Titel:
Verlust des Rechts auf Freizügigkeit, Abreißen der Integrationsbande durch Inhaftierung
Normenkette:
FreizügG/EU § 6 Abs. 1 bis 3 und 5
Schlagworte:
Verlust des Rechts auf Freizügigkeit, Abreißen der Integrationsbande durch Inhaftierung
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 05.07.2022 – M 2 K 19.1392
Fundstelle:
BeckRS 2022, 31528
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.
Gründe
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Der Kläger, ein 1998 geborener polnischer Staatsangehöriger, verfolgt mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung seine in erster Instanz erfolglose Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 22. Februar 2019, mit dem u.a. der Verlust des Rechts des Klägers auf Einreise und Aufenthalt festgestellt wurde, weiter.
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Mit dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag sind weder die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, noch eine Divergenz im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO dargelegt (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO).
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1. Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Solche Zweifel bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 - 1 BvR 814/09 - juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 - 1 BvR 2453/12 - juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.
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Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, die Verlustfeststellung sei rechtmäßig. Auf den besonderen Schutz des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU könne sich der Kläger, der nach einer einschlägigen Bewährungsstrafe zuletzt mit Urteil des Landgerichts Landshut vom 20. Juli 2018 wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 28 tatmehrheitlichen Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Jugendstrafe von vier Jahren und vier Monaten verurteilt worden war, nicht berufen, da die Kontinuität seiner Integration aufgrund der Inhaftierung im November 2017 abgerissen sei. Beruflich, sozial und wirtschaftlich sei der Kläger zum Zeitpunkt seiner Verhaftung nicht integriert gewesen. Er habe keine Ausbildung abgeschlossen, keine nennenswerte legale Berufstätigkeit ausgeübt, seit dem 13. bzw. 14. Lebensjahr kontinuierlich Betäubungsmittel konsumiert und sich früh nachhaltig dem Drogenhandel verschrieben. Er sei mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten, eine strafrechtliche Vorverurteilung sei ohne Wirkung geblieben. Die Anlasstat habe der Kläger unter offener, einschlägiger Bewährung begangen. Das Verhalten des Klägers stelle eine schwerwiegende und gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung dar, die Grundinteressen der Gesellschaft berühre. Vom ihm gehe auch gegenwärtig eine Wiederholungsgefahr aus. Die Entscheidung der Beklagten sei verhältnismäßig und ermessenfehlerfrei.
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Das Zulassungsvorbringen des Klägers, das sich allein gegen die Annahme des Verwaltungsgericht richtet, der Kläger könne sich nicht auf den besonderen Schutz des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU berufen, greift nicht durch.
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Der besondere Ausweisungsschutz in § 6 Abs. 5 FreizügG/EU für Unionsbürger, die sich seit 10 Jahren im Bundesgebiet aufhalten, setzt Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der RL 2004/38/EG in nationales Recht um. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union können Zeiträume der Verbüßung einer Haftstrafe grundsätzlich die Kontinuität des Aufenthalts im Sinne von Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der RL 2004/38/EG unterbrechen (EuGH, U.v. 16.1.2014 - C-400/12 - juris Rn. 33 und 36; s. auch BayVGH, U.v. 29.1.2019 - 10 B 18.1094 - juris Rn. 40; B.v. 18.3.2015 - 10 C 14.2655 - juris Rn. 25). Allerdings ist zum „Zwecke der Feststellung, ob sie damit zu einem Abreißen des zuvor geknüpften Bandes der Integration zum Aufnahmemitgliedstaat dergestalt geführt haben, dass der Betroffene nicht mehr in den Genuss des durch diese Bestimmung verbürgten verstärkten Schutzes kommen kann, (…) aber gleichwohl eine umfassende Beurteilung der Situation des Betroffenen zu dem genauen Zeitpunkt vorzunehmen, zu dem sich die Frage der Ausweisung stellt. Im Rahmen dieser umfassenden Beurteilung sind die Zeiträume der Verbüßung einer Haftstrafe zusammen mit allen anderen Anhaltspunkten zu berücksichtigen, die die Gesamtheit der im Einzelfall relevanten Gesichtspunkte ausmachen (…); zu diesen Gesichtspunkten gehören insbesondere die Stärke der vor der Inhaftierung des Betroffenen zum Aufnahmemitgliedstaat geknüpften Integrationsbande, die Art der die verhängte Haft begründenden Straftat und die Umstände ihrer Begehung sowie das Verhalten des Betroffenen während des Vollzugs“ (vgl. EuGH, U.v. 17.4.2018 - C-316/16 und C-424/17 - juris Rn. 70, 83). Dabei geht der Gerichtshof der Europäischen Union davon aus, „dass, je fester diese Integrationsbande zu dem besagten Staat insbesondere in gesellschaftlicher, kultureller und familiärer Hinsicht sind - in einem Maße beispielsweise, dass sie zu einer echten Verwurzelung in der Gesellschaft dieses Staates geführt haben, (…) -, umso geringer die Wahrscheinlichkeit sein wird, dass eine Verbüßung einer Freiheitsstrafe zu einem Abreißen der Integrationsbande und damit zu einer Diskontinuität des Aufenthalts von zehn Jahren im Sinne des Art. 28 Abs. 3 Buchst. a RL 2004/38/EG geführt haben kann“ (EuGH, a.a.O. Rn. 72).
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Der Kläger rügt, das Verwaltungsgericht habe bei der Prüfung des besonderen Schutzes aus § 6 Abs. 5 FreizügG/EU die maßgeblichen Gesichtspunkte außer Acht gelassen. So habe das Verwaltungsgericht verkannt, dass der Kläger eine Jugendstrafe erhalten habe. Es seien Reifeverzögerungen und jugendtypisches Verhalten festgestellt worden. Zudem sei die Unterbringung im Maßregelvollzug angeordnet worden sei. Der Maßregelvollzug lasse die Aufrechterhaltung sozialer Bindungen in weit höherem Maße zu als der Strafvollzug. Dies gelte insbesondere für die Einrichtung, in der der Kläger untergebracht sei. Das Verwaltungsgericht habe auch nicht erwogen, dass der Kläger im Alter von ca. vier Jahren nach Deutschland gekommen und er ausschließlich vom Leben in Deutschland geprägt sei. Seine gesamte Familie sowie seine Freundin bzw. Verlobte lebten in Deutschland. Der gesamte Schulbesuch habe in Deutschland stattgefunden, nähere Kontakte nach Polen bestünden überhaupt nicht. Davon zu sprechen, dass der Kläger in Deutschland nicht integriert sei, sei „schlichtweg abwegig“. Ausschlaggebendes Kriterium bei der Beurteilung müsse zum einen das Lebensalter des Klägers sein, zum anderen der Anteil an der Gesamtlebenszeit, die er in Deutschland verbracht habe. Dabei sei insbesondere der Gesamtzeitraum des Heranwachsens und Erwachsenwerdens, also der gesamten Persönlichkeitsentwicklung, die in Deutschland stattgefunden hatte, von Bedeutung. In sozialer und humanitärer Hinsicht sei der Kläger faktisch Deutscher. All dies möge im Ergebnis „nicht zwingend verhindern, dass § 6 Abs. 5 FreizügG/EU keine Anwendung findet“. Die genannten Umstände hätten aber berücksichtigt werden müssen, was nicht geschehen sei.
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Damit legt das Zulassungsvorbringen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung dar. Die erforderliche umfassende Würdigung des Einzelfalls hat das Verwaltungsgericht durchgeführt. Dass ihm dabei Rechtsfehler unterlaufen wären, zeigt das Zulassungsvorbringen nicht substantiiert auf.
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Das Verwaltungsgericht hat im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU, anders als vom Zulassungsvorbringen behauptet, berücksichtigt, dass sich der Kläger seit zwanzig Jahren im Bundesgebiet aufhält (S. 10 des UA Rn. 28). Zudem hat es - allerdings im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung (S. 19 f. des UA Rn. 19 f.) - geprüft, ob es sich beim Kläger um einen faktischen Inländer handelt, dies aber mit Blick auf die allenfalls schwache Verwurzelung in Deutschland verneint. Die Annahme des Klägers, entscheidend sei der auch anteilig besonders lange Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet zu berücksichtigen gewesen, greift dabei nicht durch. Bei der erforderlichen Gesamtschau, ob die Integrationsbindungen durch eine Inhaftierung abgerissen sind, ist die Dauer des Aufenthalts im Aufnahmeland zwar zu berücksichtigen. Der Gerichtshof der Europäischen Union betont indes, dass es für die Feststellung eines kontinuierlichen Integrationszusammenhangs nicht nur auf territoriale und zeitliche Faktoren, sondern auch auf qualitative Elemente ankommt (BayVGH, B.v. 21.1.2020 - 10 ZB 19.2250 - juris Rn. 6 unter Verweis auf EuGH, U.v. 16.1.2014 - C-378/12 - juris Rn. 25 und 26; U.v. 16.1.2014 - C-400/12 - juris Rn. 31 f.; U.v. 17.4.2018 - C-316/16 u.a. - juris Rn. 58 f.). Diese qualitativen Faktoren hat das Verwaltungsgericht im Falle des Klägers ausführlich gewürdigt und festgestellt, dass angesichts der gegen gewichtige Integrationsverbindungen sprechenden Umstände (u.a. fehlende Berufungsausbildung, allenfalls sporadische Erwerbstätigkeit, keine eigene Kernfamilie, sehr früher Betäubungsmittelmissbrauch und frühe Hinwendung zum Drogenhandel sowie Art, Umfang und Häufigkeit der Straftaten) alleine der lange Aufenthalt im Bundesgebiet nicht zu der Annahme führe, dass die Integrationsbande trotz der Inhaftierung fortbestünden (S. 11 des UA Rn. 30). Mit dieser eingehenden tatrichterlichen Würdigung (§ 108 Abs. 1 VwGO) setzt sich das Zulassungsvorbringen nicht substantiiert auseinander. Soweit der Kläger darauf verweist, dass er nach Jugendstrafrecht verurteilt wurde und sich im Maßregelvollzug befinde, fehlt es an einem konkreten Vortrag dazu, inwiefern sich diese Umstände positiv auf die Gesamtbeurteilung der Integrationsverbindungen durch das Verwaltungsgericht hätten auswirken sollen. Wenn der Kläger bereits als Heranwachsender zu einer sehr hohen Jugendstrafe verurteilt wurde, spricht dies eher gegen gewichtige Integrationsverbindungen als für sie. Dass der Maßregelvollzug im Vergleich zum Strafvollzug grundsätzlich bessere Möglichkeiten der Aufrechterhaltung sozialer Bindungen bietet, mag zutreffen. Der Kläger ist jedoch noch im Maßregelvollzug hinsichtlich des Betäubungsmittelkonsums mehrfach rückfällig geworden, sodass nicht ersichtlich (und auch nicht vorgetragen) ist, dass er die besseren Möglichkeiten des Maßregelvollzugs in einer für die Gesamtbeurteilung positiven Weise genutzt hätte.
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2. Auch eine Abweichung des erstinstanzlichen Gerichts von obergerichtlicher Rechtsprechung (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) ist nicht hinreichend dargelegt und liegt auch nicht vor.
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Die Darlegung einer Divergenz erfordert, dass ein inhaltlich bestimmter, die angefochtene Entscheidung tragender Rechts- oder Tatsachensatz bezeichnet wird, mit dem die Vorinstanz von einem in der Rechtsprechung eines übergeordneten Gerichts aufgestellten ebensolchen entscheidungstragenden Rechts- oder Tatsachensatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift abgewichen ist. Die divergierenden Sätze sind einander so gegenüberzustellen, dass die Abweichung erkennbar wird (stRspr, vgl. BayVGH, B.v. 22.3.2019 - 10 ZB 18.2598 - juris Rn. 18; B.v. 18.4.2019 - 10 ZB 18.2660 - juris Rn. 9 m.w.N.). Es genügt nicht, wenn in der angegriffenen Entscheidung ein in der Rechtsprechung der übergeordneten Gerichte aufgestellter Grundsatz lediglich übersehen, übergangen oder in sonstiger Weise nicht richtig angewandt worden ist (BVerwG, B.v. 20.7.2016 - 6 B 35.16 - juris Rn. 12 m.w.N).
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Gemessen daran zeigt das Zulassungsvorbringen eine entscheidungserhebliche Divergenz nicht auf. Der Kläger rügt, das Verwaltungsgericht habe angenommen, Zeiträume der Verbüßung einer Haftstrafe als solche „unterbrächen grundsätzlich“ die Kontinuität des Aufenthalts im Sinne des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU und sei damit von einer Entscheidung des Senats (BayVGH, U.v. 29.1.2019 - 10 B 18.1094 - juris Rn. 40) abgewichen, nach der die Integrationsverbindungen durch die Verbüßung einer mehrjährigen Freiheitsstrafe „abreißen können“. Damit zeigt er jedoch keine Divergenz im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO auf. Beide Formulierungen werden vom Gerichthof der Europäischen Union nebeneinander verwendet (vgl. EuGH, U.v. 16.1.2014 - C-400/12 - juris Rn. 33 einerseits und Rn. 36 andererseits). Mit ihnen trifft der EuGH dabei keine Aussage zum Bestehen oder Nicht-Bestehen eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses. Entscheidend ist vielmehr - worauf auch das Verwaltungsgericht hinweist - eine umfassende Einzelfallprüfung (EuGH, U.v. 16.1.2014 - C-400/12 - juris Rn. 33; vgl. zum Ganzen auch BayVGH, B.v. 16.12.2021 - 10 ZB 21.1491 - juris Rn. 15 m.w.N.). Eine solche hat das Verwaltungsgericht vorgenommen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).