundesfamilienministeriums, geprägte Auffassung steht im Widerspruch zur gesetzlichen Regelung und erweist sich daher nicht nur als unverbindlich, sondern überdies, weil gegen die Gesetzesbindung der Verwaltung aus Art. 20 GG verstoßend, als rechtswidrig (so auch Kunkel/Pattar in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 89d Rn. 6, 12: „rechtswidrig“ und „contra legem“). Reine Verwaltungsanweisungen contra legem können eine Gesetzesänderung durch den hierzu allein berufenen parlamentarischen Gesetzgeber nicht ersetzen, mögen sie auch einer vorgeblichen „Verwaltungsvereinfachung“ geschuldet sein. Nachdem § 89d Abs. 1 Satz 2 SGB VIII bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt unverändert den Fristlauf für die Geltendmachung des Kostenerstattungsanspruchs nach § 89d Abs. 1 SGB VIII regelt, ist die Verwaltung verpflichtet, die geltende gesetzliche Regelung anzuwenden.
51
Mit einer normtextkonformen Anwendung von § 89d Abs. 1 SGB VIII entfällt jedoch zugleich die wiederholt vom Beklagten vorgetragene Notwendigkeit einer „gewandelten Auslegung“ von Art. 7 Abs. 1 AufnG, da der behauptete Bedeutungsverlust der subsidiären Kostenerstattungsregelung durch das Entfallen des „Hauptanwendungsfalls“ durch die „geänderte Rechtsauffassung“ zu § 89d Abs. 1 SGB VIII tatsächlich nicht eingetreten ist. Eine vermeintliche Verwaltungspragmatik vermag geltendes Recht nicht zu derogieren. Für die vom Beklagten postulierte einschränkende Auslegung von Art. 7 Abs. 1 AufnG bleibt demnach kein Raum.
52
2.3.5 Soweit sich der Beklagte schließlich auf Vollzugsbekanntmachungen, Auslegungshinweise, FAQs, „Postulationen“ und Ergebnisse von Arbeitsgruppenbesprechungen beruft, sind diese, wie das Verwaltungsgericht zutreffend herausgearbeitet hat, für die Rechtsprechung unverbindlich. Sie verstoßen, wie vorstehend dargestellt, gegen die bestehende gesetzliche Regelung und greifen somit unzulässig in die Gesetzgebungskompetenz des parlamentarischen Gesetzgebers über. Der Verwaltung steht es nicht zu, abweichend von eindeutigen Normtexten eigene Kostenerstattungsregelungen zu generieren. Sie ist vielmehr an die normativen Vorgaben des § 89d Abs. 1 SGB VIII wie auch des Art. 7 Abs. 1 AufnG gebunden.
53
Dem Kostenerstattungsanspruch der Klägerin steht daher im vorliegenden Fall auch nicht der Umstand entgegen, dass es nach der ersten Inobhutnahme von S. zu einer mehr als dreimonatigen Unterbrechung der Jugendhilfegewähr und damit zu einer Unterbrechung des Zusammenhangs zwischen Einreise und Jugendhilfegewähr gekommen ist.
54
3. Der Kostenerstattungsanspruch der Klägerin ist vorliegend auch der Höhe nach berechtigt; ebenso stehen ihr die geltend gemachten Prozesszinsen zu.
55
3.1 Nach Art. 8 Abs. 1 Satz 1 AufnG erstattet der Staat unter Anderem den kreisfreien Gemeinden die unter Beachtung der Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit notwendigen Kosten der nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch - Kinder und Jugendhilfe - für Personen im Sinne von Art. 7 erbrachten Leistungen.
56
Insoweit hat die Klägerin ausweislich des dem Senat vorliegenden Jugendhilfeakts die für die Unterbringung von S. in der Kinderschutzstelle bzw. der Kindernotwohnung im Zeitraum zwischen dem 15. Februar 2016 und dem 3. Juli 2016 aufgewandten Kosten tabellarisch aufgelistet. In der Jugendhilfeakte finden sich weiterhin die entsprechenden monatlichen Abrechnungen. Angesichts dessen sieht der Senat die Höhe der klageweise geltend gemachten Kosten von 33.341,40 € als nachgewiesen an. Soweit der Beklagte in der Berufungserwiderung darauf hinweist, „dass die Höhe der Kosten mangels Prüfung nicht unstreitig“ sei, erweist sich dieses Vorbringen demgegenüber als unsubstantiiert. Anhaltspunkte dafür, dass bei der Unterbringung S.s die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit nicht beachtet worden wären, trägt der Beklagte weder vor noch sind sie sonst aus dem Sachverhalt ersichtlich.
57
3.2 Der Anspruch auf die von der Klägerin ausdrücklich geltend gemachten Prozesszinsen folgt aus § 291 BGB analog; ihre Höhe bestimmt sich nach § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB.
58
4. Die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen trägt nach § 154 Abs. 1 VwGO der Beklagte. Der Streitwert bemisst sich für das Berufungsverfahren nach §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 52 Abs. 3 Satz 1 GKG. Die vorläufige Vollstreckbarkeit bestimmt sich nach § 173 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit §§ 709 Satz 1, 712 Abs. 1 ZPO.
59
5. Gründe, nach § 132 Abs. 2 VwGO die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich.