Titel:
Ausweisung eies faktischen Inländers bei vollständiger "linguistischer" Entwurzelung vom „Heimatstaat“
Normenketten:
EMRK Art. 8 Abs. 1, Abs. 2
GG Art. 2 Abs. 2 S. 1
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 2, § 54 Abs. 1 Nr. 1, § 55 Abs. 1 Nr. 1
Leitsätze:
1. Die Entwurzelung eines "faktischen Inländers" vom serbischen Staat zeigt sich auch anhand der fehlenden Kenntnisse der serbischen Sprache. Dieser Umstand kann auch unter dem Gesichtspunkt einer vollständigen linguistischen Entwurzelung vom „Heimatstaat“ als besonders gewichtig anzusehen sein, da das Beherrschen der betreffenden Landessprache maßgeblich zur Verständigung mit anderen Staatsangehörigen dieses Landes ist. (Rn. 63) (redaktioneller Leitsatz)
2. Den zugunsten des Klägers gewichteten Umständen kommt vorliegend auch deshalb Vorrang vor dem Ausweisungsinteresse zu, weil den Kläger eine (erzwungene) Rückkehr nach Serbien mit besonderer Härte treffen würde, während auf der anderen Seite die Intensität der vom Kläger ausgehenden (Wiederholungs-)Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung (mittlerweile) reduziert ist. (Rn. 68) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung, Serbischer Staatsangehöriger, Drogenabhängigkeit (Kokain), Faktischer Inländer, Möglichkeit der Sicherung elementarer menschlicher Bedürfnisse im „Heimatstaat“ (verneint), Reduzierte Wiederholungsgefahr, Sprachkenntnisse der serbischen Sprache (verneint), Vollständige Entwurzelung vom „Heimatstaat“, Verhältnismäßigkeit der Ausweisung (verneint), Ausweisungsinteresse, Bleibeinteresse, suchtbedingte Beschaffungskriminalität, besondere Gewichtung von Gewaltstraftaten
Fundstelle:
BeckRS 2022, 31443
Tenor
I. Der Bescheid der Beklagten vom 18. Februar 2020 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland mit Bescheid der Beklagten vom 18. Februar 2020.
2
Der Kläger ist serbischer Staatsangehöriger und wurde am … 1987 in M. geboren. Die Eltern des Klägers wurden ebenfalls in Deutschland geboren, nachdem die Großeltern des Klägers in den 50er Jahren nach Deutschland zogen. Diese gehörten einer rumänischen Minderheit in Serbien an. Nach der Trennung seiner Eltern Ende der 90er Jahre wuchs er bei seinen Großeltern in M. auf, die Geschwister in Pflegefamilien. Zu dieser Zeit hatte er keinen Kontakt mehr zu seinen Eltern. Der Kläger hat keine weiteren Verwandten in Serbien.
3
Am 15. Juli 1999 wurde dem Kläger erstmals eine bis 26. Oktober 2003 gültige Aufenthaltserlaubnis erteilt, die am 9. Dezember 2003 unbefristet verlängert wurde und als Niederlassungserlaubnis fortgalt.
4
Der Kläger besuchte in München den Kindergarten und anschließend die Förderschule, die er 2003 ohne Abschluss beendete. Im Anschluss hieran besuchte er ein Berufsvorbereitungsjahr. Eine abgeschlossene Berufsausbildung hat er nicht. Nach dem Rentenversicherungsverlauf des Klägers stand er überwiegend in kurzfristigen, nicht versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen bzw. bezog Arbeitslosengeld II. Im Jahr 2017 betrieb er zeitweise die Firma „… Gebäudemanagement und Bau“. Zuletzt arbeitete der Kläger als „Coronahelfer“ im Sicherheitsdienst.
5
Der Kläger hat aus der Beziehung mit einer deutschen Staatsangehörigen drei Kinder. Alle drei Kinder besitzen die deutsche, slowenische und serbische Staatsangehörigkeit. Nach der Trennung des Klägers von der Kindsmutter hatte der Kläger keinen Kontakt mehr zu seinen Kindern. Nach Angabe der Kindsmutter wünscht diese auch weiterhin keinen Kontakt mehr zum Kläger bzw. der Kinder zum Vater.
6
Ausweislich der Feststellungen im Urteil des Amtsgerichts München vom 8. August 2019 begann der Kläger im Alter von 13 Jahren mit dem Konsum von Cannabis, mit 19 Jahren begann er mit dem Konsum von Kokain. Es entwickelte sich schnell eine Abhängigkeit, der Tagesablauf des Klägers fokussierte sich auf die Beschaffung und den Konsum von Betäubungsmitteln. Mit 24 Jahren kam der Kläger in Haft und schaffte es nach der Haft, einige Zeit lang clean zu bleiben. Im Dezember 2018 wurde der Kläger jedoch erneut rückfällig und begann wieder mit dem Konsum von Kokain.
7
Strafrechtlich ist der Kläger ausweislich der Feststellungen im Urteil des Amtsgerichts München vom 8. August 2019 wie folgt in Erscheinung getreten:
8
Am 27. November 2003 wurde der Kläger vom Amtsgericht München wegen Diebstahls eines Handys zur Erbringung von 40 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt. Mit Schreiben der Beklagten vom 13. Januar 2004 wurde der Kläger darauf hingewiesen, dass strafrechtliche Verurteilungen ausländerrechtliche Konsequenzen haben können und bei wiederholter Straffälligkeit aufenthaltsbeendende Maßnahmen geprüft werden können.
9
Mit Urteil des Amtsgerichts München vom 23. Juni 2005 wurde der Kläger wegen Beleidigung und Bedrohung zur Erbringung von 12 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt, weil er die Geschädigten mit den Worten „Hure, ich ficke Deine Mutter“ und „Geh in die Fotze Deiner Mutter“ beleidigt hatte. Zudem drohte er den Geschädigten, dass er sie umbringen werde.
10
Mit Urteil des Amtsgerichts München vom 23. Oktober 2007 wurde der Kläger wegen Betruges in 42 Fällen zu einer Jugendstrafe von 1 Jahr verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
11
Mit Urteil des Amtsgerichts München vom 16. Juni 2009 wurde der Kläger unter Einbeziehung der Verurteilung vom 23. Oktober 2007 wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr in Tatmehrheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis in Tateinheit mit vorsätzlichem Gebrauch eines Fahrzeugs ohne Haftpflichtversicherung und mit Urkundenfälschung in Tatmehrheit mit Diebstahl in Mittäterschaft und unerlaubtem Erwerb von Betäubungsmitteln zu einer Gesamtjugendstrafe von 1 Jahr und 8 Monaten verurteilt. Die Vollstreckung dieser Strafe wurde zunächst zur Bewährung ausgesetzt, diese aber später widerrufen.
12
Mit Urteil des Amtsgerichts München vom 20. April 2011 wurde der Kläger wegen Erschleichens von Leistungen in fünf Fällen zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen à 20 Euro verurteilt.
13
Mit Urteil des Amtsgerichts München vom 17. August 2012 wurde der Kläger wegen Beleidigung in Tateinheit mit Bedrohung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Monaten verurteilt, weil er seine ehemalige Lebensgefährtin und Mutter seiner Kinder mit den Worten „Puffnutte, Hure, Schlampe“ und „ich fick deine Schwester“ beleidigte und ihr drohte, sie umzubringen.
14
Mit Urteil des Amtsgerichts München vom 9. Oktober 2012 wurde der Kläger wegen Unterschlagung in 6 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 4 Monaten verurteilt. Eine nachträgliche Strafrestaussetzung zur Bewährung wurde später widerrufen.
15
Mit Urteil des Amtsgerichts München vom 14. November 2013 verurteilte das Amtsgericht München den Kläger wegen vorsätzlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit veruntreuender Unterschlagung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 2 Monaten.
16
Am 17. Februar 2014 verurteilte das Landgericht München I als Berufungsgericht den Kläger wegen Unterschlagung in sechs Fällen unter Einbeziehung der durch die Urteile des Amtsgerichts München vom 17. August 2012 und 14. November 2013 verhängten Freiheitsstrafen und unter Auflösung der Gesamtfreiheitsstrafe im Urteil vom 14. November 2013 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 4 Monaten (Einzelstrafe Körperverletzung: vier Monate). Mit Schreiben vom 23. Mai 2014 verwarnte die Beklagte den Kläger und wies darauf hin, dass die zahlreichen Straftaten des Klägers Ausweisungsgründe darstellten. Bei erneuter Straffälligkeit werde die Prüfung aufenthaltsbeendender Maßnahmen eingeleitet.
17
Wegen vorsätzlichen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln wurde der Kläger vom Amtsgericht München mit Urteil vom 27. November 2014 zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt. Eine nachträgliche Strafrestaussetzung zur Bewährung wurde später widerrufen. Mit Schreiben der Beklagten vom 19. Januar 2016 wurde der Kläger abermals ausländerrechtlich verwarnt.
18
Am 2. November 2017 wurde der Kläger vom Amtsgericht München wegen unerlaubten Aufenthalts zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen à 15 Euro verurteilt.
19
Am 15. Dezember 2018 verurteilte das Amtsgericht München den Kläger wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in acht Fällen zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen à 15 Euro.
20
Mit Urteil des Amtsgerichts München vom 8. August 2019 wurde der Kläger des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (16,98 Gramm Kokaingemisch) in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln und zwei tatmehrheitlichen Fällen des vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis schuldig gesprochen und zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 2 Monaten verurteilt.
21
Nach Aktenlage befand sich der Kläger vom 27. Oktober 2014 bis 12. September 2016 und vom 31. Januar 2019 bis 5. November 2020 in Strafhaft, nachdem die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 22. Oktober 2020 gem. § 35 Betäubungsmittelgesetz (BtMG) die weitere Strafvollstreckung aus der Verurteilung vom 8. August 2019 zurückstellte. Am 5. November 2021 setzte das Amtsgericht München die weitere Vollstreckung aus der verhängten Freiheitsstrafe im Urteil vom 8. August 2019 zur Bewährung aus und rechnete die Zeit der Behandlung des Klägers bei der … e.V. … auf die Freiheitsstrafe an. In dem Beschluss wird angeführt, dass die weitere Vollstreckung nunmehr zu Bewährung ausgesetzt werden könne, da dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden könne. Die Therapieeinrichtung halte die Behandlung des Klägers in der Einrichtung für planmäßig abgeschlossen, sodass eine günstige Zukunftsprognose gestellt werden könne.
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Mit Urteil des Amtsgerichts Münchens vom 20. Juli 2021 wurde der Kläger wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis am 24. Januar 2021 zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
23
Nach der Besuchsliste der Justizvollzugsanstalt München wurde der Kläger im Zeitraum vom 31. Januar 2019 bis 20. August 2019 gelegentlich von seiner Mutter, seinem Bruder und einer Schwägerin besucht.
24
Mit Schreiben der Beklagten vom 30. November 2019 wurde der Kläger zu seiner beabsichtigten Ausweisung angehört. Daraufhin trug der Kläger vor, dass er in München geboren sei und 31 Jahre lang in Deutschland gelebt habe. Er habe drei Kinder, zu denen er ein sehr gutes Verhältnis habe. Zudem sei er mit Frau … … verlobt, sie sei von ihm schwanger. Er habe hier in Deutschland seinen Werdegang - Kindergarten, Schule, Berufsschule - absolviert. Sein Leben sei von Geburt an in Deutschland gewesen. In Serbien hätte er keine Sprach- und Ortskenntnisse. Er hätte auch dort keine Familie, da seine komplette Familie in München leben würde und er hier geboren sei. Die soziale Bindung zu seiner Familie bestehe zu 100% und er hätte auch regelmäßigen Kontakt wie auch Besuch von der Familie. Seine Straffälligkeit sei ihm äußerst peinlich und auch sehr unangenehm. Er sei wegen seiner Suchterkrankungen bzw. der Drogensucht zu den Straftaten gekommen, die er zutiefst bereuen würde. Er hätte sich leider noch nie wirklich Hilfe gesucht und sei dann rückfällig geworden.
25
Mit Bescheid vom 18. Februar 2020 wies die Beklagte den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Nr. 1). Ferner wurde ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet, dessen Dauer unter der Bedingung, dass Straf- und Drogenfreiheit nachgewiesen werde, auf 5 Jahre ab der Ausreise befristet wurde; für den Fall der Nichterfüllung der Bedingung betrage die Dauer 7 Jahre (Nr. 2). Zudem wurde die Abschiebung aus der Haft nach Serbien nach erfülltem Strafanspruch des Staates und Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht angeordnet. Für den Fall, dass der Kläger aus der Haft entlassen werde, bevor die Abschiebung durchgeführt werden könne, sei der Kläger verpflichtet, das Bundesgebiet bis spätestens 4 Wochen nach Haftentlassung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise werde die Abschiebung nach Serbien angedroht, wobei die Abschiebung auch in einen anderen Staat erfolgen könne, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei (Nr. 3).
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Die vom Kläger begangenen Straftaten gefährdeten die öffentliche Sicherheit und Ordnung, § 53 Abs. 1 AufenthG. Die vom Kläger verübten Straftaten seien im Bereich der Schwerkriminalität anzusetzen, es bestehe eine erhöhte Wiederholungsgefahr. Im Hinblick auf die verfestigte Drogensucht, die gezeigte kriminelle Energie und die enorme Unbelehrbarkeit müsse von der konkreten Gefahr weiterer schwerer Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgegangen werden. Dies zeige die vielfache Steigerung der Delinquenz seit den ersten strafrechtlichen Verurteilungen, die offenbar ebenso wie die ausländerrechtlichen Verwarnungen keinerlei Eindruck beim Kläger hinterlassen hätten. Insbesondere die strafrechtliche Verurteilung vom 8. August 2019 zeige, dass der Kläger mit dem Einstieg in den Handel harter Drogen den sozialen Abstieg sowie den körperlichen und geistigen Verfall anderer Menschen bedenkenlos hingenommen habe. Dem Kläger sei wiederholt von den Strafverfolgungsbehörden die Chance eingeräumt worden, sein Leben mithilfe von Bewährungshelfern zu ändern, was er jedoch nicht geschafft habe. Das Verhalten des Klägers in den letzten Jahren zeige, dass ihm die deutschen Gesetze auf der einen Seite und strafrechtliche Sanktionen auf der anderen Seite völlig gleichgültig seien. Er sei wiederholt in offener Bewährung straffällig geworden und habe es nicht geschafft, sich an Bewährungsauflagen zu halten. Aufgrund der bei einer tief gefestigten, mit Beschaffungskriminalität einhergehenden Abhängigkeit sei die Gefahr, trotz Behandlung wieder in die Abhängigkeit zu gleiten, besonders hoch.
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Der Kläger habe aufgrund seiner strafrechtlichen Verurteilung vom 8. August 2019 ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG verwirklicht. Zudem liege auch ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gem. § 54 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b AufenthG vor, da er unerlaubt mit Betäubungsmitteln Handel getrieben habe. Auch sein Bleibeinteresse wiege besonders schwer, da er eine Niederlassungserlaubnis besitze und sich seit mindestens 5 Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten habe (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Im Rahmen der Abwägung überwiege angesichts der zahlreichen schweren Straftaten und der konkret bestehenden Gefahr weiterer schwerer Straftaten das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers. Die Ausweisung sei auch unter generalpräventiven Aspekten gerechtfertigt. Die Ausweisung sei auch im Lichte höherrangigen Rechts, insbesondere Art. 8 EMRK, Art. 6 GG und Art. 7 GRCh, verhältnismäßig. Die Ausweisung sei von der Schranke des Art. 8 Abs. 2 EMRK unter Berücksichtigung der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gedeckt. Im Fall des Klägers sei zu sehen, dass eine Integration in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland trotz des langen Aufenthalts nicht stattgefunden habe. Der Kläger hätte grundsätzlich die besten Voraussetzungen gehabt, in Deutschland ein gesetzeskonformes Leben zu führen. Er habe es jedoch nicht geschafft, eine Berufsausbildung abzuschließen und habe die meiste Zeit in geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen gearbeitet oder öffentliche Mittel bezogen. Obwohl ihm stets Hilfestellungen an die Hand gereicht worden seien, habe er es auch mit Bewährungshelfern nicht geschafft, ein gesetzeskonformes Leben ohne Drogen und mit geregelter Arbeit zu führen. Auch verhängte Bewährungsstrafen und verbüßte Haftzeiten hätten ihn nicht zu einem Umdenken bringen können. Vielmehr habe er seine Delinquenz kontinuierlich gesteigert, bis er nunmehr wegen Handeltreibens mit Kokain zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 2 Monaten verurteilt worden sei. Die Folgen der Beendigung des Aufenthalts des Klägers in Deutschland träfen ihn nicht unverhältnismäßig hart. Auch wenn nicht verkannt werde, dass der Kläger im Bundesgebiet aufgewachsen sei und seit nunmehr 32 Jahren hier lebe, sei davon auszugehen, dass der Kläger nach wie vor mit den Sitten und Gebräuchen in Serbien vertraut sei und durchaus Kenntnisse der serbischen Sprache habe, weil er bei seinen Großeltern aufgewachsen sei (die in der Regel die Heimatsprache der Familie sprächen). Es sei ihm zuzumuten, sich zeitweise in Serbien zurechtzufinden. Ferner sei zu sehen, dass der Kläger von der Beklagten wiederholt ausländerrechtlich verwarnt und auf die ausländerrechtlichen Folgen von strafrechtlichen Verurteilungen hingewiesen worden sei. Im Rahmen der Rechtsgüterabwägung sei zu beachten, dass die Gefahren, die vom illegalen Handel mit Betäubungsmitteln ausgingen, nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ein Grundinteresse der Gesellschaft berührten, da hierbei die Schutzgüter des Lebens und der Gesundheit des einzelnen (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) in besonderem Maße betroffen seien. Die Rechtspositionen des Klägers aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK würden im Ergebnis weniger schwer wiegen, da der Kläger nach den Angaben der Kindesmutter seit 10 Jahren keinen Kontakt mehr zu seinen Kindern habe. Er habe bisher noch nie Unterhalt bezahlt und sei in der Justizvollzugsanstalt kein einziges Mal von seinen Kindern besucht worden. Im Übrigen könne der familiäre Kontakt auch über Fernkommunikationsmittel geführt werden.
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Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 21. Februar 2020, bei Gericht eingegangen am 9. März 2020, Klage gegen diesen Bescheid erhoben und beantragt sinngemäß,
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den Bescheid vom 18. Februar 2020 aufzuheben.
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Zur Begründung der Klage wird vorgetragen, dass er seit seiner Geburt in München lebe und in Serbien keine Perspektive und auch keine Bindung zu dem Land habe. Er beherrsche die Sprache nicht und habe keinerlei Ortskenntnisse in diesem Land. Dass er keinen Kontakt mehr zu seinen Kindern habe, könne er erklären, dies habe ihm seine Exfreundin wegen ihres neuen Freundes verboten. Er habe des Öfteren versucht, Kontakt aufzunehmen, sei dann aber von seiner Exfreundin beleidigt worden. Das habe ihn so sehr psychisch wie seelisch verletzt, dass er einen Rückfall gehabt habe. In der Haft habe er sich bemüht, eine Therapie aufzunehmen, die im Rahmen von §§ 35-36 BtMG berücksichtigt worden sei. Er hoffe, es werde ihm eine letzte Chance, sich zu bewähren, gewährt, um nach der Therapie ein normales und geregeltes Leben führen zu können ohne Straftaten und Drogen. Zu seinen Gunsten sei das besonders schwerwiegende Bleibeinteresse gem. § 55 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 AufenthG zu berücksichtigen. Außerdem liege in seiner Person bezüglich Serbien ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG vor, bzw. ein Grund für eine „vorübergehende Aussetzung der Abschiebung gem. § 60a Abs. 2c und Abs. 2d AufenthG“. Diesbezüglich führt er aus, dass er ein Opfer von gewissenlosen Drogenhändlern geworden sei, die sich speziell Jugendliche und junge Heranwachsende ohne feste Ausbildungsstelle suchen würden, um diese abhängig zu machen. Ihm sei bewusst, dass er ohne Drogen ein straffreies Leben führen könne. Wenn er nun nach Serbien abgeschoben würde, befände er sich in einem fremden Land, in dem er keine Familie, keine Freunde, keinen Beruf und keine gesundheitliche Betreuung hätte. Er befände sich dort in konkreter Gefahr für Leib und Leben, da er dort wegen des mangelnden Angebots von Therapieeinrichtungen wieder drogenabhängig werden könnte. Die medizinische Versorgung in Serbien sei mit der medizinischen Versorgung in Deutschland nicht zu vergleichen.
31
Die Beklagte beantragt mit Schriftsatz vom 6. April 2020,
33
Das Gericht hat in der mündlichen Verhandlung vom 23. Juni 2022 den Kläger zu seiner aktuellen Lebenssituation informatorisch angehört.
34
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
35
Die zulässige Klage ist begründet, da der Bescheid der Beklagten vom 18. Februar 2020 rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
36
1. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der im angefochtenen Bescheid verfügten Ausweisung nach § 53 Abs. 1 AufenthG sind im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt des Gerichts nicht (mehr) gegeben. Eine Wiederholungsgefahr liegt nach Auffassung der Kammer zwar im Ergebnis noch vor (a). Bei der Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles fällt jedoch die Interessenabwägung zwischen den von der Ausweisungsverfügung betroffenen Rechtsgütern des Klägers und den öffentlichen Interessen an der Ausreise zugunsten des Klägers aus (b).
37
Die behördliche Entscheidung über die Ausweisung ist durch das Gericht in vollem Umfang überprüfbar (vgl. BayVGH‚ B.v. 21.3.2016 - 10 ZB 15.1968 - juris Rn. 9 m.w.N.). Entscheidungserheblich für die Überprüfung ist der Zeitpunkt der (letzten) mündlichen Verhandlung oder der Entscheidung des Gerichts (vgl. BVerwG, U.v. 30.7.2013 - 1 C 9.12 - juris Rn. 8).
38
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei einer spezialpräventiven Ausweisungsentscheidung und ihrer gerichtlichen Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. z.B. BVerwG‚ U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 18). Bei der Prognose‚ ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht‚ sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen‚ insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat‚ die Umstände ihrer Begehung‚ das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BayVGH‚ U.v. 28.6.2016 - 10 B 13.1982 - juris Rn. 32 m.w.N.; B.v. 2.11.2016 - 10 ZB 15.2656 - juris Rn. 10 m.w.N.). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr, vgl. z.B. BVerwG, U.v. 4.10.2012 - 1 C 13.11 - juris Rn. 18; BayVGH, U.v. 8.3.2016 - 10 B 15.180 - juris Rn. 31).
39
Einer Aussetzung der Strafe oder Maßregel zur Bewährung kommt dabei eine erhebliche indizielle Bedeutung zu. Die Ausländerbehörde und die Verwaltungsgerichte sind für die Frage der Beurteilung der Wiederholungsgefahr daran aber nicht gebunden. Es bedarf jedoch einer substantiierten Begründung, wenn von der strafgerichtlichen Entscheidung abgewichen wird (BVerfG, B.v. 19.10.2016 - 2 BvR 1943/16 - juris Rn. 21). Denn die der Ausweisung zugrundeliegende Prognoseentscheidung hat einen längeren Zeithorizont als die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer in den Blick zu nehmen. Es geht um die Beurteilung, ob es dem Ausländer gelingen wird, über eine etwaige (strafrechtliche) Bewährungszeit hinaus ein straffreies Leben zu führen (stRspr, zur Strafrestaussetzung zur Bewährung gemäß § 57 StGB, vgl. z.B.: BVerwG, U.v. 15.1.2013 -1 C 10.12 - juris Rn. 18).
40
aa) Ausgehend von diesen Maßstäben ist im vorliegenden Fall nicht von dem Wegfall der Wiederholungsgefahr auszugehen. Bei aufgrund von Betäubungsmittel- und Alkoholabhängigkeit begangenen Straftaten kann nach ständiger Rechtsprechung von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Kläger eine Therapie nicht erfolgreich abgeschlossen und darüber hinaus die damit verbundene Erwartung drogen- und straffreien Verhaltens auch nach dem Therapieende glaubhaft gemacht hat (vgl. BayVGH, B.v. 9.5.2019 - 10 ZB 19.317 - juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 14.11.2012 - 10 ZB 12.1172 - juris Rn. 6). An letzterer Voraussetzung fehlt es vorliegend. Der Kläger hat zwar am 31. Mai 2021 die Drogentherapie bei der … e.V. … erfolgreich abgeschlossen, worauf sich das Amtsgericht München in seinem Beschluss vom 5. November 2021 als maßgebliches Kriterium für eine positive Sozialprognose im Kontext der Strafrestaussetzung zur Bewährung nach § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG gestützt hat.
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bb) Allerdings hat der Kläger die mit der abgeschlossenen Drogentherapie verbundene Erwartung an ein zukünftig straffreies Leben nicht (endgültig) erfüllt, da er mit Urteil des Amtsgerichts München vom 20. Juli 2021 wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis am 24. Januar 2021 zu sechs Monaten Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt wurde. Auch wenn diese Tat keinen Bezug zur (ehemaligen) Betäubungsmittelsucht des Klägers hat und er seit der Therapie bei der … e.V. … nicht mehr rückfällig wurde, also nach aktuellem Stand die Erwartung an ein künftig drogenfreies Leben erfüllt hat, gilt dies nach Auffassung der Kammer aber (noch) nicht für die Erwartung eines künftig straffreien Lebens. Ungeachtet des Beschlusses des Amtsgerichts München vom 5. November 2021, welcher dem Kläger bezüglich der Begehung weiterer Straftaten eine positive Sozialprognose gestellt hat - die Verurteilung vom 20. Juli 2021 lag im Zeitpunkt des Beschlusses des Amtsgerichts München etwa 3,5 Monate zurück -, erscheint das Risiko der Begehung von Straftaten durch den Kläger nicht ausgeräumt. Der Kläger hat mit der Verurteilung vom 20. Juli 2021 mühsam erarbeitetes Vertrauen wieder beschädigt. Erschwerend kommt hinzu, dass der Kläger wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis vorbestraft ist und genau wusste, dass er zum Führen eines Kraftfahrzeugs im Straßenverkehr nicht berechtigt ist und seine Einlassung in der mündlichen Verhandlung zu dieser Tat auf Nachfrage des Gerichts unglaubhaft war.
42
Auch wenn die Entwicklung des Klägers seit der Entlassung aus der Justizvollzugsanstalt ansonsten insgesamt positiv zu würdigen ist, geht vom Kläger noch ein Risiko der Begehung künftiger Straftaten aus. Dies zeigt nicht nur die Verurteilung vom 20. Juli 2021 wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis am 24. Januar 2021, sondern auch generell die massive Straffälligkeit des Klägers in der Vergangenheit mit der hohen Rückfallgeschwindigkeit. Die damaligen Straftaten hat der Kläger zudem unter offener Bewährung begangen. Hinzukommen als „Risikofaktoren“ die erheblichen Schulden des Klägers sowie seine eigene Aussage, dass er sich im Hinblick auf das laufende Ausweisungsverfahren nicht als „stabil“ betrachte.
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cc) Den Grad der Wiederholungsgefahr bezüglich der Begehung künftiger Straftaten durch den Kläger sieht die Kammer unter Berücksichtigung aller Umstände sowie des Eindrucks vom Kläger, den die Kammer anhand seines Auftretens in der mündlichen Verhandlung gewinnen konnte, im Ergebnis aber als herabgesetzt an (vgl. hierzu auch BayVGH, B.v. 10.1.2017 - 10 ZB 16.1778 - juris Rn. 5 ff.). Die zahlreichen Einlassungen des Klägers in seinen Schriftsätzen sowie seine Ausführungen in der mündlichen Verhandlung lassen zunächst durchaus den Schluss zu, dass die strafrechtliche Verurteilung vom 8. August 2019 sowie die nachfolgende (erneute) Inhaftierung in der Justizvollzugsanstalt den Kläger (diesmal nachhaltig) beeindruckt und bei ihm den Anstoß gegeben haben, sich ein für alle Male von Grund auf mit seiner Drogensucht auseinanderzusetzen und diese mit professioneller Hilfe anzugehen. Für die Annahme einer reduzierten Wiederholungsgefahr spricht weiter der Beschluss des Amtsgerichts München vom 5. November 2021, wonach die weitere Vollstreckung nach § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG zur Bewährung ausgesetzt wurde. Auch wenn die Prognose des Amtsgerichts i.S.v. § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG für das Gericht nicht rechtlich bindend ist, kommt dieser doch eine erhebliche indizielle Bedeutung zu, sodass ein Abweichen von dieser Prognose einer substantiierten Begründung bedarf (s. speziell zum Fall der Aussetzung zur Bewährung nach § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG: BVerfG, B.v. 19.10.2016 - 2 BvR 1943/16 - juris Rn. 21). Die Kammer teilt im Ergebnis die Wertung des Amtsgerichts München, dass das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit durch den Kläger nicht (mehr) gravierend betroffen sei.
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Die Kammer hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung selbstreflektiert erlebt. Er hat offen, eindrücklich und eloquent seinen bisherigen Werdegang dargestellt, einschließlich seiner Drogensucht, die sein Leben zerstört und ihm seine Zukunftsmöglichkeiten in Deutschland verbaut habe. Die Einlassungen des Klägers wirkten in diesem Zusammenhang auf die Kammer nicht aufgesetzt, sondern authentisch, zumal der Kläger auch relativ selbstkritisch in seinen Ausführungen wirkte. Die Kammer verkennt nicht, dass ein solcher Einstellungswandel bei ausgewiesenen Ausländern im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vergleichsweise häufig vorkommt und die Ausweisung bzw. das Gerichtsverfahren selbst nochmal erheblichen Druck, aber auch Motivation auslösen kann, bisher verdrängte grundsätzliche Probleme anzugehen. Dieser praktische Aspekt darf aber auch nicht ohne Hinzutreten eindeutiger taktischer Absichten - die vorliegend nicht erkennbar sind - ausländerrechtlich zulasten des Klägers gewertet werden (vgl. BVerfG, B.v. 19.10.2016 - 2 BvR 1943/16 - juris Rn. 22).
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Im Fall des Klägers ist objektiv zwar zu sehen, dass er bereits eine längere Abstinenzphase hinter sich hatte, bevor er wieder rückfällig wurde. Der Kläger konnte dem Gericht in diesem Zusammenhang allerdings schlüssig darlegen, wie und warum es zu dem damaligen Rückfall gekommen ist, der zur strafrechtlichen Verurteilung vom 8. August 2019 geführt hat. Im Vergleich zum früheren Rückfall hat der Kläger in nachvollziehbarer Weise kontrastierend dargelegt, dass es anders als zum damaligen Zeitpunkt gewisse stabilisierende Umstände gibt, die die Gefahr eines erneuten Rückfalls weniger wahrscheinlich machen. Die Schilderung, dass der damalige Rückfall in erster Linie aus psychischen Gründen wegen der Trennung von seiner damaligen Lebensgefährtin und dem fehlenden Kontakt zu seinen Kindern ausgelöst wurde, erscheint nachvollziehbar. Auf der anderen Seite lässt sich konstatieren, dass die aktuelle Beziehung des Klägers zu seiner Freundin, insbesondere wie diese geführt wird, einen gewissen stabilisierenden Einfluss für ihn hat. Auch wenn der vorgetragene Wunsch des Klägers, mit seiner jetzigen Freundin künftig das Modell eines bürgerlichen Familienlebens leben zu wollen, eine (noch) ungeklärte Zukunftsfrage ist, ist in objektiver Hinsicht Eigeninitiative des Klägers erkennbar, die auf die Verwirklichung dieses Wunsches abzielt: Er hat ernsthafte Absichten gezeigt, sein Drogenproblem von Grund auf aufzuarbeiten und anzugehen, indem er eine Therapie bei der … e.V. … abgeschlossen hat. Darüber hinaus hat er eine zweite vertiefende Therapie im Haus … angetreten (finanziert vom Bezirk Oberbayern, Kostenübernahme für maximal zwei Jahre), die nach Angaben der Therapieeinrichtung gut verläuft. Die Bewährungshelferin des Klägers hat in der mündlichen Verhandlung insofern angegeben, dass sie die Auffassung der Therapieeinrichtung teile, dass der Kläger auf einem guten Weg sei. So habe der Kläger auch Bewältigungsstrategien bei persönlichen Problemen entwickelt, um nicht rückfällig zu werden. Letztendlich lässt sich in diesem Kontext auch die Bemerkung des Klägers in der mündlichen Verhandlung erklären, dass er sich in einer „persönlich instabilen Lage sehe“ (gemeint war sein unsicherer ausländerrechtlicher Status sowie das verwaltungsgerichtliche Verfahren, das nach seiner Aussage starken psychischen Druck auf ihn ausübe) und deshalb derzeit nicht versuche, Kontakt zu seinen Söhnen herzustellen, um diese damit nicht zu belasten.
46
Die Kammer übersieht nicht das lange Strafregister des Klägers als Argument für die Annahme einer hohen Wiederholungsgefahr (vgl. beispielhaft VG München, U.v. 10.5.2022 - M 4 K 21.4251 - juris Rn. 76), ebenso die zahlreichen ausländerrechtlichen Verwarnungen der Beklagten, die beim Kläger damals nicht gefruchtet haben. Allerdings ist dies nur ein Aspekt aus einer Vielzahl verschiedener Umstände, die im Sinne eines Gesamteindrucks vom Kläger die zu treffende Gefahrenprognose im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt tragen müssen. Die Verurteilung vom 20. Juli 2021 zeigt zwar, dass noch ein Risiko der Begehung von Straftaten durch den Kläger ausgeht. Die dieser Verurteilung zugrundeliegende Tat des Fahrens ohne Fahrerlaubnis (§ 21 Straßenverkehrsgesetz) steht allerdings in keinem Zusammenhang mit der (ehemaligen) Betäubungsmittelsucht des Klägers. Zwischen dem Kläger und der Beklagten ist unstreitig, dass die zahlreichen strafrechtlichen Verurteilungen des Klägers zum ganz überwiegenden Teil ihre Ursache in der (damaligen) Betäubungsmittelabhängigkeit des Klägers hatten (Beschaffungskriminalität). Denkt man diesen Aspekt der aus einer Betäubungsmittelabhängigkeit resultierenden Beschaffungskriminalität hinweg, ist die Wahrscheinlichkeit der Begehung künftiger Straftaten durch den Kläger niedriger anzusetzen, zumal dann - auch im Hinblick auf die Verurteilung vom 20. Juli 2021 - die Schwere der Folgen und Tragweite eines möglicherweise eintretenden Schadens weniger schwer wiegen würden (vgl. oben zu diesem Maßstab BVerwG, U.v. 4.10.2012 - 1 C 13.11 - juris Rn. 18; BayVGH, U.v. 8.3.2016 - 10 B 15.180 - juris Rn. 31). Denkt man die aus der (ehemaligen) Betäubungsmittelsucht resultierende Beschaffungskriminalität des Klägers hinweg, steht jedenfalls keine konkrete Gefährdung hochrangiger Rechtsgüter (insbesondere Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) mehr im Raum, was für die geringere Schwere und Tragweite eines möglicherweise eintretenden Schadens spricht.
47
Danach lassen die für den Kläger sprechenden Umstände die Annahme zu, dass im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt bei prognostischer Würdigung die Gefahr der Begehung zukünftiger Straftaten reduziert ist. Zwar verbleiben auch hier gewisse Unsicherheitsfaktoren, wie etwa die Geldschulden des Klägers aus den strafgerichtlichen Verfahren in Höhe von etwa 50.000 Euro, die jedoch ihrerseits wieder etwas relativiert werden durch andere positive Umstände (wie etwa bezüglich diesen Aspekts die in der mündlichen Verhandlung genannten Ratenzahlungsvereinbarungen, sowie insgesamt das den Kläger stabilisierende Umfeld). Insgesamt sind daher die gegen den Kläger sprechenden Umstände nicht so gewichtig, dass sie die für den Kläger sprechenden Umstände überwiegen und so eine hohe Wiederholungsgefahr begründen würden.
48
b) Im hier maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt erweist sich die Ausweisung unter Berücksichtigung der in § 53 Abs. 2 AufenthG aufgeführten Abwägungsgesichtspunkte und mit Blick auf die Anforderungen der wertentscheidenden Grundsatznorm aus
Art. 8 EMRK als unverhältnismäßig.
49
aa) Zur Überzeugung der Kammer stehen im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung folgende tatsächliche Gesichtspunkte fest (§ 108 Abs. 1 VwGO):
50
(1.) Anders als im verfahrensgegenständlichen Bescheid teilt die Kammer nicht die Einschätzung der Beklagten, dass der Kläger über Grundkenntnisse in der serbischen Sprache verfüge. Auch wenn richtig ist, dass der Kläger bei seinen Großeltern aufgewachsen ist, erachtet das Gericht die Einlassungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung als glaubhaft, dass er die walachische Sprache, aber nicht die serbische Sprache beherrscht. Bei walachisch handelt es sich um eine Minderheitensprache, die unter anderem in Teilen des serbisch-rumänischen Grenzgebietes gesprochen wird. So hat der Kläger vorgetragen, dass diese Sprache eine romanische Sprache sei, anhand derer er in Serbien als Roma identifiziert werden könnte (s. näher zu Roma-Gruppen, die als „Vlax Roma“ bezeichnet werden: https://de.wikipedia.org/wiki/Walachen - aufgerufen am 9.8.2022). Diese würden dort als „Zigeuner“ diskriminiert. Die Kammer hatte anhand der Art des Auftretens bzw. seiner Körpersprache in der mündlichen Verhandlung nicht den Eindruck, dass der Kläger insoweit lediglich auswendig gelerntes Wissen wiedergegeben hat, welches bezüglich seiner Person nicht der Wahrheit entspricht. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung zudem angegeben, als Kind mit seinen Großeltern in romanisch geprägten Gebieten im Osten Serbiens dreimal zu Kurzaufenthalten gewesen zu sein, mehr aber nicht. Mit seinen Großeltern (die nach glaubhaften Angaben des Klägers bereits in jungem Alter nach Deutschland gekommen sind) hat er im Wesentlichen Deutsch gesprochen. Diese Einlassung kann nicht weiter aufgeklärt bzw. gar widerlegt werden, da die Großeltern des Klägers nicht mehr leben. Auch mit den Eltern, die hier geboren wurden, dürfte er die ersten rund 10 Jahre seines Lebens Deutsch gesprochen haben. Soweit die ehemalige Lebensgefährtin des Klägers gegenüber der Beklagten angegeben hat, dass der Kläger Kenntnisse der serbischen Sprache habe, ist die Einlassung des Klägers, seine ehemalige Lebensgefährtin wolle ihm etwas anhängen, im Hinblick auf die früheren verbalen Übergriffe des Klägers gegenüber der ehemaligen Lebensgefährtin jedenfalls im Bereich des Möglichen.
51
(2.) Aufgrund der fehlenden Kenntnisse des Klägers in der serbischen Sprache steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass den Kläger eine (erzwungene) Rückkehr nach Serbien sehr hart treffen würde.
Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft geschildert, dass er in Serbien keine Verwandten mehr habe und daher dort vollkommen auf sich alleine gestellt sei. Der Aspekt der fehlenden Sprachkenntnisse wirkt sich bei prognostischer Würdigung erschwerend aus, da zweifelhaft ist, ob sich der Kläger zur Sicherung seiner elementaren menschlichen Bedürfnisse (Obdach, medizinische Versorgung, Nahrung) überhaupt mit serbischen Staatsangehörigen oder Staatsbediensteten verständigen könnte. Es erscheint nach alledem sehr wahrscheinlich, dass der Kläger im Falle einer (erzwungenen) Rückkehr nach Serbien erhebliche Schwierigkeiten hätte, sich für die Erfüllung grundlegender Bedürfnisse zurecht zu finden.
52
bb) In rechtlicher Hinsicht ist zur Interessenabwägung Folgendes auszuführen:
53
Vorliegend hat der Kläger mit der strafrechtlichen Verurteilung vom 8. August 2019 das besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG verwirklicht, da er zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 2 Monaten verurteilt wurde. Auf der anderen Seite steht zugunsten des Klägers das besonders schwerwiegende Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, da er Inhaber einer Niederlassungserlaubnis war. Diese jeweils gesetzlich „vertypten“ besonders schwerwiegenden Interessen stehen sich grundsätzlich gleichrangig gegenüber.
54
(1.) Welches Interesse überwiegt, ist immer im Rahmen einer Interessenabwägung zu klären, schon allein deshalb, weil nach der Vorstellung des Gesetzgebers neben den explizit in den §§ 54, 55 AufenthG aufgeführten Interessen auch noch weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar sind (vgl. BT-Drs. 18/4097 Seite 49). Selbst das Vorliegen eines besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses, bei dessen Vorliegen ein besonderes öffentliches Interesse an der Aufenthaltsbeendigung besteht und häufig von einem Übergewicht des öffentlichen Interesses an der Ausweisung auszugehen sein wird, entbindet nicht von der Notwendigkeit der in § 53 Abs. 1 AufenthG vorgeschriebenen umfassenden Interessenabwägung mit eventuellen Bleibeinteressen des Betroffenen (BVerwG, U.v. 27.7.2017 - 1 C 28.16 - juris Rn. 39). Die gesetzliche Unterscheidung in besonders schwerwiegende und schwerwiegende Ausweisungs- und Bleibeinteressen ist für die Güterabwägung zwar regelmäßig prägend (BVerwG, U.v. 27.7.2017 - 1 C 28.16 - juris Rn. 39). Eine schematische und alleine den gesetzlichen Typisierungen und Gewichtungen verhaftete Betrachtungsweise, die einer umfassenden Bewertung der den Fall prägenden Umstände, jeweils entsprechend deren konkretem Gewicht, zuwiderlaufen würde, ist aber unzulässig (BVerfG, B.v. 10.5.2007 - 2 BvR 304/07 - juris Rn. 41 bereits zum früheren Ausweisungsrecht). Bei Vorliegen besonderer Umstände können die Ausweisungsinteressen auch weniger schwer zu gewichten sein (vgl. BT-Drs. 18/4097 S. 50). Im Rahmen der Abwägung ist mithin nicht nur von Belang, wie der Gesetzgeber das Ausweisungsinteresse abstrakt einstuft. Vielmehr ist das dem Ausländer vorgeworfene Verhalten, das den Ausweisungsgrund bildet, im Einzelnen zu würdigen und weiter zu gewichten (BVerwG, U.v. 27.7.2017 - 1 C 28.16 - juris Rn. 39). Gerade bei prinzipiell gleichgewichtigen Ausweisungs- und Bleibeinteressen kann daher das gefahrbegründende Verhalten des Ausländers näherer Aufklärung und Feststellung bedürfen, als dies für die Erfüllung des gesetzlich vertypten Ausweisungsinteresses erforderlich ist (BVerwG, U.v. 27.7.2017 - 1 C 28.16 - juris Rn. 39). Es verbietet sich zudem auch eine „mathematische“ Abwägung im Sinne eines bloßen Abzählens von Umständen, die das Ausweisungsinteresse einerseits und das Bleibeinteresse andererseits begründen (s. zum obigen Abschnitt insgesamt wortwörtlich BayVGH, B.v. 29.3.2022 - 19 ZB 22.129 - juris Rn. 40; s. auch BayVGH, U.v. 21.11.2017 - 10 B 17.818 - juris Rn. 41; VGH BW, U.v. 13.1.2016 - 11 S 889/15 - juris Rn. 142).
55
(2.) Aufseiten des Bleibeinteresses des Ausländers ist ferner die regelmäßig betroffene wertentscheidende Grundsatznorm aus Art. 8 EMRK zu berücksichtigen, wobei sich die Ausweisung vor der Schranke des Art. 8 Abs. 2 EMRK insgesamt als verhältnismäßig erweisen muss. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte muss die Ausweisung eines Ausländers angesichts eines dringenden öffentlichen Erfordernisses erfolgen und insgesamt verhältnismäßig sein (EGMR, U.v. 16.4.2013 - Udeh/Schweiz, Nr. 12020/09 - HUDOC Rn. 44 m.w.N. = InfAuslR 2014, 179 ff.). In diesem Zusammenhang ist anhand der sog. „Boultif/Üner-Kriterien“ ein gerechter Ausgleich der gegenläufigen rechtlichen Interessen zu finden (EGMR, U.v. 18.10.2006 - Üner/Niederlande, Nr. 46410/99 - HUDOC Rn. 54-60 = NVwZ 2007, 1279 ff.; EGMR, U.v. 2.8.2001 - Boultif/Schweiz - Nr. 54273/00 - HUDOC Rn. 46-48 = InfAuslR 2001, 476 ff.).
56
(3.) Bei im Bundesgebiet geborenen und aufgewachsenen Kindern nichtdeutscher Staatsangehörigkeit, deren Eltern sich hier erlaubt aufhalten (sog. „faktische Inländer“, vgl. BVerwG, U.v. 16.7.2002 - 1 C 8.02 - juris Rn. 23), ist ferner eine Einzelprüfung anhand der Merkmale der Verwurzelung erforderlich (BayVGH, B.v. 29.3.2022 - 19 ZB 22.129 - juris Rn. 45). Maßgeblich ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die soziale, kulturelle und familiäre Verwurzelung eines Ausländers im Inland sowie im Zielstaat, die im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung zu berücksichtigen ist (EGMR, U.v. 18.10.2006 - Üner/Niederlande, Nr. 46410/99 - HUDOC Rn. 58 = NVwZ 2007, 1279 ff.). Der Grad der Verwurzelung bestimmt sich dabei nicht nur nach der Länge des rechtmäßigen Aufenthalts des Ausländers im Inland, sondern auch anhand weiterer Umstände wie soziale und familiäre Verbindungen sowie die Vertrautheit mit kulturellen und sprachlichen Gepflogenheiten (s. dazu EGMR, U.v. 23.6.2008 - Maslov/Österreich, Nr. 1638/03 - HUDOC Rn. 75, 96 f. = InfAuslR 2008, 333 ff.). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte besteht bei Ausländern, die im Inland geboren wurden bzw. als Kleinkinder dorthin gekommen sind, zwar kein generelles Ausweisungsverbot (BVerfG, B.v. 25.8.2020 - 2 BvR 640/20 - juris Rn. 24; BVerfG, B.v. 19.10.2016 - 2 BvR 1943/16 - juris Rn. 19; EGMR, U.v. 18.10.2006 - Üner/Niederlande, Nr. 46410/99 - HUDOC Rn. 55 = NVwZ 2007, 1279 ff.). Allerdings müssen bei der Ausweisung eines Ausländers, der sich seit seiner Kindheit rechtmäßig im Inland aufgehalten hat, besonders schwerwiegende Gründe (“very serious reasons”) vorliegen, um die Ausweisung rechtfertigen zu können (EGMR, U.v. 23.6.2008 - Maslov/Österreich, Nr. 1638/03 - HUDOC Rn. 75 = InfAuslR 2008, 333 ff.).
57
cc) Ausgehend von diesen rechtlichen Maßstäben ist zunächst klarzustellen, dass eine Erhöhung des Gewichts des Ausweisungsinteresses anhand der gesetzlich vertypten Ausweisungsinteressen vorliegend nicht mit dem Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1b AufenthG (das von der Beklagten zitiert wird) begründet werden kann, da insoweit im Hinblick auf die Verurteilung vom 8. August 2019 Identität bezüglich der verletzten Rechtsvorschriften bzw. des geschützten Rechtsguts vorliegt (Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz). Gerade wenn Identität bezüglich der verletzten Rechtsgüter vorliegt, ist es umso mehr angezeigt, anhand der Umstände des konkreten Einzelfalles die Schwere des Ausweisungsinteresses zu gewichten und nicht anhand einer mathematischen Addition gesetzlich vertypter Ausweisungsinteressen.
58
dd) Im Rahmen der gebotenen umfassenden Bewertung sind die den konkreten Fall prägenden Umstände - auch unter Berücksichtigung der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 8 Abs. 2 EMRK - rechtlich wie folgt zu gewichten:
59
(1.) Der für die Ausweisungsverfügung maßgeblichen Anlasstat, der strafrechtlichen Verurteilung vom 8. August 2019, kommt erhebliches Gewicht zu. Die Ausführungen im verfahrensgegenständlichen Bescheid führen hierzu korrekt die Gefährlichkeit des Konsums von Kokain aus, insbesondere das hohe Suchtpotential und dass hierdurch menschliche Biographien und Existenzen vernichtet werden können. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte betont im Rahmen seiner Rechtsprechung zu Art. 8 Abs. 2 EMRK die verheerenden Auswirkungen, welcher der Konsum von Drogen für Individuen sowie die Gesellschaft als Ganzes hat, sowie sein Verständnis, dass die mitgliedstaatlichen Behörden hiergegen rigoros vorgehen (vgl. etwa speziell zur Verurteilung wegen Handeltreibens mit 1 Kilogramm Kokain: EGMR, U.v. 30.11.2021 - Avci/Dänemark, Nr. 40240/19 - HUDOC Rn. 30 = BeckRS 2021, 36600). Letztendlich gibt es aber keine absoluten Mindestanforderungen an die konkrete Höhe einer Verurteilung oder Schwere der Straftat, nach denen die Rechtmäßigkeit einer Ausweisung definitiv feststehen würde (vgl. EGMR, U.v. 12.1.2021 - Munir Johana/Dänemark, Nr. 56803/18 - HUDOC Rn. 53 = BeckRS 2021, 52). So zeigen Beispiele aus der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, dass selbst etwa bei einer Verurteilung zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe aufgrund Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sich eine Ausweisungsverfügung aufgrund der Umstände des Einzelfalles als unverhältnismäßig erweisen kann (s. etwa nur VG Dresden, U.v. 14.10.2020 - 3 K 2227/18 - juris Rn. 36, bestätigt durch SächsOVG, B.v. 13.5.2022 - 3 A 844/20 - juris Rn. 15 ff.).
60
(2.) Gewichtig gegen den Kläger spricht ferner die Tatsache, dass ihm im Hinblick auf seine Vorstrafen sowie seine Erwerbsbiographie trotz seines langen Aufenthalts im Bundesgebiet bisher keine gesellschaftliche und wirtschaftliche Integration gelungen ist (vgl. zu diesem Abwägungskriterium etwa VG München, U.v. 10.5.2022 - M 4 K 21.4251 - juris Rn. 100; VG Ansbach, U.v. 20.9.2021 - AN 11 K 20.02512 - juris Rn. 57). Bei genauerer Betrachtung der Straftaten des Klägers ist es nachvollziehbar, dass sich bei der Beklagten berechtigte Zweifel an der Persönlichkeitsstruktur des Klägers stellen (insbesondere die wiederholte Delinquenz trotz zahlreicher Hilfsangebote, fehlendes Bewusstsein für die Konsequenzen seines Verhaltens, mehrere ausländerrechtliche Verwarnungen, Anhaltspunkte für verrohten Charakter usw.).
61
Allerdings ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte der in der Zwischenzeit verstrichene (längere) Zeitraum seit den früheren strafrechtlichen Verurteilungen zu berücksichtigen (vgl. etwa beispielhaft EGMR, U.v. 23.6.2008 - Maslov/Österreich - Nr. 1638/03 - HUDOC Rn. 87 ff. = InfAuslR 2008, 333 ff.). So liegt etwa die Verurteilung vom 17. August 2012, deren Tatbild bezüglich der inneren Einstellung des Klägers besonders negativ erscheint, mittlerweile zehn Jahre zurück. Auch wenn die genannten Vorstrafen als solche mit gebührendem Gewicht im Rahmen der Interessenabwägung berücksichtigt werden müssen, sind einzelne Umstände der jeweiligen Taten nicht (mehr) mit ihrem aus damaliger Sicht empfundenen Gewicht für den (aktuellen) Gesamteindruck der Persönlichkeit des Klägers zu bewerten. Da auch ein länger verstrichener Zeitraum seit diesen Taten sowie ein erfolgter (glaubhafter) Einstellungswandel hinreichend zu gewichtende Umstände sind, können diese nicht unberücksichtigt bleiben (vgl. etwa beispielhaft auch VG Dresden, U.v. 14.10.2020 - 3 K 2227/18 - juris Rn. 36, bestätigt durch SächsOVG, B.v. 13.5.2022 - 3 A 844/20 - juris Rn. 15 ff.).
62
(3.) Die vollständige Entwurzelung des Klägers von seinem „Heimatland“ ist als besonders gewichtiger Umstand zu seinen Gunsten in die Interessenabwägung einzustellen. So hat er glaubhaft angegeben, dass er in Serbien keinerlei Familienangehörige mehr hat, an die er sich als ersten Anlauf im Falle einer Rückkehr wenden könnte. Sämtliche Mitglieder seiner Familie leben in Deutschland. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Großeltern in jungen Jahren nach Deutschland gekommen und die Eltern des Klägers in Deutschland geboren sind. Eine „serbische Prägung“ der Familie des Klägers ist insofern praktisch nicht vorhanden, zumal selbst die Großeltern nur kurz in Serbien gelebt haben.
63
Besonders deutlich zeigt sich die Entwurzelung vom serbischen Staat auch anhand der fehlenden Sprachkenntnisse des Klägers in der serbischen Sprache. Dieser Umstand kann auch unter dem Gesichtspunkt einer vollständigen linguistischen Entwurzelung vom „Heimatstaat“ als besonders gewichtig anzusehen sein (vgl. EGMR, U.v. 23.6.2008 - Maslov/Österreich, Nr. 1638/03 - HUDOC Rn. 97, 100 = InfAuslR 2008, 333 ff.; a.A., aber ohne nähere und überzeugende Begründung, VG Saarland, U.v. 26.1.2021 - 6 K 884/19 - juris Rn. 48). Das Beherrschen der betreffenden Landessprache ist maßgeblich zur Verständigung mit anderen Staatsangehörigen dieses Landes (vgl. zu diesem Aspekt: VG Augsburg, B.v. 10.4.2002 - Au 1 S 01.1777 - juris Rn. 43) und ist in der Regel auch Ausdruck der faktischen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe mitsamt ihren sozialen und kulturellen Gepflogenheiten. Vor diesem Hintergrund stellen vollständig fehlende Sprachkenntnisse des Staates der Staatsangehörigkeit eine besondere tatsächliche Hürde für einen ausgewiesenen Ausländer dar, im „Heimatstaat“ ein neues Leben beginnen zu können. Im konkreten Fall kommt erschwerend hinzu, dass der Kläger lediglich die walachische Sprache beherrscht, die in Serbien nur in Bereichen des Grenzgebiets zu Rumänien von einer Minderheit gesprochen wird. Der Kläger hat in diesem Zusammenhang schlüssig vorgetragen, dass er mit der walachischen Sprache in Serbien aufgrund ihrer romanischen Prägung als Angehöriger einer Minderheit in Serbien Diskriminierung ausgesetzt sein könnte (vgl. hierzu etwa: ‘‘Roma in the Republic of Serbia: The Challenges of Discrimination” [Stand 1.3.2021], https://minorityrights.org/publications/roma-serbia/). Hiernach erscheint es wahrscheinlich, dass es in Alltagssituationen mit serbischen Staatsangehörigen, die sich im Falle einer Rückkehr nach Serbien kaum vermeiden lassen dürften, zu grundlegenden Verständigungsschwierigkeiten kommen wird. Dies dürfte sich umso verschärfter auswirken, wenn es um die Sicherung elementarer menschlicher Bedürfnisse geht. Diese Umstände werten die Rechtsposition des Klägers aus Art. 8 Abs. 1 EMRK bezüglich des Interesses seines Verbleibs im Bundesgebiet deutlich auf.
64
(4.) Der Aspekt der reduzierten Wiederholungsgefahr (siehe oben) ist vorliegend zugunsten des Klägers im Kontext des Art. 8 Abs. 1 EMRK als besonders gewichtig anzusehen. Da der Grad der Wiederholungsgefahr maßgeblich für die Gewichtung des legitimen Ziels der Verhinderung von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Rahmen der Schranke des Art. 8 Abs. 2 EMRK ist (vgl. hierzu EGMR, U.v. 2.8.2001 - Boultif/Schweiz - Nr. 54273/00 - HUDOC Rn. 45 = InfAuslR 2001, 476 ff.), stärkt eine reduzierte Wiederholungsgefahr die Rechtsposition des Klägers aus Art. 8 Abs. 1 EMRK.
65
ee) Unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles kommt die Kammer zu der Bewertung, dass die zugunsten des Klägers gewichteten Umstände die dargestellten Umstände, die gegen ihn sprechen, überwiegen.
66
Die oben dargestellten gegen den Kläger sprechenden Umstände für das Ausweisungsinteresse wiegen schwer, die für seine Rechtsposition aus Art. 8 Abs. 1 EMRK sprechenden Umstände aber noch schwerer. Die sich gegenüberstehenden zu gewichtenden Umstände in der Rechtsgüterabwägung zeigen, dass es vorliegend um einen Fall geht, der atypische Besonderheiten aufweist. So unterscheidet sich der vorliegende Fall von anderen Fällen aus der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, in denen der ausgewiesene Ausländer zwar vom „Heimatstaat“ (weitgehend) entfremdet, aber eben noch nicht vollständig entwurzelt war (vgl. insoweit kontrastierend etwa VG München, B.v. 10.5.2022 - M 4 K 21.4251 - juris Rn. 105; VG München, U.v. 24.2.2022 - M 10 K 20.2954 - juris Rn. 61; BayVGH, B.v. 9.5.2019 - 10 ZB 19.317 - juris Rn. 7; BayVGH, B.v. 20.2.2019 - 10 ZB 18.2343 - juris Rn. 16 f.).
67
Auch wenn die Verurteilung vom 8. August 2019 wegen Handeltreibens mit Kokain, wie die Beklagte im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ausführt, gesellschaftliche Grundinteressen berührt und auch die zahlreichen strafrechtlichen Verurteilungen des Klägers schwer ins Gewicht fallen, führt dies aufgrund der zwischenzeitlich reduzierten Wiederholungsgefahr nicht (mehr) zu einem Überwiegen des spezialpräventiv begründeten Ausweisungsinteresses. Demnach sind im Sinne der oben zitierten Entscheidungen des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die gegen den Kläger sprechenden Umstände nicht (mehr) als so schwerwiegend anzusehen, um die Ausweisung rechtfertigen zu können.
68
Den zugunsten des Klägers gewichteten Umständen kommt vorliegend auch deshalb Vorrang zu, weil den Kläger eine (erzwungene) Rückkehr nach Serbien mit besonderer Härte treffen würde, während auf der anderen Seite die Intensität der vom Kläger ausgehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung (mittlerweile) reduziert ist. Hierin drückt sich aus, dass gerade bei einer spezialpräventiv begründeten Ausweisung das hiermit verfolgte legitime Ziel (die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung) nicht außer Verhältnis zu den Rechtspositionen des Ausgewiesenen stehen darf. Je stärker die Rechtsposition des Ausgewiesenen wiegt, desto höher muss daher der Grad der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung wiegen, um die Ausweisung rechtfertigen zu können. Dies ist insbesondere der Fall, wenn sich die Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung gerade auch in der zukünftigen Gefährdung hochrangiger Rechtsgüter (insbesondere Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) durch den Ausgewiesenen ausdrückt.
69
Diese Schwelle einer Gefährdung hochrangiger Rechtsgüter ist vorliegend aber aufgrund der angenommenen reduzierten Wiederholungsgefahr nicht (mehr) überschritten: Wie dargestellt, ist die Gefahr der Begehung künftiger Straftaten beim Kläger reduziert (vgl. ähnliche Argumentation in der Interessenabwägung auch VG Dresden, U.v. 14.10.2020 - 3 K 2227/18 - juris Rn. 28 ff.). Ebenso unterscheidet sich der vorliegende Fall von Fällen mit Gewaltstraftaten, welche mit einer erheblichen zukünftigen Gefährdung hochrangiger Rechtsgüter, insbesondere aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, einhergehen (vgl. allgemein zur besonderen Gewichtung von Gewaltstraftaten bei einer Ausweisung: EGMR, U.v. 23.6.2008 Maslov/Österreich, Nr. 1638/03 - HUDOC Rn. 81, m.w.N. auf die Fallkonstellationen in den Boultif- und Üner-Entscheidungen).
70
Die nach alledem bestehende Kombination aus außergewöhnlichen Härten für den Kläger im Falle einer Rückkehr nach Serbien bei einer gleichzeitig reduzierten Wiederholungsgefahr führt daher zur Unverhältnismäßigkeit der Ausweisungsverfügung i.S.v. Art. 8 Abs. 2 EMRK.
71
2. Im vorliegenden Fall wird die Ausweisung auch nicht von generalpräventiven Gründen getragen.
72
Das Ziel einer generalpräventiven Ausweisung besteht darin, mit der Ausweisung des straffälligen Ausländers andere Ausländer davon abzuhalten, Straftaten zu begehen. Allerdings müssen auch bei einer generalpräventiv begründeten Ausweisung die konkreten Umstände der Straftat(en) und die Lebensumstände des Ausländers individuell gewürdigt werden. Ein nur generalpräventiv begründetes öffentliches Interesse an einer Ausweisung besitzt im Allgemeinen ein geringeres Gewicht als die spezialpräventive Reaktion auf eine konkrete Wiederholungsgefahr. Demgemäß kommt ihm im Rahmen der Gesamtabwägung mit dem Bleibeinteresse ein geringes Gewicht zu (s. zum Ganzen Katzer in BeckOK MigR, Stand 15.7.2022, § 53 AufenthG Rn. 32 f.).
73
Gemessen daran erscheint es bereits zweifelhaft, inwieweit die in der Vergangenheit liegenden Straftaten des Klägers unter generalpräventiven Aspekten die Ausweisung tragen können. Zwar kann bei Betäubungsmittelstraftaten grundsätzlich ein generalpräventives Ausweisungsinteresse angenommen werden (vgl. auch Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 53 AufenthG Rn. 65 m.w.N.). Allerdings wird nach der Rechtsprechung bei sog. „Hangtaten“ die Möglichkeit einer auf generalpräventive Gründe gestützten Ausweisung verneint (vgl. etwa SächsOVG, B.v. 13.5.2022 - 3 A 844/20 - juris Rn. 20). Dies wird damit begründet, dass es wenig wahrscheinlich erscheint, dass sich andere Ausländer, die sich ähnlich wie (damals) der Kläger in einer aufgrund Drogenkonsum erheblich eingeschränkten Steuerungsfähigkeit befinden, von einer Ausweisung in einem Maß beeindrucken lassen würden, dass sie von Taten, die der Beschaffungskriminalität zuzuordnen sind, absehen würden (SächsOVG, a.a.O.). Vorliegend spricht einiges dafür, dass jedenfalls ein beträchtlicher Teil der Straftaten des Klägers, jedenfalls die für die Ausweisung maßgebliche Anlasstat, der suchtbedingten Beschaffungskriminalität zuzuordnen ist. Letztendlich kann dies aber dahinstehen, weil auch eine generalpräventiv motivierte Ausweisung verhältnismäßig sein muss (vgl. dazu BVerfG, B.v. 18.7.1979 - 1 BvR 650/77 - juris Rn. 37), was vorliegend nicht der Fall ist. Insofern nimmt das Gericht bezüglich der Gewichtung der für den Kläger sprechenden Umstände auf die obigen Ausführungen Bezug; diese überwiegen auch insoweit eine generalpräventive Begründung der Ausweisung.
74
3. Da sich die Ausweisungsverfügung in Nummer 1 des angegriffenen Bescheids im Ergebnis als rechtswidrig erweist, wird dem in Nummer 2 erlassenen Einreise- und Aufenthaltsverbot (§ 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) sowie der Abschiebungsandrohung in Nummer 3 (§ 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) die rechtliche Grundlage entzogen. Sie sind ebenfalls aufzuheben.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergeht gem. § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m.§§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.