Titel:
Anordnung der aufschiebenden Wirkung, Vorläufige Inobhutnahme, Altersfeststellungsverfahren, Auslegung Zweifelsfall
Normenketten:
SGB VIII § 42a
SGB VIII § 42f
VwGO § 80 Abs. 5
Schlagworte:
Anordnung der aufschiebenden Wirkung, Vorläufige Inobhutnahme, Altersfeststellungsverfahren, Auslegung Zweifelsfall
Fundstelle:
BeckRS 2022, 31457
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme durch das Stadtjugendamt der Antragsgegnerin durch Bescheid vom 4. Oktober 2022 wird bis zur Feststellung der Volljährigkeit durch ein medizinisches Gutachten zur Altersbestimmung angeordnet.
II. Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens trägt die Antragsgegnerin.
Gründe
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Der Antragsteller begehrt von der Antragsgegnerin als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling weiterhin vorläufig in Obhut genommen zu werden.
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Der Antragsteller, eigenen Angaben zufolge Staatsangehöriger der Republik Sierra Leone, reiste im September 2022 in das Bundesgebiet ein und wurde am 23. September 2022 von dem Stadtjugendamt der Antragsgegnerin gemäß § 42a SGB VIII vorläufig in Obhut genommen. Bei der Registrierung seiner persönlichen Daten wurde als Geburtsdatum der 18. April 2006 erfasst.
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Am 4. Oktober 2022 führte die Antragsgegnerin ein Alterseinschätzungsgespräch sowie eine körperliche Begutachtung des Antragstellers durch. Der Antragsteller gab an, sein Herkunftsland 2018 mit zwölf Jahren verlassen zu haben und die letzten vier Jahre in Griechenland gelebt zu haben, wo er mit dem von ihm angegebenen Geburtsdatum erfasst worden sei. Seine beiden Eltern seien im Jahr 2015 verstorben. Er habe die Schule von der 1. bis zur 6. Klasse besucht. Sein Herkunftsland habe er gemeinsam mit seinem 24-jährigem Freund wegen seiner sexuellen Orientierung verlassen. Seine Geburtsurkunde habe ihm der Schlepper abgenommen.
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Mit Bescheid vom selben Tage wurde unter Verweis auf die nicht bestätigte Minderjährigkeit die vorläufige Inobhutnahme beendet. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Antragsteller keine beweiskräftigen bzw. ausreichend legalisierten Ausweispapiere habe vorlegen können, welche seine Minderjährigkeit belegen würden. Des Weiteren habe die Minderjährigkeit des Antragstellers nach Durchführung einer qualifizierten Inaugenscheinnahme zweifelsfrei ausgeschlossen werden können. In Hinblick auf das äußere Erscheinungsbild, die inhaltlichen Angaben sowie sein Verhalten sei der Antragsteller zur Überzeugung der Antragsgegnerin volljährig.
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Mit Schreiben vom 12. Oktober 2022 legte der Antragsteller gegen den Bescheid vom 4. Oktober 2022 Widerspruch ein. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Antragsteller bereits bei seinem Interview mitgeteilt habe, dass er weitere Unterlagen besitze, die seine Minderjährigkeit nachweisen würden. Diese Dokumente würden nunmehr in Kopie vorgelegt. Es handle sich hierbei um eine Geburtsurkunde, die bestätige, dass der Antragsteller am 18. April 2006 geboren sei; dieses Dokument sei zudem legalisiert worden. Des Weiteren bestätige ein Dokument der Schule, dass der Antragsteller im Januar 2012 an einer Sportveranstaltung für „kleine Jungen“ teilgenommen habe. Des Weiteren wurden Zahlungsbelege vorgelegt, die bestätigen sollten, dass im Jahr 2012 eine Schulgebühr für die 1. Klasse und im Jahr 2013 eine Schulgebühr für die 2. Klasse jeweils für den Antragsteller gezahlt worden sei. Zudem wurde eine Schülerkarte für die 6. Klasse mit dem Zeitraum 31. Oktober 2015 bis 31. September 2016 vorgelegt.
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Mit Schriftsatz vom 12. Oktober 2022, eingegangen am 13. Oktober 2022, erhob der Antragsteller Klage zum Verwaltungsgericht München und beantragte, den Bescheid der Antragsgegnerin vom 4. Oktober 2022 aufzuheben und die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihn in Obhut zu nehmen (M 18 K 22.5046).
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Zugleich beantragte er,
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die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihn sofort vorläufig in Obhut zu nehmen und in einer geeigneten Kinderund Jugendhilfeeinrichtung unterzubringen.
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Klage und Eilantrag begründete der Antragsteller insbesondere damit, dass die Antragsgegnerin das gesetzlich in § 42f SGB VIII vorgeschriebene Verfahren nicht vollständig durchgeführt habe. Die Antragsgegnerin habe eine ärztliche Untersuchung zu veranlassen, was jedoch unterblieben worden sei. Er sei jederzeit bereit, sich einer solchen Untersuchung zu unterziehen. Er habe der Antragsgegnerin mitgeteilt, dass er seine Geburtsurkunde zugeschickt bekomme. Dies sei nicht berücksichtigt worden. Inzwischen seien die Dokumente angekommen. Er sei bei der ihm zugewiesenen Unterkunft abgewiesen worden, weil er seine Geburtsurkunde vorgelegt habe und wieder an das Stadtjugendamt verwiesen worden sei.
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Mit Schriftsatz vom 26. Oktober 2022 beantragte die Antragsgegnerin,
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den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung wurde ausgeführt, dass das von der Antragsgegnerin angewandte Alterseinschätzungsverfahren im Wesentlichen den von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter herausgegebenen Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen entspreche. Die qualifizierte Inaugenscheinnahme habe eindeutig ergeben, dass der Antragsteller volljährig sei. Ein Zweifelsfall habe daher gerade nicht vorgelegen, sodass es keiner ärztlichen Untersuchung von Amts wegen bedurft habe. Der Antragserwiderung war eine hausinterne Stellungnahme der Fachabteilung beigefügt. Dort wird ausgeführt, dass das Erscheinungsbild des Antragstellers aufgrund seiner Stimme, Stirn und Halsfalten, Gesichtszüge, dem Kehlkopf, der Gesichtshaut, des Körperbaus sowie der Hände als körperlich ausgereift beurteilt wurden sei. Die inhaltlichen Angaben des Antragstellers sein wenig plausibel gewesen, er habe sich mehrfach korrigiert. Insbesondere die Aussage zur sexuellen Orientierung als 12-Jähriger werfe erhebliche Zweifel auf. Zudem habe der Antragsteller im gesamten Gesprächsverlauf sehr selbstbewusst auf Augenhöhe kommuniziert. Er habe während des gesamten Gesprächs keine pubertierenden bzw. jugendlichen Verhaltensweisen, sondern vielmehr ein reifes Verhalten gezeigt. Die mit dem Widerspruch vorgelegten Dokumente seien im Erstgespräch nicht vorgelegt worden. Überdies würden sie keine rechtsgültigen Dokumente zum Nachweis des Alters darstellen, weder die Echtheit noch der Inhalt sein unabhängig überprüfbar.
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Durch Beschluss der Kammer vom 3. November 2022 wurde der Rechtsstreit gemäß § 6 VwGO zu Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Gerichtsakte im Hauptsacheverfahren M 18 K 22.5046 sowie der vorgelegten Behördenakten verwiesen.
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Der entsprechend auszulegende Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs ist zulässig und begründet.
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Der gestellte Antrag war gemäß §§ 122 Abs. 1, 88 VwGO als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des zulässig eingelegten Widerspruchs des Antragstellers vom 12. Oktober 2022 gegen die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme am 4. Oktober 2022 gem. § 80 Abs. 5 VwGO auszulegen.
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Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht in Fällen, in denen gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 VwGO die aufschiebende Wirkung der Klage oder des Widerspruchs entfällt, diese auf Antrag anordnen oder wiederherstellen.
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Die Antragsgegnerin hat am 4. Oktober 2022 die vorläufige Inobhutnahme des Antragstellers beendet. Gemäß § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII haben Widerspruch und Klage gegen die Entscheidung des Jugendamts, aufgrund der Altersfeststellung nach dieser Vorschrift die vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII abzulehnen oder zu beenden, keine aufschiebende Wirkung. Dem gegen die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme gerichteten Widerspruch sowie der erhobenen Anfechtungsklage des Antragstellers kommen folglich keine aufschiebende Wirkung zu. Statthafter Rechtsbehelf im vorläufigen Rechtsschutz ist demnach in der vorliegenden Verfahrenskonstellation in Hinblick auf § 123 Abs. 5 VwGO ein Antrag nach § 80 Abs. 5 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO.
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Der so verstandene Antrag ist auch begründet.
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Im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht eine eigene originäre Ermessensentscheidung, wobei es zwischen dem in der gesetzlichen Regelung - hier § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII - zum Ausdruck kommenden Interesse der Behörde an der sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs abzuwägen hat. Bei der zu treffenden Abwägung sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen.
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Ergibt die im Rahmen des Eilverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf voraussichtlich keinen Erfolg haben wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich der zugrundeliegende Bescheid bei dieser Prüfung hingegen als rechtswidrig und das Hauptsacheverfahren damit voraussichtlich als erfolgreich, ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung regelmäßig zu verneinen. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens hingegen offen, kommt es zu einer allgemeinen Abwägung der widerstreitenden Interessen.
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Das Gericht hat insoweit die Erfolgsaussichten des Widerspruchsverfahrens seiner Beurteilung zugrunde gelegt. Hingegen erfolgte keine Berücksichtigung der Klage im Verfahren M 18 K 22.5046, da diese Klage - zumindest derzeit - mangels Einhaltung der entsprechenden Klagefrist nach Einlegung des Widerspruchs unzulässig erscheint (vgl. § 75 VwGO).
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Die Abwägung gebietet es hier, dem privaten Aufschubinteresse des Antragstellers gegenüber dem öffentlichen Interesse Vorrang zu gewähren. Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage ist davon auszugehen, dass der angegriffene Bescheid der Antragsgegnerin vom 4. Oktober 2022 rechtswidrig ist und den Antragsteller in seinen Rechten verletzt.
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Das behördliche Verfahren zur Altersfeststellung genügt nach summarischer Prüfung vorliegend nicht den in § 42f SGB VIII niedergelegten gesetzlichen Anforderungen. Die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme dürfte sich daher als rechtswidrig darstellen.
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Nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein ausländisches Kind oder einen ausländischen Jugendlichen vorläufig in Obhut zu nehmen, sobald dessen unbegleitete Einreise nach Deutschland festgestellt wird.
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Die Art und Weise der Altersfeststellung bei infrage kommenden ausländischen Personen ist in § 42f SGB VIII normiert. Nach § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hat das Jugendamt im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme gemäß § 42a SGB VIII die Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in die Ausweispapiere festzustellen oder hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen. In Zweifelsfällen ist auf Antrag des Betroffenen, seines Vertreters oder von Amts wegen eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu veranlassen (§ 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII).
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Aus der Formulierung des § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, wonach die Altersfeststellung „im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme“ durchzuführen ist, ist zu schließen, dass eine vorläufige Inobhutnahme - wie vorliegend auch zurecht am 23. September 2022 geschehen - auch zu erfolgen hat, wenn das Altersfeststellungsverfahren noch nicht durchgeführt und damit das Alter des jungen Menschen noch nicht sicher festgestellt wurde. Dies bestätigt auch § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII, der sich ausdrücklich auf eine Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme „aufgrund der Altersfeststellung nach dieser Vorschrift“ bezieht (vgl. Kirchhoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., Stand: 1.8.2022, § 42f SGB VIII Rn. 28 ff.). Das Ergebnis der Alterseinschätzung ist also nicht Voraussetzung für eine vorläufige Inobhutnahme, vielmehr ist die Alterseinschätzung selbst erst Aufgabe im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme (vgl. BayVGH, B.v. 5.4.2017 - 12 BV 17.185 - juris Rn. 31). Hieraus folgt im Umkehrschluss, dass - und so sah es offensichtlich auch der Gesetzgeber vor (vgl. die Gesetzesbegründung zu § 42f SGB VIII: BT-Drs. 18/6392 S. 20) - die ausländische Person erst dann aus der vorläufigen Obhut des Jugendamtes zu entlassen ist, wenn deren Volljährigkeit festgestellt worden ist. Die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme ist daher erst dann gerechtfertigt, wenn die von Gesetzes wegen aufgestellten Vorgaben zur Feststellung des Alters vom jeweiligen Jugendamt korrekt durchlaufen wurden.
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Dies ist vorliegend nicht geschehen. Zwar hat die Antragsgegnerin zurecht eine qualifizierte Inaugenscheinnahme des Antragstellers durchgeführt, da (aussagekräftige) Ausweispapiere oder sonstige die Feststellung des Alters des Antragstellers ermöglichende Dokumente - zumindest zum damaligen Zeitpunkt - nicht vorgelegt wurden und auch dessen Selbstauskunft keinen zweifelsfreien Beleg für die behauptete Minderjährigkeit bot. Die Antragsgegnerin hat jedoch im vorliegenden Fall verkannt, dass ein sog. Zweifelsfall i.S.d. § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII vorlag, der das Jugendamt zur Veranlassung einer ärztlichen Untersuchung zur Altersfeststellung verpflichtet hätte.
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Ob ein solcher Zweifelsfall vorliegt, unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff ohne Beurteilungsspielraum umfassender verwaltungsgerichtlicher Kontrolle; eine Einschätzungsprärogative des Jugendamts besteht nicht (vgl. BayVGH, B.v. 5.4.2017 - 12 BV 17.185 - juris Rn. 34).
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Nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, der sich auch die Kammer seit langem angeschlossen hat, kann eine qualifizierte Inaugenscheinnahme durch Mitarbeiter eines Jugendamts gemäß § 42f Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 SGB VIII lediglich dann als zur Altersfeststellung geeignet angesehen werden, wenn es darum geht, für jedermann ohne Weiteres erkennbare (offensichtliche), gleichsam auf der Hand liegende, über jeden vernünftigen Zweifel erhabene Fälle evidenter Minderjährigkeit festzustellen oder eindeutiger Volljährigkeit auszuscheiden. In allen anderen Fällen ist hingegen - ausgehend von der Tatsache, dass eine exakte Bestimmung des Lebensalters weder auf medizinischem, psychologischem, pädagogischem oder anderem Wege möglich ist, alle bekannten Verfahren (auch eine ärztliche Untersuchung) allenfalls Näherungswerte liefern können, manche medizinischen Untersuchungsmethoden zum Teil eine Schwankungsbreite von bis zu fünf Jahren aufweisen und allgemein von einem Graubereich von ca. ein bis zwei Jahren (über der gesetzlichen Altersgrenze von 18 Jahren) auszugehen ist - regelmäßig vom Vorliegen eines Zweifelsfalls auszugehen, der entweder auf Antrag des Betroffenen bzw. seines gesetzlichen Vertreters oder aber von Amts wegen durch das Jugendamt zur Veranlassung einer ärztlichen Untersuchung gemäß § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII zwingt (vgl. BayVGH, B.v. 16.12.2021 - 12 CE 21.3033 - n.v.; B.v. 5.4.2017 - 12 BV 17.185 - juris Rn. 38; B.v. 16.8.2016 - 12 CS 16. 1550 - juris Rn. 23; B.v. 18.8.2016 - 12 CE 16.1570 - juris, Rn. 19; B.v. 13.12.2016 - 12 CE 16.2333 - juris, Rn. 31; hierauf Bezug nehmend: OVG NW, B.v. 5.5.2021 - 12 B 477/21 - juris Rn. 49 ff; Kirchhoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., Stand: 1.8.2022, § 42f SGB VIII Rn. 28 ff).
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Die (wiederholte) Argumentation der Antragsgegnerin in der Antragserwiderung vom 24. Oktober 2022, dass es aufgrund „des neuen § 42f SGB VIII“ (gemeint wohl die Gesetzesänderung zum 28. Oktober 2015 mit Inkrafttreten zum 1. November 2015) keiner Auseinandersetzung mit den Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes bedürfe, kann daher nicht nachvollzogen werden. Wie bereits mehrfach dargelegt behandelt die oben zitierte maßgebliche Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes insbesondere die Auslegung des Begriffs „Zweifelsfall“ in § 42f SGB VIII in der aktuell gültigen Fassung.
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Im Fall des Antragstellers ist nicht davon auszugehen, dass dieser für jedermann ohne weiteres erkennbar, offensichtlich und ohne jeden vernünftigen Zweifel volljährig ist. Die Antragsgegnerin hätte daher eine ärztliche Untersuchung zur Altersfeststellung, zu der sich der Antragsteller auch bereit erklärt, veranlassen müssen.
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Mangels Vorlage aussagekräftiger Ausweispapiere hatte die Antragsgegnerin zurecht zunächst eine Altersfeststellung mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme durchzuführen. Diese führt vorliegend - entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin -zur Annahme eines Zweifelsfalls.
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Die Antragsgegnerin stützt ihre Entscheidung im Rahmen der qualifizierten Inaugenscheinnahme auf das äußere Erscheinungsbild, die inhaltlichen Angaben sowie das gezeigte Verhalten des Antragstellers.
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Sofern sich die qualifizierte Inaugenscheinnahme auf äußere körperliche Merkmale stützt und die Antragsgegnerin das äußere Erscheinungsbild des Antragstellers insgesamt als “ausgereift” beurteilt, bieten die festgestellten Merkmale keine ausreichende Grundlage für die Annahme von Volljährigkeit, da diese Merkmale ebenso auch bei einem (reifen) jugendlichen Minderjährigen vorliegen können. Zudem ist auch zu berücksichtigen, dass der Antragsteller aufgrund seiner Herkunft und Fluchterfahrungen - einhergehend möglicherweise mit der Aufnahme von körperlichen schweren Tätigkeiten - mit dem üblichen körperlichen Reifeprozess europäische Jugendliche nicht zu vergleichen ist. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass die Antragsgegnerin den Antragsteller nicht wesentlich älter beurteilt (die Antragsgegnerin hat, kein Geburtsdatum für den Antragssteller festgelegt), da sie ihn andernfalls wohl bereits am 23. September 2022 nicht vorläufig in Obhut genommen hätte. Es dürfte daher zwischen der Beurteilung der Antragsgegnerin und der Volljährigkeit nur ein Zeitraum liegen, der im Rahmen der Altersfeststellung einem Graubereich unterfällt (st.Rspr. BayVGH, s.o.).
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Auch die von der Antragsgegnerin als widersprüchlich gewerteten inhaltlichen Aussagen des Antragstellers und dessen Verhalten im Gespräch sind nicht geeignet, die Minderjährigkeit des Antragstellers mit Sicherheit auszuschließen. Der Antragsgegnerin ist zwar zuzugestehen, dass insbesondere die Angaben des Antragstellers zu seiner Ausreise bereits im Alter von zwölf Jahren aufgrund seiner sexuellen Orientierung äußerst unwahrscheinlich erscheint, sowie seine zeitlichen Angaben in Bezug auf das Alter seiner Geschwister sowie seines Schulbesuchs zum Teil widersprüchlich sind. Dies kann jedoch im Ergebnis nicht zu der Beurteilung führen, dass der Antragssteller offensichtlich volljährig ist. Vielmehr könnten seine ungenauen Angaben auch auf der - nach seinen Angaben - noch im jugendlichen Alter erfolgten Ausreise sowie einer in seinem Herkunftsstaat geringen Bedeutung von Geburtstagen und Jahreszahlen begründet sein. Schließlich mag auch das geschilderte selbstbewusste Verhalten des Antragstellers - der seit vielen Jahren auf sich alleine gestellt ist - seine Volljährigkeit nicht offensichtlich begründen.
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Zudem hat es die Antragsgegnerin versäumt, die von dem Antragsgegner im Rahmen des Widerspruchsverfahrens vorgelegten Dokumente zu würdigen. Lediglich der Verweis darauf, dass die Dokumente im Erstgespräch nicht vorgelegt worden seien sowie keine rechtsgültigen Dokumente darstellen würden - wie in der Stellungnahme der Antragsgegnerin vom 44. Oktober 2022 erfolgt - erfüllen die Anforderungen an die Pflicht zur Amtsermittlung nach § 20 SGB X keinesfalls.
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Da nach alledem eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Antragsteller das 18. Lebensjahr bereits vollendet hat, nicht besteht, erweist sich die Beendigung der Inobhutnahme nach summarischer Prüfung als rechtswidrig. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs war somit anzuordnen. Die Antragsgegnerin ist in der Folge verpflichtet, den Antragsteller wieder vorläufig in Obhut zu nehmen und - sofern die vorgelegten Dokumente als nicht ausreichend glaubwürdig von ihr angesehen werden - im Rahmen ihrer Ermittlungspflicht ein medizinisches Gutachten zur Altersdiagnostik durchzuführen.
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Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei