Inhalt

VG München, Urteil v. 05.07.2022 – M 2 K 19.5156
Titel:

keine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis

Normenketten:
AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, § 27 Abs. 3 S. 2, § 28 Abs. 2 S. 3, § 54 Abs. 2 Nr. 8 lit. a Nr. 9
StGB § 78 Abs. 3
Leitsätze:
1. Für das Vorliegen eines Ausweisungsinteresses iSv § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG kommt es nicht darauf an, dass der Ausländer tatsächlich ausgewiesen werden kann; es genügt vielmehr schon, wenn ein Ausweisungsinteresse nach seinen tatbestandlichen Voraussetzungen vorliegt, wie es insbesondere im Katalog des § 54 AufenthG normiert ist. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
2. Wer im Verfahren zur Erlangung eines deutschen Aufenthaltstitels falsche oder unvollständige Angaben macht, verstößt gegen seine Verpflichtung, wahrheitsgemäße Angaben zu machen und verwirklicht somit ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine vorsätzlich begangene Straftat stellt grundsätzlich keinen geringfügigen Rechtsverstoß dar.  (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Algerischer Staatsangehöriger, Keine Aufenthaltserlaubnis wegen Ausweisungsinteresse, Falschangaben, Straffälligkeit, Kein eine Abweichung von der Regelerteilungsvoraussetzung begründender Ausnahmefall, Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis, wahrheitsgemäße Angaben, schwerwiegendes Ausweisungsinteresse, generalpräventives Ausweisungsinteresse
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 04.01.2023 – 10 ZB 22.2523
Fundstelle:
BeckRS 2022, 31473

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen den Bescheid der Beklagten vom 11. September 2019, mit dem diese seinen Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ablehnt (Nr. 1), den Aufenthalt des Klägers, wenn das Bundesgebiet nicht freiwillig verlassen wird, auf das Gebiet der Länder Bayern, Sachsen und Thüringen beschränkt (Nr. 2) und den Kläger zur Abgabe seiner Fiktionsbescheinigung verpflichtet (Nr. 3). Der Kläger begehrt die Aufhebung des Bescheids und die Verpflichtung der Beklagten zur Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis entsprechend seinem Antrag vom 13. März 2018.
2
Der Kläger ist am … November 1973 geboren und algerischer Staatsangehöriger. Er reiste nach eigener Angabe erstmals am 9. Dezember 2001 in das Bundesgebiet ein. Bei seiner Anhörung im Asylverfahren gab er an, kein Visum oder sonstiges Dokument für die Einreise in die Bundesrepublik oder ein anderes Land zu besitzen. Aus einer später vorgelegten Passkopie geht jedoch hervor, dass er für den Zeitraum vom 10. Juli 2001 bis 9. Januar 2002 im Besitz eines Schengen-Visums war. Bei seiner sicherheitsrechtlichen Befragung am 24. April 2018 gab er diesbezüglich auch an, mit seinem Pass und Visum eingereist zu sein.
3
Dem Kläger wurde zunächst eine Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender unter Aliaspersonalien, die später mehrfach korrigiert wurden, ausgestellt. Am 27. Dezember 2001 beantragte er beim damaligen Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in Chemnitz die Anerkennung als Asylberechtigter. Daraufhin wurde ihm eine Aufenthaltsgestattung ausgestellt, die zuletzt bis zum 16. Januar 2003 verlängert wurde. Der Antrag des Klägers auf Anerkennung als Asylberechtigter wurde mit Bescheid vom 24. Juni 2002 als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Es wurde festgestellt, dass die Voraussetzungen von § 51 Abs. 1 AuslG offensichtlich nicht vorliegen und auch die Voraussetzungen des § 53 AuslG nicht gegeben sind. Zugleich wurde die Abschiebung angedroht. Eine gegen den Bescheid erhobene Klage wurde wegen Verfristung als unzulässig abgewiesen. Der Bescheid wurde bestandskräftig. Das Landratsamt … (Sachsen) stellte dem Kläger ab 2. Dezember 2002 bis 16. Dezember 2003 eine Duldung aus.
4
Am 8. März 2003 heiratete der Kläger in Frankreich die deutsche Staatsangehörige … …, geb. … Die gemeinsamen Kinder … und …, beide deutsche Staatsangehörige, wurden am ... 2003 bzw. ... 2006 in … (Sachsen) geboren.
5
Am 12. Juni 2003 legte der Kläger bei der Ausländerbehörde in … (Sachsen) seinen algerischen Nationalpass vor. Am 15. Juli 2003 beantragte er die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung zum Familiennachzug, die am 31. Juli 2003 gemäß § 23 AuslG i.V.m. § 9 DVAuslG erteilt und in der Folgezeit verlängert wurde, ab dem 1. Juni 2006 gemäß § 28 Abs. 2 Satz 3, Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, zuletzt bis zum 22. Februar 2010.
6
Seit dem 7. Oktober 2008 lebte der Kläger von seiner Frau getrennt und ist jedenfalls seit 2014 von ihr geschieden. Deshalb wurde seine Aufenthaltserlaubnis ab dem 5. Oktober 2010 gemäß § 28 Abs. 2 Satz 3, Abs. 1 Nr. 3 AufenthG verlängert, zuletzt bis zum 17. März 2018. Aufgrund seiner Straffälligkeit (vgl. sogleich Rn. 9) wurde der Kläger am 22. Januar 2012 verwarnt.
7
Zuletzt beantragte der Kläger am 13. März 2018 erneut die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis. Dabei gab er in dem Antragsformular an, dass er bisher strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten sei und auch kein Ermittlungsverfahren gegen ihn laufe, obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits wegen Gewaltdarstellung gegen ihn ermittelt wurde und er in dieser Sache auch schon als Beschuldigter vernommen worden war. Nach Antragstellung wurde dem Kläger eine Fiktionsbescheinigung ausgestellt.
8
Vom 1. Oktober 2015 bis 31. Oktober 2017 bezog der Kläger Arbeitslosengeld II. Danach ging er einer Erwerbstätigkeit nach; er arbeitete für einen Fisch-Großhändler als Fahrer und zuletzt bis Dezember 2021 für eine Firma, die Wasser- und Brandschäden saniert. Derzeit ist der Kläger arbeitslos. Der Kläger zahlte zwischenzeitlich ab Juli 2019 Unterhalt für seine beiden Kinder. Wegen seiner Arbeitslosigkeit ist es ihm derzeit nicht möglich, für seine noch minderjährige Tochter Unterhalt zu leisten; für sie werden staatliche Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz erbracht. Es bestehen zudem Unterhaltsrückstände. Das Sorgerecht für die Tochter steht beiden Elternteilen gemeinsam zu und wird durch den Kläger auch ausgeübt. Der Kläger hat regelmäßig Kontakt zu seinen beiden Kindern, obwohl diese in … in Sachsen leben. Der Kontakt besteht durch gegenseitige Besuche und tägliche Telefonate über WhatsApp. Zudem verbrachte der Kläger mit seinen Kindern bis 2019 gemeinsame Urlaube in Algerien.
9
Strafrechtlich trat der Kläger seit dem Jahr 2002 mehrfach in Erscheinung. Unter anderem wurde er 2002 wegen Diebstahls zu einer Geldstrafe (15 Tagessätze) und 2003 wegen Verstoßes gegen das Aufenthaltsgesetz ebenfalls zu einer Geldstrafe (90 Tagessätze) verurteilt. 2009 wurde gegen ihn ein Strafbefehl wegen Körperverletzung mit einer Geldstrafe (30 Tagessätze) erlassen. 2012 wurde er wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren auf Bewährung verurteilt; diese Strafe wurde am 4. Juni 2015 erlassen.
10
Am 27. November 2017 wurde gegen den Kläger ein Strafbefehl mit einer Gesamtgeldstrafe in Höhe von 90 Tagessätzen, Einzelstrafen 75 bzw. 50 Tagessätze (später durch Urteil vom 21. März 2018 bezüglich der Tagessatzhöhe angepasst) wegen Gewaltdarstellung und vorsätzlichen Besitzes einer verbotenen Waffe erlassen. Dem lag zugrunde, dass der Kläger am 24. November 2016 ein jihadistisches Propagandavideo mit gewaltverherrlichendem Inhalt an einen damals 15-Jährigen verschickte und am 13. Juli 2017 ein Elektroimpulsgerät ohne amtliches Prüfzeichen besaß. Das von dem Kläger verschickte Video besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil werden Personen von Männern in Kampfanzügen ausgepeitscht. Im zweiten Teil werden Organe aus der Brust einer Männerleiche herausgeschnitten; anschließend beißt eine Person in eines der Organe. Im dritten Teil greifen Männer in Kampfanzügen einen auf dem Boden liegenden Mann mit Säbeln an und zertrümmern ihm schließlich den Kopf mit einem Pflasterstein. Im Hintergrund ist die Stimme eines Mannes zu hören, der in hocharabischer Sprache unter anderem zur Veröffentlichung und Verbreitung des Videos unter Muslimen aufruft.
11
Nach einer Stellungnahme des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz vom 31. Oktober 2018 besuchte der Kläger seit Ende 2017 die Freitagsgebete der El-Salam-Moschee in …, die die Behörde als salafistisch einstuft, und unterhält darüber hinaus Kontakte zu anderen Moscheebesuchern, die dem salafistischen Spektrum zuzuordnen sind. Auf Grundlage einer Gesamtschau der Erkenntnisse erhebt das Landesamt für Verfassungsschutz Sicherheitsbedenken gegen den Aufenthalt des Klägers in der Bundesrepublik.
12
Mit Bescheid vom 11. September 2019 lehnt die Beklagte den Antrag des Klägers auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ab (Nr. 1), beschränkt für den Fall, dass der Kläger das Bundesgebiet nicht freiwillig verlässt, seinen Aufenthalt auf das Gebiet der Länder Bayern, Sachsen und Thüringen (Nr. 2) und verpflichtet den Kläger zur Abgabe seiner Fiktionsbescheinigung (Nr. 3).
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Zur Begründung führt die Beklagte im Wesentlichen aus, dem Kläger könne keine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 2 Satz 3, Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG erteilt werden, da die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG nicht erfüllt seien. Denn es bestünden schwerwiegende Ausweisungsinteressen. Dies ergebe sich daraus, dass der Kläger im Rahmen des Verwaltungsverfahrens falsche oder unvollständige Angaben zur Erlangung eines deutschen Aufenthaltstitels gemacht habe, § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a AufenthG. Er habe in seiner sicherheitsrechtlichen Befragung angegeben, dass er nicht gewusst hätte, ob er das Gewaltvideo verschickt habe. Auch bei seinem Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis habe der Kläger wahrheitswidrig angegeben, dass er noch nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten sei und kein Ermittlungsverfahren gegen ihn durchgeführt werde. Weiterhin liege ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vor mit Blick auf die Straftaten des Klägers, vor allem die Gewaltdarstellung und den Verstoß gegen das Waffengesetz. Beide Straftaten seien unabhängig voneinander, sodass schon ein nicht nur vereinzelter Verstoß vorliege. Zudem seien beide Verstöße als nicht geringfügig einzuordnen. Auch das generalpräventive Ausweisungsinteresse könne im Falle des Klägers herangezogen werden; dieses liege sowohl hinsichtlich der Falschangaben als auch der strafrechtlichen Verurteilungen vor. Ein von der Regel des § 5 Abs. 1 AufenthG vorliegender Ausnahmefall sei bei dem Kläger nach umfassender Einzelfallbeurteilung nicht gegeben. Zwar sei zu berücksichtigen, dass der Kläger Vater zweier deutscher Kinder ist. Auch der lange Aufenthalt sei zugunsten des Klägers einzustellen. Allerdings stehe dem in einer Abwägung entgegen, dass der Kläger wiederholt und seit seiner Einreise nahezu kontinuierlich straffällig geworden sei und dass das Sicherheitsinteresse der Bundesrepublik Deutschland wegen der besonderen Qualität der Straftaten - vor allem der Gewaltdarstellung - in besonderem Maße berührt sei. Zugleich sei dem Kläger eine Rückkehr in sein Heimatland zuzumuten und könne der Kontakt zu seinen Kindern auch aus Algerien im Besuchswege und/oder telefonisch aufrechterhalten werden. Aus den im Wesentlichen vergleichbaren Erwägungen könne auch nicht im Wege der Ermessensentscheidung nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG von der Voraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abgesehen werden. Gleiches gelte für die Ermessenentscheidung nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG bezüglich einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Gleichwohl werde die Abschiebung vorübergehend ausgesetzt, da eine Rückführung derzeit mit Blick auf die familiäre Situation des Klägers unverhältnismäßig sei.
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Der Kläger hat mit Anwaltsschriftsatz vom 14. Oktober 2019, eingegangen bei Gericht am gleichen Tag, Klage gegen diesen Bescheid erhoben und beantragt,
15
Der Bescheid der Beklagten vom 11. September 2017 wird aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, die Aufenthaltserlaubnis des Klägers entsprechend seinem Antrag vom 13. März 2018 zu verlängern.
16
Zur Begründung wird insbesondere vorgetragen, dass der Kläger die Frage, ob er strafrechtlich in Erscheinung getreten sei, missverstanden habe. Er habe gedacht, dass sich die Frage allein auf laufende Ermittlungsverfahren beziehe. Vor diesem Hintergrund habe er mit nein geantwortet, da seine Bewährungsstrafe schon erlassen gewesen sei. Bezüglich des Versendens des Gewaltvideos habe sich der Kläger keine größeren Gedanken gemacht. Er distanziere sich von Gewalt und sei auch nie wegen eines Gewaltdelikts verurteilt worden. Hinsichtlich des Elektroimpulsgerätes habe der Kläger nicht gewusst, dass es sich um eine Waffe handele. Die Straftaten seien als nicht gewichtig einzuordnen. Eine Gefahr gehe von dem Kläger nicht aus, insbesondere sei er keinesfalls dem salafistischen Spektrum zuzuordnen. Er praktiziere den Islam nicht im Alltag, was sich daran zeige, dass er eine Nicht-Muslima geheiratet habe und seine Kinder nicht islamisch lebten. Der Kläger gehe nur gelegentlich zum Freitagsgebet, um sich mit Landsleuten auszutauschen. In der El-Salam-Moschee sei er nur einmal anlässlich eines Totengebets gewesen und habe nicht um salafistische Zusammenhänge gewusst. Weiterhin habe der Kläger ein besonderes Bleibeinteresse, da er seit langem in Deutschland lebe, gut integriert sei und sehr gut deutsch spreche. Zu seinen Kindern habe er regelmäßig Kontakt und nehme an deren Leben teil. Vor diesem Hintergrund sei im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit und der Atypik des Falles davon auszugehen, dass von dem Kläger keinerlei Gefahr ausgehe, insbesondere keine hinreichende Wiederholungsgefahr bestehe, die Straftaten gering wögen und deshalb die Aufenthaltserlaubnis zu verlängern sei.
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Mit Schriftsatz vom 27. Januar 2020 beantragt die Beklagte
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Klageabweisung.
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Zur Begründung führt sie insbesondere aus, dass die Angaben des Klägers bezüglich der Weiterleitung des Gewaltvideos insgesamt nicht glaubhaft seien; es sei nicht möglich, ein Video unwissentlich zu verschicken. Auch die Aussage in der Klagebegründung, der Kläger habe sich nie wegen eines Gewaltdelikts strafbar gemacht, sei nicht zutreffend, da er am 28. Oktober 2009 wegen Körperverletzung verurteilt worden sei. Außerdem habe der Kläger, selbst wenn man davon ausginge, dass er die Frage, ob er bereits strafrechtlich in Erscheinung getreten sei, dahingehend missverstanden habe, dass sie sich nur auf laufende Ermittlungsverfahren beziehe, dennoch falsche Angaben gemacht, da zum Zeitpunkt der Antragstellung gegen den Kläger das Ermittlungsverfahren wegen Gewaltdarstellung anhängig gewesen sei. Das Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG liege schon deshalb vor, da ein nicht nur vereinzelter Rechtsverstoß gegeben sei. Das Verhalten des Klägers über seine gesamte Aufenthaltszeit in der Bundesrepublik Deutschland zeige zudem, dass der Kläger nicht gewillt sei, sich dauerhaft rechtstreu zu verhalten. Darüber hinaus seien die Verstöße jedenfalls nicht geringfügig. Die in der Klagebegründung vorgebrachten Bleibeinteressen des Klägers seien an entsprechender Stelle im Bescheid berücksichtigt und gewürdigt worden. Zu beachten sei auch, dass die Beklagte den Kläger derzeit ohnehin nicht ausgewiesen habe. Bezüglich der Kontakte des Klägers zum salafistischen Milieu ergebe sich aus dem Bericht des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz, dass sich der Kläger spätestens seit Ende 2017 für eine gewisse Zeit in diesem Spektrum bewegt habe und entgegen seinen Angaben mehrfach die El-Salam-Moschee besucht habe.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 5. Juli 2022, die vorgelegte Behördenakte und die Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage hat keinen Erfolg, da sie zwar zulässig, aber nicht begründet ist. Der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 11. September 2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, da er keinen Anspruch auf die begehrte Entscheidung oder auf Neubescheidung hat (§ 113 Abs. 5 Satz 1 bzw. Satz 2 VwGO). Ferner sind die in dem Bescheid verfügte räumliche Beschränkung des Aufenthalts des Klägers und die Verpflichtung zur Rückgabe der Fiktionsbescheinigung rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
22
A. Ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung nach § 28 Abs. 2 Satz 3, Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG besteht nicht, da es wegen des Vorliegens eines Ausweisungsinteresses an der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG fehlt (I.), kein atypischer Fall vorliegt, der das Nichtbestehen des Ausweisungsinteresses entbehrlich macht (II.), und auch die Ermessensentscheidung der Behörde, nicht nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG von der Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abzusehen, keinen rechtlichen Bedenken begegnet (III.).
23
I. Der Begriff des Ausweisungsinteresses in § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG verweist auf das Ausweisungsrecht und greift die in § 53 Abs. 1, § 54 AufenthG gewählte und in § 54 AufenthG mit Beispielen erläuterte Begriffsbildung auf. Für das Vorliegen eines Ausweisungsinteresses i.S.v. § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG kommt es nicht darauf an, dass der Ausländer tatsächlich ausgewiesen werden kann. Es genügt bereits, wenn ein Ausweisungsinteresse nach seinen tatbestandlichen Voraussetzungen vorliegt, wie es insbesondere im Katalog des § 54 AufenthG normiert ist. Die Berücksichtigung der privaten Bleibeinteressen des Klägers erfolgt erst bei der sich anschließenden Frage, ob ausnahmsweise von den Regelerfordernissen des § 5 Abs. 1 AufenthG abgesehen werden kann und gegebenenfalls noch bei der Ermessensentscheidung nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG. Diese bereits zur alten Terminologie des „Ausweisungsgrundes“ vor der Neuregelung des Ausweisungsrechtes bestehende ständige Rechtsprechung ist auf die Neufassung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG übertragbar (vgl. zum Ganzen BVerwG, U.v. 12.7.2018 - 1 C 16/17 - NVwZ 2018, 486 Rn. 15).
24
Vorliegend fehlt es an der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, da schwerwiegende Ausweisungsinteressen sowohl nach § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a AufenthG wegen der Falschangaben des Klägers (1.) als auch nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG wegen seiner Straffälligkeit (2.) vorliegen. Deshalb kommt es nicht mehr auf mögliche Sicherheitsbedenken an, die sich hinsichtlich des Klägers und seiner potentiellen Kontakte in das salafistische Milieu ergeben könnten. Ob diese hinreichend substantiiert dargelegt wurden und welche rechtlichen Auswirkungen sich hieraus ergeben könnten, kann daher offen bleiben.
25
1. Ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a AufenthG ist vorliegend gegeben, da der Kläger in dem Verwaltungsverfahren falsche oder unvollständige Angaben zur Erlangung eines deutschen Aufenthaltstitels gemacht hat. Ein Ausländer ist im Rahmen der Beantragung eines Aufenthaltstitels dazu verpflichtet, wahrheitsgemäße Angaben zu machen. Verstößt er gegen diese Verpflichtung, ergibt sich ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse (§ 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a AufenthG) und der den Tatbestand einer Straftat ist erfüllt (§ 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG). Der Gesetzgeber trägt damit dem Umstand Rechnung, dass die Ausländerbehörden bei Entscheidungen über die Erteilung bzw. Verlängerung eines Aufenthaltstitels in vielen Fällen auf wahrheitsgemäße Angaben des Ausländers über seine persönlichen Verhältnisse und Lebensumstände angewiesen sind, da sie selbst diese in der Regel nur unter großem Aufwand ermitteln könnten. Auch ist der Ausländer nach § 82 Abs. 1 Satz 1 AufenthG verpflichtet, seine Belange, soweit sie nicht offenkundig und bekannt sind, unter Angabe nachprüfbarer Umstände unverzüglich geltend zu machen und die erforderlichen Nachweise über seine persönlichen Verhältnisse unverzüglich beizubringen (vgl. BayVGH, B.v. 2.5.2022 - 10 CS 21.1706 - juris Rn. 9).
26
Vorliegend beantwortete der Kläger in seinem Antrag auf Verlängerung eines Aufenthaltstitels vom 13. März 2018 die Frage „Sind Sie bereits strafrechtlich in Erscheinung getreten oder wird derzeit wegen Verdachts auf eine Straftat gegen sie ermittelt?“ mit „nein“ (vgl. Bl. 754 der Behördenakte). Diese Angabe war jedenfalls deshalb unrichtig, da gegen den Kläger zu diesem Zeitpunkt das Ermittlungsverfahren wegen Gewaltdarstellung anhängig war. Dies war dem Kläger auch bekannt, da er am 25. Juli 2017 als Beschuldigter vernommen worden war und dort auch Angaben zur Sache gemacht hatte (vgl. Bl. 667 ff. der Behördenakte). Der Kläger konnte die Frage auch verstehen. Schon nach dem Vortrag seiner früheren Bevollmächtigten hat der Kläger die Frage jedenfalls dahingehend verstanden, dass gefragt wurde, ob zum Zeitpunkt der Antragstellung ein Ermittlungsverfahren gegen ihn durchgeführt wurde. Insoweit machte der Kläger falsche Angaben. Auch nach dem Eindruck des Gerichts in der mündlichen Verhandlung kann sich der Kläger jedenfalls grundlegend in deutscher Sprache verständigen. Zudem machte er in seinem Antrag vom 13. März 2018 an verschiedenen anderen Stellen zutreffende Angaben (etwa zu seinen Kindern und deren persönlichen Daten). Ob der Kläger die Frage auch dahingehend verstehen konnte, dass auch frühere strafrechtliche Verurteilungen relevant sind, kann dahinstehen, da jedenfalls eine Falschangabe in Bezug auf das laufende Ermittlungsverfahren vorliegt. Der Kläger versicherte mit seiner Unterschrift auf dem Antragsformular, die dortigen Angaben nach bestem Wissen und Gewissen richtig und vollständig gemacht zu haben, und wurde auch auf die ausländer- und strafrechtlichen Konsequenzen falscher oder unvollständiger Angaben hingewiesen (jeweils auch in englischer Übersetzung; vgl. Bl. 757 der Behördenakte).
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Das Ausweisungsinteresse ist hier jedenfalls aus generalpräventiven Gründen noch aktuell. Generalpräventive Gründe sind - entgegen dem klägerischen Vortrag - beachtlich, da dem Wortlaut von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG insoweit keine Einschränkung zu entnehmen ist (vgl. nur BVerwG, U.v. 12.7.2018 - 1 C 16/17 - juris Rn. 18 ff.). Dabei ist allerdings zu berücksichtigten, dass jedes generalpräventive Ausweisungsinteresse mit zunehmendem Zeitabstand an Bedeutung verliert und ab einem bestimmten Zeitpunkt - auch bei der Anwendung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG - nicht mehr herangezogen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2018 - 1 C 16/17 - juris Rn. 23 m.w.N.). Das Aufenthaltsgesetz enthält allerdings keine feste Regeln, wie lange ein bestimmtes Ausweisungsinteresse, wie es etwa in den Tatbeständen des § 54 AufenthG normiert ist, verhaltenslenkende Wirkung entfaltet und einem Ausländer generalpräventiv entgegengehalten werden kann. Eine Heranziehung der in § 11 Abs. 3 AufenthG festgelegten Kriterien für die Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots ist nicht möglich, da sie an die Ausreise des Ausländers anknüpfen. Auch geht es hier nicht um den Erlass einer Ausweisung und die damit zusammenhängende Frage, wie lange sich der Ausländer aus dem Bundesgebiet fernzuhalten hat, sondern lediglich um die Vorfrage, ob weiterhin ein Ausweisungsinteresse besteht. Für die zeitliche Begrenzung eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses, das an strafrechtlich relevantes Handeln anknüpft, ist für die vorzunehmende gefahrenabwehrrechtliche Beurteilung eine Orientierung an den Fristen der §§ 78 ff. StGB zur Strafverfolgungsverjährung angezeigt. Diese verfolgen zwar einen anderen Zweck, geben dem mit zunehmendem Zeitabstand eintretenden Bedeutungsverlust staatlicher Reaktionen (die an Straftaten anknüpfen) aber einen zeitlichen Rahmen, der nicht nur bei repressiven Strafverfolgungsmaßnahmen, sondern auch bei der Bewertung des generalpräventiven Ausweisungsinteresses herangezogen werden kann. Dabei bildet die einfache Verjährungsfrist des § 78 Abs. 3 StGB, deren Dauer sich nach der verwirklichten Tat richtet und die mit Beendigung der Tat zu laufen beginnt, eine untere Grenze. Die obere Grenze orientiert sich regelmäßig an der absoluten Verjährungsfrist des § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB, die in der Regel das Doppelte der einfachen Verjährungsfrist beträgt. Innerhalb dieses Zeitrahmens ist der Fortbestand des Ausweisungsinteresses anhand generalpräventiver Erwägungen zu ermitteln (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2018 - 1 C 16/17 - juris Rn. 23 m.w.N.).
28
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist vorliegend das generalpräventiv auf die Falschangaben des Klägers gestützte Ausweisungsinteresse noch aktuell. Falschangaben zur Beschaffung eines Aufenthaltstitels oder einer Duldung erfüllen den objektiven Straftatbestand des § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG. Dabei kommt es wegen der Eigenschaft der Strafnorm als abstraktes Gefährdungsdelikt nicht darauf an, ob die Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis/Duldung im Anschluss an die Falschangabe auch tatsächlich erfolgt (Gericke in Münchener Kommentar zum StGB, 4. Aufl. 2022, § 95 AufenthG Rn. 106). § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG sieht im Höchstmaß eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren vor. Die maßgebliche Verjährungsunterfrist des § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB beträgt daher fünf Jahre, Verjährungsbeginn ist nach § 78a StGB die Beendigung der Tat. Beendet ist die Tat jedenfalls nicht vor Beginn der Tathandlung, hier der Antragstellung am 13. März 2018 unter unrichtiger Beantwortung der Frage nach laufenden Ermittlungsverfahren. Damit ist im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch nicht einmal die einfache Verjährungsfrist nach § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB und damit die zeitliche Untergrenze der Berücksichtigungsfähigkeit erreicht.
29
Da somit schon generalpräventive Gründe vorliegen, die auch noch aktuell sind, kommt es nicht mehr darauf an, ob im Falle des Klägers auch spezialpräventive Gründe anzunehmen sind. Dies wäre jedoch ebenfalls zu bejahen, da der Kläger bereits seit seiner Anhörung im Asylverfahren nach seiner Einreise im Jahr 2001 immer wieder falsche oder unvollständige Angaben gegenüber Behörden gemacht hat (damals etwa zum Vorliegen eines Schengen-Visums) und deshalb auch von einer Wiederholungsgefahr auszugehen ist.
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2. Auch ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG liegt vor (a bis c) und ist jedenfalls aus generalpräventiven Gründen noch aktuell (d).
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a) Ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG ist gegeben, wenn der Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen hat. Dabei ist nicht erforderlich, dass der Verstoß sowohl nicht vereinzelt als auch nicht geringfügig ist. Es genügt, wenn eine der beiden Alternativen gegeben ist (vgl. BayVGH, B.v. 29.3.2021 - 10 B 18.943 - juris Rn. 52; Katzer in Decker/Bader/Kothe, BeckOK MigR, 12. Ed. 15.7.2022, § 54 AufenthG Rn. 94; noch zur Vorgängernorm § 46 Nr. 2 AuslG BVerwG, U.v. 24.9.1996 - 1 C 9.94 - juris Rn. 19). Hier sind jedoch ohnehin beide Alternativen erfüllt.
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b) Ein nicht nur vereinzelter Verstoß i.S.d. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG ist bei mehreren Verstößen gegeben. Hier hat der Kläger schon durch die beiden in dem Strafbefehl vom 27. November 2017 enthaltenen Straftaten der Gewaltdarstellung und des vorsätzlichen Besitzes einer verbotenen Waffe mehrfach gegen Strafgesetze verstoßen. Beide Straftaten sind bei der Beurteilung nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG separat zu betrachten, da sie in Tatmehrheit zueinander stehen und keinen besonderen inhaltlichen oder zeitlichen Bezug zueinander aufweisen. Denn das Versenden des Gewaltvideos erfolgte am 24. November 2016, der Besitz des Elektroimpulsgerätes erst am 13. Juli 2017.
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c) Zudem liegt auch ein nicht nur geringfügiger Verstoß i.S.d. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vor. Wann ein Rechtsverstoß noch geringfügig ist, ist durch eine umfassende Gesamtbetrachtung des Einzelfalls unter besonderer Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit festzustellen (vgl. Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, 33. Ed. 1.4.2022, § 54 AufenthG Rn. 324). Dabei ist eine vorsätzlich begangene Straftat grundsätzlich nicht mehr als geringfügiger Rechtsverstoß zu betrachten (vgl. Katzer in Decker/Bader/Kothe, BeckOK MigR, 12. Ed. 15.7.2022, § 54 AufenthG Rn. 95 f.; noch zur Vorgängernorm § 46 Nr. 2 AuslG BVerwG, U.v. 24.9.1996 - 1 C 9.94 - juris Rn. 20). Geringfügigkeit liegt hingegen nahe, wenn ein bei einem Antragsdelikt erforderlicher Strafantrag nicht gestellt ist, ein Ermittlungsverfahren wegen Geringfügigkeit nach § 153 Abs. 1 StPO eingestellt wurde oder nach § 153a Abs. 1 StPO gegen Zahlung eines geringen Geldbetrags vorläufig von der Erhebung der öffentlichen Klage abgesehen wurde (vgl. Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, 33. Ed. 1.4.2022, § 54 AufenthG Rn. 325). Für den Fall einer Verurteilung oder eines Strafbefehls mit einer Geldstrafe ist bei einer Strafhöhe von mehr als 30 Tagessätzen nicht mehr von einer Geringfügigkeit des Verstoßes auszugehen (vgl. BayVGH, B.v. 29.3.2021 - 10 B 18.943 - juris Rn. 52). Diese Grenze geht zurück auf Nr. 55.2.2.3.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom 26. Oktober 2009 (GMBl S. 878) zu § 55 AufenthG a.F. und kann - im Rahmen der ohnehin nötigen wertenden und abwägenden Gesamtbeurteilung (vgl. BayVGH, B.v. 29.3.2021 - 10 B 18.943 - juris Rn. 52) - herangezogen werden (vgl. Katzer in Decker/Bader/Kothe, BeckOK MigR, 12. Ed. 15.7.2022, § 54 AufenthG Rn. 97).
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Gemessen an diesem Maßstab sind vorliegend beide in dem Strafbefehl vom 27. November 2017 enthaltenen Straftaten - die Gewaltdarstellung und der vorsätzliche Besitz einer verbotenen Waffe - als nicht geringfügig i.S.d. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG zu bewerten. In beiden Fällen handelt es sich um vorsätzlich begangene Straftaten. Zudem wurden Geldstrafen in Höhe von 75 bzw. 50 Tagessätzen (jeweils Einzelstrafe; Gesamtstrafe 90 Tagessätze) verhängt. Mit der vorsätzlichen Begehung und der Anzahl der Tagessätze von jeweils mehr als 30 sind nach dem dargelegten Maßstab bereits zwei Kriterien gegeben, die maßgeblich gegen eine Geringfügigkeit der Verstöße sprechen. Zugleich sind keine anderen - im Wege der Gesamtbetrachtung zu berücksichtigenden - Umstände erkennbar, die an der Beurteilung der Straftaten als nicht geringfügig etwas ändern könnten. Dies gilt insbesondere für den Vortrag des Klägers, er distanziere sich von Gewalt und habe sich weder über das Verschicken des Gewaltvideos noch über den Besitz der verbotenen Waffe vertiefte Gedanken gemacht. Dieses Vorbringen ist nicht hinreichend substantiiert und erscheint als bloße Schutzbehauptung sowie Verharmlosung des Sachverhalts; insbesondere ist es nicht nachvollziehbar, dass der Kläger das Video aus Versehen verschickt habe soll, da das Versenden einer Videodatei mittels Smartphone mehrere Schritte in der entsprechenden Messenger-App erfordert, die der Absender bewusst und in der richtigen Reihenfolge vornehmen muss. Selbst wenn der Kläger über das Gewaltvideo und die verbotene Waffe nicht weiter nachgedacht haben sollte, ändert dies nichts an der - abstrakten und konkreten - Gefährlichkeit, die die Strafnormen sanktionieren und auf die sich auch das Ausweisungsinteresse stützt. Indem sich der Kläger über sein strafrechtlich relevantes Handeln nach seinem eigenen Vortrag keine Gedanken macht, wird vielmehr sogar deutlich, dass der Kläger jedenfalls keine Anstrengungen unternimmt, sich mit den Regeln der hiesigen Rechtsordnung soweit auseinanderzusetzen, dass er bei seinem Handeln nicht mit ihr in Konflikt gerät. Hieraus folgt - ohne dass es darauf ankäme, da bereits generalpräventive Gründe vorliegen (näher sogleich unter d), - auch ein spezialpräventives Ausweisungsinteresse hinsichtlich des Klägers.
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d) Auch das Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG besteht hinsichtlich beider Straftaten jedenfalls aus generalpräventiven Gründen, die vorliegend noch aktuell sind. Dies bemisst sich zunächst nach dem oben dargelegten Maßstab (vgl. Rn. 27). Die hinsichtlich der Gewaltdarstellung anwendbare einfache Verjährungsfrist beträgt nach § 78 Abs. 3 Nr. 5 StGB drei Jahre. Bezüglich des Verstoßes gegen das Waffengesetz beträgt sie nach § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB fünf Jahre. Daher war bezüglich des Verstoßes gegen das Waffengesetz (Beendigung am 13.7.2017) zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch nicht einmal die einfache Verjährungsfrist und damit die zeitliche Untergrenze der Berücksichtigungsfähigkeit erreicht. Hinsichtlich der Gewaltdarstellung (Beendigung am 24.11.2016) war zwar die einfache Verjährungsfrist als Untergrenze der Berücksichtigungsfähigkeit, nicht aber die als obere Grenze heranzuziehende (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2018 - 1 C 16/17 - juris Rn. 23) absolute Verjährungsfrist des § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB, die regelmäßig das Doppelte der einfachen Verjährungsfrist beträgt, erreicht. Innerhalb dieses Zeitrahmens ist der Fortbestand des Ausweisungsinteresses anhand generalpräventiver Erwägungen zu ermitteln (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2018 - 1 C 16/17 - juris Rn. 23). Dabei ist das Ausweisungsinteresse als Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vorliegend noch aktuell, da es sich um ein Gewaltvideo mit besonders verstörendem Inhalt (Mord, Leichenschändung, etc.) handelt, die Versendung über digitale Endgeräte das Potential der Verbreitung unter einer Vielzahl von Personen und einen nicht mehr zu überschauenden Empfängerkreis eröffnet, das Video sogar offensiv für eine Verbreitung wirbt und daher unter Berücksichtigung insbesondere dieser Besonderheiten ein gesteigertes Interesse daran besteht, andere Ausländer durch die ausländerrechtlichen Konsequenzen gegenüber dem Kläger von der Begehung ähnlicher Straftaten abzuschrecken.
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Zusätzlich zu diesem an den Verjährungsfristen des Strafrechts orientierten Maßstab sind für abgeurteilte Straftaten - hier der Gewaltdarstellung und dem vorsätzlichen Besitz einer verbotenen Waffe - die Tilgungsfristen des § 46 BZRG zu berücksichtigen. Diese Fristen bilden eine absolute Obergrenze für die Berücksichtigungsfähigkeit der Straftat, da nach deren Ablauf die Tat und die Verurteilung dem Betroffenen nach § 51 BZRG nicht mehr im Rechtsverkehr vorgehalten werden dürfen (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2018 - 1 C 16/17 - juris Rn. 23). Diese absolute Obergrenze ist hier hinsichtlich der in dem Strafbefehl vom 27. November 2017 enthaltenen Straftaten der Gewaltdarstellung und des vorsätzlichen Besitzes einer verbotenen Waffe nicht erreicht. Denn die Tilgungsfrist beträgt nach § 46 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a BZRG fünf Jahre und beginnt jedenfalls nicht vor dem Tag der Unterzeichnung des Strafbefehls durch den Richter - hier am 27. November 2017 - zu laufen, § 47 Abs. 1, § 36 Satz 1, § 5 Abs. 1 Nr. 4 BZRG. Die Frist ist daher zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch nicht abgelaufen.
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II. In Bezug auf das schwerwiegende Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a und Nr. 9 AufenthG ist auch nicht ausnahmsweise von der Regel des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, die das Nichtbestehen von Ausweisungsinteressen zur Voraussetzung der Erteilung eines Aufenthaltstitels macht, abzuweichen. Ob der gesetzliche Regel- oder ein Ausnahmefall vorliegt, entscheidet die Behörde nicht nach pflichtgemäßem Ermessen (Art. 40 BayVwVfG), sondern allein nach dem Vorliegen der (ungeschriebenen) tatbestandlichen Voraussetzungen. Deshalb prüft das Gericht das Vorliegen des Regel- oder Ausnahmefalls vollumfänglich und nicht unter der Einschränkung des § 114 VwGO (vgl. BVerwG, U.v. 30.4.2009 - 1 C 3/08 - juris Rn. 10).
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Ein von der gesetzlichen Regel abweichender Ausnahmefall ist nur gegeben, wenn ein atypischer Geschehensablauf vorliegt, der so bedeutsam ist, dass er das jedenfalls sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelvoraussetzung beseitigt. Es muss sich um eine Abweichung handeln, die die Anwendung des Regelfalls nach Sinn und Zweck und unter Beachtung höherrangigen Rechts, wie z.B. des Schutzes von Ehe und Familie i.S.d. Art. 6 GG, als derart unverhältnismäßig erscheinen ließe, dass es unzumutbar wäre, an ihr festzuhalten (vgl. BayVGH, B.v. 14.2.2017 - 10 ZB 15.2059 - juris Rn. 17 m.w.N.).
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Davon ausgehend ist der Fall des Klägers nicht derart atypisch gelagert, dass er sich von der Mehrzahl der Fälle unterscheidet, in denen das Ausweisungsinteresse der Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis (als Regelfall) entgegensteht. Dabei berücksichtigt das Gericht, dass der Kläger sich bereits seit Ende des Jahres 2001 in der Bundesrepublik aufhält und zudem Vater zweier deutscher Kinder - für seine noch minderjährige Tochter übt er auch das gemeinsame Sorgerecht aus - ist. Zwar ist auf dieser Grundlage ein nicht zu verkennender Grad an Integration des Klägers anzunehmen und kann sich der Kläger auf den - hinsichtlich seiner noch minderjährigen Tochter stärkeren, hinsichtlich des bereits volljährigen Sohnes schwächeren - Schutz von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK berufen. Dennoch erscheint die Anwendung des gesetzlichen Regelfalls des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht derart unverhältnismäßig, dass es unzumutbar wäre, an ihr festzuhalten. Dies folgt schon daraus, dass die Beklagte den Kläger derzeit nicht ausweist und er sich deshalb zunächst weiter in der Bundesrepublik aufhalten kann. Daher ist ihm insbesondere auch der Kontakt zu seinen Kindern ohne weiteres möglich. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Aufenthaltsbeschränkung in Nummer 2 des streitgegenständlichen Bescheids, da diese so gefasst ist, dass dem Kläger auch Besuche bei seinen Kindern an deren Wohnort in Sachsen möglich sind. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, wie die Beklagte möglicherweise in Zukunft - insbesondere nach Volljährigkeit der Tochter - weiter vorgehen wird, da es dem Kläger jedenfalls freisteht, gegen zukünftige Behördenentscheidungen (erneut) Rechtsschutz zu suchen. Darüber hinaus sind auch keine Gründe vorgetragen oder ersichtlich, aus denen der Kläger den Kontakt zu seinen Kindern nicht sogar aus Algerien in einem zumutbaren Maße aufrechterhalten könnte. Der vorgetragene tägliche Telefonkontakt per WhatsApp ist auch aus dem Ausland möglich. Zudem sind beide Kinder in einem Alter, in dem ein besuchsweiser Kontakt auch durch eine Reise nach Algerien realistisch ist. Zu berücksichtigen ist auch, dass der Kläger seit über zehn Jahren räumlich getrennt von seinen Kindern lebt und die Fahrtzeit zwischen den beiden Wohnorten über vier Stunden beträgt. Es besteht daher jedenfalls kein täglicher persönlicher Umgang; gleichwohl ist es gelungen, den Kontakt aufrechtzuerhalten. Weiterhin zahlte der Kläger erst beginnend im Juli 2019 vorübergehend Unterhalt für seine Kinder. Dabei besteht ein - jedenfalls zeitlicher - Zusammenhang zu der Gewährung rechtlichen Gehörs im Rahmen der potentiellen Ablehnung des Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis (vgl. Anhörungsschreiben der Beklagten vom 31.5.2019, Bl. 798 ff. der Behördenakte). Derzeit leistet der Kläger mangels Einkommens keinen Unterhalt für seine minderjährige Tochter; für sie werden staatliche Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz erbracht. Bestehende Unterhaltsrückstände begleicht der Kläger derzeit aus demselben Grund ebenfalls nicht. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass der Sohn des Klägers bereits volljährig ist und der bloße Wunsch, in - hier ohnehin nur relativer - Nähe zu erwachsenen Kindern zu leben, regelmäßig keinen von der Regel des § 5 Abs. 1 AufenthG abweichenden Ausnahmefall zu begründen vermag (vgl. etwa OVG Berlin-Bbg, B.v. 22.12.2016 - OVG 3 S 106.16 - juris Rn. 5 ff.). Die Tochter des Klägers ist zwar noch nicht volljährig, allerdings mit einem Alter von 16 Jahren nicht mehr als jüngeres Kind mit entsprechend höherem Betreuungsbedarf einzuordnen, sodass auch insofern kein Ausnahmefall vorliegt (vgl. zum Vorliegen eines Ausnahmefalles bei einem 13-jährigen Kind und Erfüllung weiterer, die Kernfamilie betreffender Voraussetzungen BVerwG, U.v. 13.6.2013 - 10 C 16/12 - juris Rn. 16 ff.).
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Der Integration des Klägers in Deutschland kommt - vor allem angesichts seiner langen Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet - ebenfalls Gewicht zu. Allerdings liegt keine in besonderem Maße verfestigte berufliche Integration vor, die bei einem langen Aufenthalt wie dem des Klägers durchaus naheläge. Der Kläger hat zwar für verschiedene Arbeitgeber gearbeitet. Es liegen jedoch auch längere Zeiten des Bezugs von Sozialleistungen vor. Auch zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung hat der Kläger keine Arbeit. Zugleich wäre dem Kläger auch eine - durch die Beklagte ohnehin nicht verfügte - Rückkehr nach Algerien zuzumuten, da er erst als Erwachsener nach Deutschland kam und deshalb in seinem Heimatland, in dem auch seine Eltern leben, zurechtkommen und sich verständigen kann. Für eine tiefgehende Entfremdung von seinem Heimatland ist im Falle des Klägers nichts erkennbar, gleichzeitig erscheint die zweifellos vorhandene Integration in Deutschland nicht außergewöhnlich stark ausgeprägt (kein sogenannter „faktischer Inländer“, vgl. hierzu BVerfG, B.v. 29.1.2020 - 2 BvR 690/19 - juris 18).
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In die Gesamtabwägung hinsichtlich einer Verhältnismäßigkeit der Anwendung des gesetzlichen Regelfalls ist schließlich auch einzustellen, dass der Kläger während seines Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland immer wieder strafrechtlich in Erscheinung getreten ist. Gerade die vielfache Delinquenz im Bereich der mittleren Kriminalität lässt erkennen, dass sich der Kläger jedenfalls nicht nachhaltig um rechtstreues Verhalten bemüht und Reue für seine Taten zeigt. Dies spiegelt sich auch in dem klägerischen Vortrag wieder, er habe sich über das Versenden des Gewaltvideos und den Besitz der verbotenen Waffe keine Gedanken gemacht. Der fehlende Wille zum rechtstreuen Verhalten zeigt sich auch in den wiederholten Falschangaben gegenüber der Ausländerbehörde. Auch insofern zeigt der Kläger schon seit Beginn seines Aufenthaltes in der Bundesrepublik kein rechtstreues Verhalten, da er bereits bei seiner Anhörung im Asylverfahren nach seiner Einreise im Jahr 2001 wahrheitswidrig angegeben hatte, über kein Schengen-Visum zu verfügen.
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Es liegt daher nach einer umfassenden Betrachtung des Einzelfalles keine Abweichung vor, die die Anwendung des Regelfalls gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG als derart unverhältnismäßig erscheinen ließe, dass es unzumutbar wäre, an ihr festzuhalten. Vielmehr erscheint die Anwendung des Regelfalls als erforderlich, da sich der Kläger über einen längeren Zeitraum nicht rechtstreu verhalten hat und insbesondere auch die Einwirkung durch strafrechtliche Sanktionen und durch die ausländerrechtliche Verwarnung ohne nachhaltige Wirkung geblieben ist. Zudem ist ein milderes, gleich effektives Mittel nicht ersichtlich; insbesondere hat die Beklagte ohnehin schon die Duldung als milderes Mittel im Vergleich zu einer Aufenthaltsbeendigung gewählt. Schließlich ist die Anwendung des Regelfalls auch angemessen, da angesichts der schwerwiegenden Ausweisungsinteressen wie dargelegt die privaten Interessen des Klägers an der Verlängerung des Aufenthaltstitels zurücktreten müssen.
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III. Die Ermessensentscheidung der Behörde, nicht nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG von der Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abzusehen, begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Im Rahmen der Ermessensausübung nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG kommen insbesondere die persönlichen Belange des Ausländers, namentlich seine Bleibeinteressen, zum Tragen (vgl. Zimmerer in Decker/Bader/Kothe, BeckOK MigR, 12. Ed. 15.7.2022, § 27 AufenthG Rn. 43). Deshalb ist vorliegend nochmals vor allem zu berücksichtigen, dass der Kläger gemeinsam mit seiner früheren Ehefrau die Personensorge für seine noch minderjährige deutsche Tochter ausübt, den Kontakt zu seinem volljährigen deutschen Sohn pflegt und sich bereits sehr lange im Bundesgebiet aufhält. Die Beklagte hat das ihr nach § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eingeräumte Ermessen in dem streitgegenständlichen Bescheid ausgeübt. Ermessensfehler sind nicht ersichtlich; insbesondere ist ein Nichtabsehen von der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG unter entsprechender Heranziehung der obigen Ausführungen (vgl. Rn. 39 ff.) verhältnismäßig.
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B. Es besteht auch kein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung bzw. auf Neuverbescheidung aus einer anderen Anspruchsgrundlage.
45
I. Es besteht kein Anspruch auf Neuverbescheidung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG. Nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG kann eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn die Ausreise des Ausländers aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist, nach Satz 2 soll die Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn die Abschiebung seit 18 Monaten ausgesetzt ist. Dabei kann nach § 5 Abs. 3 Satz 3 AufenthG von den Regelerteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG abgesehen werden. Vorliegend hat die Beklagte ihr durch diese Norm eingeräumtes Ermessen dahingehend ausgeübt, dass sie nicht von der Anwendung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG absieht. Diese Ermessensentscheidung ist rechtlich nicht zu beanstanden. Bei der Ausübung des Ermessens hat die Behörde alle für den Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet sprechenden Umstände wie beispielsweise seine Integrationsleistung oder - hier - die Personensorge für das minderjährige Kind zu berücksichtigen und gegen die Gründe, aus denen die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nicht vorliegen, abzuwägen (vgl. Beiderbeck in Decker/Bader/Kothe, BeckOK MigR, 12. Ed. 15.7.2022, § 5 AufenthG Rn. 21). Im vorliegenden Fall hat die Behörde ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt. Insbesondere bestehen - wiederum unter Übertragung der obigen Erwägungen (vgl. Rn. 39 ff.) - keine Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Entscheidung. Dabei ist nochmals und insbesondere darauf hinzuweisen, dass die privaten Interessen des Klägers an der Personensorge für seine Tochter durch die erteilte Duldung Berücksichtigung finden und die Integrationsleistung des Klägers trotz seines langjährigen Aufenthalts vor allem in beruflicher Hinsicht begrenzt ist.
46
II. Schließlich kommt auch kein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht als von einem Unionsbürger auf Grundlage von Art. 20 f. AEUV abgeleitetes Aufenthaltsrecht sui generis in Betracht. Dieses ist zwar wegen seiner allein unionsrechtlichen Fundierung parallel und unabhängig von den nationalen Vorschriften und damit auch von der hier fehlenden Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zu prüfen (vgl. Maor in Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, 34. Ed. 1.7.2022, § 5 AufenthG Rn. 12d). Allerdings besteht ein solches Recht hier nicht. Denn Voraussetzung hierfür wäre nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes unter anderem, dass sich der Unionsbürger - hier die Tochter des Klägers - ohne das Aufenthaltsrecht des Drittstaatsangehörigen - hier des Klägers - faktisch zur Ausreise verpflichtet sähe und somit der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt würde (vgl. EuGH, U.v. 8.3.2011 - Ruiz Zambrano, C-34/09, ECLI:EU:C:2011:124, juris Rn. 42; U.v. 10.5.2017 - Chavez-Vilchez, C-133/15 - juris Rn. 61 ff.). Dies liegt hier schon deshalb fern, da der Kläger selbst nicht ausgewiesen wurde und die Tochter ohnehin bei ihrer Mutter lebt und derzeit keine Unterhaltsleistungen von dem Kläger erhält.
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C. Die in dem Bescheid weiterhin verfügte räumliche Beschränkung des Aufenthalts des Klägers und die Verpflichtung zur Rückgabe der Fiktionsbescheinigung sind rechtmäßig. Die räumliche Beschränkung stützt sich auf § 61 Abs. 1 Satz 1 und 3 AufenthG. Die Fiktionsbescheinigung ist zurückzugeben, da die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 AufenthG - unabhängig von der Einlegung eines Rechtsmittels - mit der Entscheidung über den Antrag des Klägers vom 13. März 2018 erlischt (vgl. Zimmerer in Decker/Bader/Kothe, BeckOK MigR, 12. Ed. 15.7.2022, § 81 AufenthG Rn. 37).
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D. Der Kläger trägt als unterliegender Teil die Kosten des Verfahrens, § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.