Titel:
zur richterlichen Überzeugungsbildung
Normenketten:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1
AufenthG § 31
Leitsatz:
Wird eine fehlerhafte Überzeugungsbildung des Verwaltungsgerichts gerügt, genügt für den Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO allein der Vortrag, die Tatsachen seien anders als vom Verwaltungsgericht angenommen oder der Sachverhalt sei anders zu bewerten, nicht; vielmehr müssen Gründe dafür aufgezeigt werden, dass die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Überzeugungsbildung fehlerhaft ist, etwa weil das Verwaltungsgericht entscheidungserheblich von einem unzutreffenden bzw. auch unzureichend ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist oder die Beweiswürdigung gedankliche Lücken oder Ungereimtheiten aufweist. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
selbständiges Aufenthaltsrecht des Ehegatten nach Beendigung der Ehe, (keine) durchgreifenden Rügen gegen tatrichterliche Würdigung des Verwaltungsgerichts zum Nichtbestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft, Aufenthaltserlaubnis, eheliche Lebensgemeinschaft
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 21.06.2022 – M 2 K 21.3304
Fundstelle:
BeckRS 2022, 31529
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.
Gründe
1
Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Verpflichtungsklage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 31 AufenthG weiter.
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet, weil sich aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag weder die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (1.) noch ein (der Sache nach) geltend gemachter Verfahrensmangel im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO (2.) ergeben.
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1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 - 1 BvR 814/09 - juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 - 1 BvR 2453/12 - juris Rn. 16). Die von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO geforderte Darlegung dieses Zulassungsgrundes erfordert eine konkret fallbezogene und hinreichend substantiierte Auseinandersetzung mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung; es muss dargelegt werden, dass und weshalb das Verwaltungsgericht entscheidungstragende Rechts- und Tatsachenfragen unrichtig entschieden hat (BayVGH, B.v. 29.4.2020 - 10 ZB 20.104 - juris Rn. 3), wobei „darlegen“ schon nach allgemeinem Sprachgebrauch mehr als lediglich einen allgemeinen Hinweis bedeutet; „etwas darlegen“ bedeutet vielmehr so viel wie „erläutern“, „erklären“ oder „näher auf etwas eingehen“ (BVerwG, B.v. 9.3.1993 - 3 B 105.92 - juris Rn. 3 m.w.N.).
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Gemessen daran zeigt das Zulassungsvorbringen keine ernstlichen Zweifel auf. Das Verwaltungsgericht hat einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 31 AufenthG mit der Begründung abgelehnt, es habe nicht die Überzeugung gewinnen können, dass der Kläger jemals in einer ehelichen Gemeinschaft mit seiner Ehefrau gelebt habe. Darauf, dass die Strafverfolgungsbehörden bei einer früheren, punktuellen Überprüfung aufgrund des Verdachtes des Erschleichens eines Aufenthaltstitels keine den Kläger belastenden Umstände gefunden hätten, komme es nicht entscheidungserheblich an. Die Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung zum Bestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft seien auch unter Berücksichtigung der bedenklich langen Dauer des Verwaltungsverfahrens knapp, einsilbig und stereotyp gewesen. Der Kläger sei nicht in der Lage gewesen, das Eheleben auch nur geringfügig plastisch und detailreich zu beschreiben.
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Dem hält der Kläger im Grunde nur entgegen, dass das Verwaltungsgericht dem Ermittlungsergebnis der Polizeibehörden und der nachfolgenden Einstellung des Ermittlungsverfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO nicht ausreichend Rechnung getragen habe. Es sei erstaunlich, dass das Verwaltungsgericht nach so vielen Jahren den Polizeibehörden unzureichende Ermittlungen unterstelle. Diese Einwände greifen nicht durch.
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Ob und ggf. wie lange zwischen einem Ausländer und seinem Ehegatten eine eheliche Lebensgemeinschaft bestand, entscheidet das Gericht gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Es ist bei der Würdigung aller erheblichen Tatsachen frei. Soweit eine fehlerhafte Überzeugungsbildung des Verwaltungsgerichts gerügt wird, genügt für den Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO allein der Vortrag, die Tatsachen seien anders als vom Verwaltungsgericht angenommen oder der Sachverhalt sei anders zu bewerten, nicht. Mit Einwänden gegen die freie, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnene richterliche Überzeugung wird die Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts erst dann in Frage gestellt, wenn Gründe dafür aufgezeigt werden, dass die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Überzeugungsbildung fehlerhaft ist, etwa weil das Verwaltungsgericht entscheidungserheblich von einem unzutreffenden bzw. auch unzureichend ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist oder die Beweiswürdigung gedankliche Lücken oder Ungereimtheiten aufweist (BayVGH, B.v. 13.1.2020 - 10 ZB 19.1599 - juris Rn. 7). Letzteres ist insbesondere bei einer Verletzung von Denkgesetzen oder allgemeinen Erfahrungssätzen, gegebenenfalls heranzuziehenden gesetzlichen Beweisregeln oder sachwidriger Beweiswürdigung anzunehmen (BayVGH, B.v. vom 25.10.2017 - 5 ZB 17.340 - juris Rn. 39; OVG Bln-Bbg, B.v. 29.9.2017 - OVG 5 N 40.16 - juris Rn. 9). Derartige Mängel zeigt die Begründung des Zulassungsantrags jedoch nicht auf. Insbesondere schildert der Kläger keinerlei Umstände, die trotz der von ihm nicht substantiiert angegriffenen Würdigung seiner Angaben zum Eheleben als vage, pauschal und stereotyp für die Annahme einer tatsächlich gelebten ehelichen Gemeinschaft sprächen. Allein der Umstand, dass die Strafverfolgungsbehörden zu einem bestimmten Zeitpunkt keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Fortführung des Ermittlungsverfahrens gefunden haben, ersetzt nicht die Darlegung der Voraussetzungen für das (Fort-)Bestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft.
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2. Auch zeigt das Zulassungsvorbringen keinen Verfahrensfehler i.S.v. § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO auf. Der Vortrag, aufgrund der mündlichen Verhandlung sei es ohne einen richterlichen Hinweis nicht absehbar gewesen, dass das Verwaltungsgericht davon ausgehen könnte, dass die eheliche Lebensgemeinschaft zu gar keinem Zeitpunkt bestanden hätte, weil lediglich über den Zeitpunkt ihrer Beendigung gestritten worden sei, greift nicht durch.
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Ein vom Kläger damit der Sache nach gerügter Gehörsverstoß durch eine Überraschungsentscheidung bzw. ein Verstoß gegen die gerichtliche Hinweispflicht liegen offensichtlich nicht vor. Eine Überraschungsentscheidung ist gegeben, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte. In jedem Fall muss die angegriffene gerichtliche Entscheidung auf dem geltend gemachten Gehörsverstoß beruhen, mithin ursächlich sein (vgl. BVerfG, B.v. 19.5.1992 - 1 BvR 986/91 - juris Rn. 36, 39 u. 41).
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Die Darstellung des Klägers, es habe während des erstinstanzlichen Verfahrens zu keinem Zeitpunkt im Raum gestanden, die eheliche Lebensgemeinschaft habe überhaupt nicht bestanden, trifft offensichtlich nicht zu. Nach dem Protokoll über die mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 21. Juni 2022 trugen die Beteiligten auf Bitte des Gerichts „jeweils ihre Sichtweise zu der Frage, ob der Kläger zwischen 2012 und 2015 eine eheliche Lebensgemeinschaft mit seiner damaligen Ehefrau (…) geführt hat oder nicht“, vor. Da eine eheliche Lebensgemeinschaft aufgrund der Eheschließung im Jahr 2012 und des Wegzugs der Ehefrau nach Österreich im Jahr 2015 ausschließlich in der dazwischenliegenden Zeit bestanden haben kann, war die Frage, ob überhaupt eine eheliche Lebensgemeinschaft bestand, offensichtlich ausdrücklich Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Eines nochmaligen bzw. gesonderten ausdrücklichen Hinweises des Gerichts bedurfte es damit nicht.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).