Inhalt

VG Ansbach, Beschluss v. 25.10.2022 – AN 17 S 22.50299
Titel:

Dublin-Verfahren, Frankreich: Wiederaufnahmegesuch Zuständigkeitswechsel von der Bundesrepublik Deutschland weg

Normenketten:
Dublin III-VO Art. 18 Abs. 1 lit. b, Art. 23, Art. 25, Art. 29 Abs. 2
AsylG § 34a Abs. 1
VwGO § 80 Abs. 5
Leitsatz:
Es ist im Fall eines Wiederaufnahmeantrags nach Art. 23, Art. 24 Dublin III-VO – anders als bei einem Aufnahmeantrag nach Art. 21, Art. 22 Dublin III-VO – nicht erforderlich, dass die Zuständigkeit des ersuchten Staates für den Asylantrag nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO geklärt ist und der ersuchte Staat selbst für das Asylverfahren des Asylbewerbers zuständig ist. Vielmehr findet die Rücküberstellung des Antragstellers zur Klärung der Zuständigkeit und zum Abschluss dieses Verfahrens statt, das nicht notwendigerweise mit der Zuständigkeit des ersuchten Mitgliedstaates enden muss. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Wiederaufnahmeverfahren mit Frankreich für Asylfolgeantrag nach in Deutschland erfolglos (mit Verfahrenseinstellung) abgeschlossenem Erstasylverfahren und nach zahlreichen weiteren Asylverfahren unklaren Ausgangs in weiteren europäischen Ländern, Keine offensichtliche Zuständigkeit Deutschlands für weiteren Asylantrag nach der Rechtsprechung des EuGH, U.v. 2.4.2019 – C-582/17, C-583/17 bei zwischenzeitlich weiteren Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren zwischen Mitgliedsstaaten und Zustimmung Frankreichs nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) Dublin III-VO, Fraglich, ob Ablauf der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO zu einem absoluten Zuständigkeitsübergang führt oder lediglich zwischen den beiden beteiligten Staaten die Zuständigkeit regelt (relative Zuständigkeitsfestlegung), Abschiebungsanordnung nach Frankreich, Wiederaufnahmeantrag, Wiederaufnahmegesuch, Zuständigkeitswechsel nach Dublin III-VO, Asylfolgeantrag
Fundstelle:
BeckRS 2022, 31057

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine asylrechtliche Abschiebungsanordnung nach Frankreich.
2
Die 1975 geborene Antragstellerin ist weißrussische Staatsangehörige. Sie reiste nach eigenen Angaben am 7. November 2014 zusammen mit ihrem Ehemann und ihren 2002 und 2013 geborenen Töchtern in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 15. Januar 2015 erstmals einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt). Die zuständige Ausländerbehörde teilte am 22. Mai 2015 mit, dass die Familie seit 1. April 2015 untergetaucht sei. Das Asylverfahren wurde - nach Anhörung mit Schreiben vom 21. April 2016 - mit Bescheid vom 9. Dezember 2016 nach §§ 32, 33 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG eingestellt und der Antragstellerin und ihren Familienangehörigen die Abschiebung nach Weißrussland angedroht. Ein unter abweichenden Personalien gestellter weiterer Asylantrag vom 13. April 2015 wurde nicht weiterbearbeitet. Im Ausländerzentralregister ist die Antragstellerin unter dem Datum 19. August 2019 als untergetaucht eingetragen.
3
Am 27. November 2019 ersuchte die Republik Frankreich Deutschland um Rückübernahme der Antragstellerin, was das Bundesamt mit Schreiben vom 1. April 2020 bestätigend akzeptierte.
4
Am 24. Mai 2022 stellte die Klägerin beim Bundesamt einen Asylfolgeantrag. Eine Eurodac-Datenbank-Abfrage von diesem Tag erbrachte folgende Treffer der Kategorie 1:
- Deutschland 19. Januar 2015
- Niederlande 8. Juli 2019
- Frankreich 25. November 2019
- Belgien 4. Dezember 2019
- Frankreich 19. Dezember 2019
5
Ein Wiederaufnahmeersuchen des Bundesamts an die Niederlande vom 11. Juli 2022 wurde von den niederländischen Behörden mit Schreiben vom 20. Juli 2022 abgelehnt. In diesem Schreiben wurde mitgeteilt, dass die Niederlande am 19. August 2019 ein Übernahmeersuchen nach Art. 12 Abs. 2 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin III-VO) an Litauen gerichtet habe und dieses von dort am 28. August 2019 akzeptiert worden sei. Die Niederlande habe am 16. Oktober 2019 eine Rückführungsentscheidung nach der Dublin III-VO nach Litauen getroffen, die Klägerin sei jedoch ab dem 22. November 2019 untergetaucht, sodass die Überstellungsfrist am 25. Februar 2021 abgelaufen sei. Am 9. Dezember 2019 habe die Niederlande ein Rückübernahmeersuchen Frankreichs vom 27. November 2019 wegen der Zuständigkeit Litauens zurückgewiesen. Eine Asylantragstellung in Belgien vom 4. Dezember 2019 und eine weitere Asylantragstellung in Frankreich vom 1. September 2021 seien ohne Übernahmeersuchen an die Niederlande geblieben.
6
Am 21. Juli 2022 ersuchte das Bundesamt daraufhin Frankreich um Rückübernahme der Antragstellerin nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) Dublin III-VO, was von dort - nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) Dublin III-VO - mit Schreiben vom 4. August 2022 akzeptiert wurde.
7
Bei einer Befragung durch das Bundesamt am 18. August 2022 gab die Antragstellerin an, in Frankreich einen ablehnenden Bescheid bekommen zu haben. Sie hätten in Frankreich zwar staatliche Unterstützung erhalten, hätten aber quasi auf der Straße gelebt. Eine Wohnung sei ihr nicht zur Verfügung gestellt worden, sie habe jedoch ein „Straßengeld“ von 410,00 bis 420,00 EUR bekommen. Sie sei mit ihrer 19 Jahre alten Tochter nach Deutschland gekommen. Gesundheitliche Beschwerden habe sie nicht. Zuvor, am 4. August 2022, hatte die Tochter der Antragstellerin dem Bundesamt mitgeteilt, dass die Antragstellerin einen Herzinfarkt erlitten habe. Eine medizinische Bescheinigung hierzu ist trotz Aufforderung beim Bundesamt nicht eingereicht worden.
8
Mit Bescheid vom 25. August 2022, der Antragstellerin zugestellt am 2. September 2022, lehnte das Bundesamt den Antrag als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen (Ziffer 2), ordnete die Abschiebung nach Frankreich (Ziffer 3) und ein Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG an und befristete dieses auf zehn Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4).
9
Im Bescheid ist ausgeführt, dass die Niederlande ihre Zuständigkeit mit Verweis auf die Zuständigkeit Frankreichs abgelehnt habe und Frankreich die Rückübernahme nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) Dublin III-VO akzeptiert habe.
10
Hiergegen erhob die Antragstellerin zur Niederschrift der Geschäftsstelle des Verwaltungsgerichts Ansbach am 2. September 2022 Klage und beantragte gemäß § 80 Abs. 5 VwGO,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
11
Die Antragsgegnerin beantragte mit Schriftsatz vom 8. September 2022,
den Antrag abzulehnen.
12
Zu einer Begründung der Klage und des Eilantrags ist es nicht gekommen.
13
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die beigezogene Behördenakte und die Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
14
Der als solcher auszulegende Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamtes vom 25. August 2022 ist zulässig, aber unbegründet und deshalb abzulehnen.
15
1. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die Abschiebungsanordnung ist zulässig, insbesondere statthaft, weil die gleichzeitig erhobene Klage keine aufschiebende Wirkung hat, § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG. Die Klage und der Eilantrag sind auch fristgerecht innerhalb der Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG erhoben worden.
16
2. Der Antrag ist jedoch unbegründet, weil die Interessensabwägung des Gerichts ein Überwiegen des Vollzugsinteresses der Antragsgegnerin gegenüber dem Aussetzungsinteresse der Antragstellerin ergibt. Im Rahmen der gerichtlichen Ermessensentscheidung spielen vor allem die Erfolgsaussichten der Hauptsacheklage eine maßgebliche Rolle. Die dem Charakter des Eilverfahrens entsprechende summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage führt zu dem Ergebnis, dass die Hauptsacheklage aller Voraussicht nach erfolglos bleiben wird. Die in Ziffer 3 des Bescheids getroffene Abschiebungsanordnung erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) nämlich als rechtmäßig und verletzt die Antragstellerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
17
Rechtsgrundlage für die Anordnung der Abschiebung nach Frankreich ist § 34a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen - bzw. im Falle des hier einschlägigen Wiederaufnahmeverfahrens zur Rückübernahme verpflichteten - Staat an, sobald feststeht, dass die Abschiebung dorthin durchgeführt werden kann.
18
a) Die Republik Frankreich ist zur Wiederaufnahme der Antragstellerin nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) Dublin III-VO verpflichtet. Danach hat ein Mitgliedstaat einen Asylantragsteller, der während der Antragsprüfung in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder sich in einem anderen Mitgliedstaat ohne Aufenthaltstitel aufhält, wiederaufzunehmen.
19
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof ist es im Fall eines Wiederaufnahmeantrags nach Art. 23, Art. 24 Dublin III-VO - anders als bei einem Aufnahmeantrag nach Art. 21, Art. 22 Dublin III-VO - nicht erforderlich, dass die Zuständigkeit des ersuchten Staates für den Asylantrag nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO geklärt ist und der ersuchte Staat selbst für das Asylverfahren des Asylbewerbers zuständig ist (EuGH, U.v. 2.4.2019 - C-582/17, C-583/17 - juris Rn. 54 ff., ebenso VG Ansbach, U.v. 28.6.2021 - AN 17 K 19.50954 - juris; VG München, B.v. 27.11.2020 - M 1 S 20.50531 - juris Rn. 20). Vielmehr findet die Rücküberstellung des Antragstellers zur Klärung der Zuständigkeit und zum Abschluss dieses Verfahrens statt, das nicht notwendigerweise mit der Zuständigkeit des ersuchten Mitgliedstaates enden muss. Die Entscheidung des EuGH ist zwar für einen Fall eines im ersuchten Mitgliedstaat aufgrund zurückgenommenen Asylantrags bereits abgeschlossenen Verfahrens ergangen (Fall nach Art. 20 Abs. 5 i.V.m. Art. 18 Abs. 1 Buchst. c) Dublin III-VO), sie ist nach den Darlegungen des EuGH aber gleichermaßen und erst recht in den Fällen eines im ersuchten Mitgliedstaat noch offenen Verfahrens einschlägig.
20
In der vom EuGH entschiedenen Konstellation nach Art. 20 Abs. 5 i.V.m. Art. 18 Abs. 1 Buchst. c) Dublin III-VO hat dieser zwar eine Ausnahme für den Fall gemacht, dass die betroffene Person dem Zweitstaat, in dem sie sich befindet, Gesichtspunkte übermittelt, die offensichtlich belegen, dass dieser Mitgliedstaat gemäß den Zuständigkeitskriterien nach Art. 8 ff Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. In einem solchen Fall habe der für das Prüfungsverfahren unzuständige Staat seine Zuständigkeit gleich anzuerkennen (EuGH, U.v. 2.4.2019 - C-582/17, C-583/17 - juris Rn. 83 ff., Leitsatz 3). Andernfalls entstünde ein vermeidbares und uneffektives Hin- und Herverschieben von Asylantragstellern (VG Ansbach, U.v. 28.6.2021 - AN 17 K 19.50954 - juris).
21
Nach diesen Grundsätzen konnte das Bundesamt einen Wiederaufnahmeantrag an Frankreich nach Art .18 Abs. 1 Buchst. b) Dublin III-VO richten und hat Frankreich das Wiederaufnahmegesucht zu Recht angekommen. Die Antragstellerin hat nach Auskunft aus der Eurodac-Datenbank in Frankreich am 25. November 2019 und noch einmal am 19. Dezember 2019 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Die Niederlande teilten zudem mit, dass ihnen Erkenntnisse darüber vorlägen, dass auch am 21. Januar 2021 in Frankreich ein Asylantrag gestellt worden ist, wenngleich sich dieser in der Eurodac-Datei nicht abbildet. Letztlich kann dahinstehen, ob die Anträge von 2019 noch offen sind oder eine Entscheidung insoweit ergangen ist und ob die Antragstellerin 2021 einen weiteren Antrag in Frankreich gestellt hat und in welchem Verfahrensstand sich dieser gegebenenfalls befindet. Frankreich selbst hat jedenfalls in seinem Antwortschreiben vom 4. August 2022 konkludent mitgeteilt, dass ein Asylantrag in Frankreich noch offen ist. Das französische Innenministerium hat nämlich seine Rückübernahmebereitschaft - anders als in anderen dem Gericht bekannten Fällen - nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO erklärt und nicht nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. c oder Buchst. d Dublin III-VO, die einschlägig wären, wenn ein Asylverfahren durch Rücknahme eingestellt oder in der Sache negativ entschieden wäre.
22
Die pauschale Angabe der Antragstellerin, dass ihr Asylverfahren in Frankreich abgelehnt worden sei, widerlegt dies nicht. Nach Art. 22 Abs. 3 Dublin III-VO (analog) i.V.m. Anhang II Verzeichnis A II Nr. 2 letzter Spiegelstrich der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (Dublin-Durchführungsverordnung) beweist der entsprechende schriftliche Bericht einer Behörde die Asylantragstellung. Hingegen stellen die (nachprüfbaren) Angaben eines Asylbewerbers selbst lediglich Indizien dar, vgl. Anhang II Verzeichnis B II Nr. 2 erster Spiegelstrich, die ein Beweismittel nicht widerlegen können (vgl. auch Art. 22 Abs. 5 Dublin III-VO).
23
Es liegt - nach der oben dargelegten Rechtsprechung des EuGH - auch keine offensichtliche Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland selbst vor. Zwar hat die Antragstellerin 2015/2016 erfolglos ein erstes Asylverfahren in Deutschland durchgeführt. Unabhängig davon, ob Deutschland nach den Kriterien in Art. 8 bis 15 Dublin III-VO für das damalige Verfahren der Antragstellerin zuständig war oder eine Zuständigkeit nach Art. 16 oder 17 Dublin III-VO durch das Bundesamt anerkannt worden ist, ist Deutschland wohl jedenfalls durch die sachliche Entscheidung über den Asylantrag, auch wenn es sich lediglich um eine Einstellung wegen Nichtbetreibens des Verfahrens gehandelt hat, spätestens mit der Einstellungsentscheidung vom 9. Dezember 2016 zuständig geworden. Mit der Entscheidung in der Sache endet ein Zuständigkeitsbestimmungsverfahren nach der Dublin III-VO bzw. kann ein solches nicht mehr eingeleitet werden; sondern steht die Zuständigkeit verbindlich fest (VG Ansbach, B.v. 6.10.2021 - AN 17 S 21.50055 - BeckRS 2021, 31530; B.v. 25.8.2022 - AN 17 S 22.50044 - juris Rn. 20). Selbst wenn nach Art. 12 Abs. 2 oder Abs. 4 Dublin III-VO aufgrund einer Visumserteilung Litauen eigentlich zuständig gewesen sein sollte, wie die Niederlande und wohl auch Litauen selbst meinen, hätte die Zuständigkeit Litauens durch die Entscheidung des Bundesamts vom 9. Dezember 2016 geendet.
24
Es spricht auch vieles dafür, dass im Fall von weiteren Asylanträgen desselben Asylantragstellers der so zuständig gewordene Staat grundsätzlich weiter zuständig bleibt (VG Ansbach, B.v.18.3.2022 - AN 17 S 21.50247 - BeckRS 22, 6985 Rn. 18, U.v. 15.6.2020 - AN 17 K 20.50046 - juris, B.v. 25.8.2022 - AN 17 S 22.50044 - juris Rn. 21). Allerdings kann sich ein Zuständigkeitswechsel aus verschiedenen Gründen ergeben, insbesondere daraus, dass über einen nachfolgenden Asylantrag ein anderer Staat in der Sache - in Kenntnis oder in Unkenntnis seiner Unzuständigkeit - entscheidet. Nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO ist ein Selbsteintritt eines Staates jederzeit, also auch für ein Folgeantragsverfahren möglich. Eine Zuständigkeitsfestlegung durch die Entscheidung in der Sache, wie oben dargelegt, gilt im Folgeantragsverfahren gleichermaßen. Schließlich kann es zu einem Zuständigkeitswechsel auch aufgrund des Ablaufs der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO kommen.
25
Im vorliegenden Fall spricht viel dafür, dass ein derartiger Zuständigkeitswechsel, weg von der Bundesrepublik Deutschland erfolgt ist. Offensichtlich ist es trotz eines zwischen Frankreich und Deutschland - in umgekehrter Richtung - durchgeführten Wiederaufnahmeverfahrens 2019/2020 mit dem Ergebnis der Übernahmeverpflichtung durch Deutschland tatsächlich nicht zu einer Rücküberstellung der Antragstellerin von Frankreich nach Deutschland gekommen. Mutmaßlich ist es zu einem Ablauf der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO gekommen, da die sechsmonatige Frist zur Hoch-Zeit der Corona-Pandemie gelaufen ist und geschlossene Grenzen und erhebliche Infektionsgefahren eine Überstellung verhindert haben dürften. Zu einer Verlängerung der Überstellungsfrist ist es nach Aktenlage nicht gekommen, eine Verlängerung aufgrund der Corona-Pandemie wäre auch nicht ohne Weiteres zulässig gewesen (EuGH, U.v. 22.9.2022 - C245/21 - juris). Schließlich hat Frankreich durch seine Zustimmung zur Rückübernahme der Antragstellerin am 4. August 2022 zu erkennen gegeben, dass eine offensichtliche Zuständigkeit Deutschland nach der Rechtsprechung des EuGH (EuGH, U.v. 2.4.2019 - C-582/17, C-583/17) nicht gesehen wird; es wurden weder von Frankreich noch von der Antragstellerin selbst Erkenntnisse übermittelt, die eine fortbestehende Zuständigkeit Deutschlands belegen. Hieran bestehen vielmehr begründete Zweifel.
26
Unerheblich ist schließlich auch, ob durch das zwischen Litauen und der Niederlande stattgefundene Aufnahmeverfahren, das nach Mitteilung der niederländischen Asylbehörde mit einem Ablauf der Überstellungsfrist geendet hat, tatsächlich und weiter eine Zuständigkeit der Niederlande besteht. Nach der Rechtsprechung des EuGH steht lediglich die offensichtlich bestehende eigene Zuständigkeit einem Wiederaufnahmeverfahren mit einem anderen Staat entgegen, nicht aber die bestehende Zuständigkeit eines dritten Staates (vgl. EuGH, U.v. 2.4.2019 - C-582/17, C-583/17 - juris). Ob die Zuständigkeit der Niederlande besteht, kann und muss zwischen Frankreich und der Niederlande geklärt werden; auch hier stellt sich die Frage von zwischenzeitlich ergangenen Sachentscheidungen oder einem erklärten Selbsteintritt durch Frankreich. Ob durch das Aufnahmeverfahren mit Ablauf der Überstellungsfrist zwischen Litauen und der Niederlande überhaupt eine Zuständigkeit mit Wirkung gegenüber anderen Staaten begründet wurde, ist überdies fraglich und in der Rechtsprechung soweit ersichtlich bislang nicht geklärt oder auch nur diskutiert. Da dritte Staaten regelmäßig keine Kenntnis von einem bilateralen Aufnahme- oder Wiederaufnahmeverfahren haben (insbesondere kein Eintrag in eine allen Staaten zur Verfügung stehende Datenbank wie etwa der Eurodac-Datenbank erfolgt) und diese Staaten auch keinen Einfluss auf dieses Verfahren nehmen können, spricht viel für eine von Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO nur bewirkte relative Zuständigkeitsklärung zwischen den zwei betroffenen Ländern ohne bindende Wirkung aber für alle Mitgliedsstaaten (kein absoluter Zuständigkeitsübergang durch Ablauf der Überstellungsfrist, sondern nur im Verhältnis zwischen den beiden Verfahrenspartnern).
27
Da die Niederlande ein Wiederaufnahmegesuch Deutschlands zuvor abgelehnt hatte, für Frankreich der zeitlich nachfolgende Asylantrag in der Eurodac-Datei (und ein weiterer) verzeichnet ist, zudem die Niederlande einen weiteren Asylantrag der Antragstellerin in Frankreich am 1. September 2021 vorträgt (für den sich aber kein Anhaltspunkt aus der Eurodac-Datei ergibt), war das Stellen eines Wiederaufnahmegesuchs an Frankreich auch nicht willkürlich, sondern sachlich nachvollziehbar. Letztlich regelt die Dublin III-VO auch nicht, in welcher Reihenfolge mögliche Wiederaufnahmegesuche zu stellen sind.
28
b) Das Wiederaufnahmegesuch ist vom Bundesamt am 21. Juli 2022 auch ordnungsgemäß und rechtzeitig innerhalb der Frist von zwei Monaten nach der Eurodac-Treffermeldung vom 24. Mai 2022, Art. 23 Abs. 1 Unterabs. 2 Dublin III-VO, eingeleitet worden. Frankreich hat der Übernahme am 4. August 2022 auch fristgerecht innerhalb der Frist von zwei Wochen nach Art. 25 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO zugestimmt.
29
c) Es liegen auch keine Umstände nach Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO vor, die einer Rückkehr der Antragstellerin nach Frankreich entgegenstünden.
30
Nach dem System der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996, 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 - juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 31.12.2011, C-411/10 und C-433/10 - NVwZ 2012, 417) gilt die Vermutung, dass die Behandlung von Asylbewerbern in jedem Mitgliedsland der Europäischen Union (EU) den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Charta der Grundrechte der EU (GRCh) entspricht. Diese Vermutung ist jedoch dann widerlegt, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in einem Mitgliedsland systemische Mängel aufweisen, die zu der Gefahr für den Asylbewerber führen, bei Rückführung in den Mitgliedsstaat einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK ausgesetzt zu sein.
31
Derartige systemische Mängel sind für Frankreich nicht gegeben. Die Lage dort stellt sich für rückkehrende Asylbewerber wie folgt dar:
32
aa) In Frankreich besteht ein rechtsstaatliches Asylverfahren mit gerichtlicher Beschwerdemöglichkeit (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich [BFA], Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Frankreich, Stand 29.1.2018, S. 4; sehr detailliert zum Verfahren Asylum Information Database [AIDA], Country Report: France, Update 2020, S. 31 ff.). Asylanträge von Dublin-Rückkehrern werden wie jeder andere Asylantrag behandelt. Sie haben denselben Zugang zur Unterbringung wie normale Asylbewerber. Im Falle von vulnerablen Dublin-Rückkehrern müssen die französischen Behörden vom jeweiligen Mitgliedstaat mindestens einen Monat vor Überstellung informiert werden, um die nötigen Vorkehrungen treffen zu können (BFA a.a.O., S. 5). Sobald ein Dublin-Rückkehrer in Frankreich ankommt, wird ihm von der Polizei ein Schreiben ausgehändigt, in dem die für den Antragsteller zuständige Präfektur, im Großraum Paris treten an deren Stelle die sog. Orientierungsplattformen, benannt ist (BFA a.a.O., S. 5). Dorthin muss der Asylbewerber allerdings eigenständig gelangen, will er sein Verfahren weiter betreiben (BFA a.a.O.). Im Übrigen wird hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit des Asylverfahrens gemäß § 77 Abs. 2 AsylG auf die zutreffende Darstellung in den Gründen des Bescheids vom 25. August 2022 verwiesen.
33
bb) Was die humanitäre Lage für Dublin-Rückkehrer anbelangt, so werden diese hinsichtlich Unterkunft und Versorgung gleich normalen Asylbewerbern behandelt. Frankreich verfügte Stand 2017 über 303 Unterbringungszentren für Asylbewerber mit rund 34.000 Plätzen, einem speziellen Zentrum für unbegleitete minderjährige Asylbewerber, zwei Transitzentren mit 600 Plätzen, 262 Notunterbringungen mit rund 18.000 Plätzen sowie eine nicht näher genannte Zahl an privaten Unterbringungsplätzen, insgesamt 56.000 Unterbringungsplätze (BFA a.a.O., S. 9). Mittlerweile, Stand Ende 2020, hat sich die Zahl der Unterbringungsplätze dank verstärkter Bemühungen des französischen Staates als Reaktion auf die zu geringen Kapazitäten auf 98.564 erhöht; weitere 4.500 Plätze sind für 2021 geplant. (AIDA a.a.O, S. 101 ff.). Zwar wird auch berichtet, dass nur 51% der Asylbewerber, die Anspruch auf eine Unterbringung haben, auch untergebracht waren und komplementär hierzu größere informelle Camps insbesondere in Paris und Calais entstanden sind sowie Asylbewerber etwa in Nantes, Grande Synthe und Metz auf der Straße leben (AIDA a.a.O., S. 104 ff.). Hinsichtlich des Verhältnisses von (Erst-)Asylbewerbern und zur Verfügung stehenden Plätzen wurde jedoch 2020 die Situation erreicht, dass mehr Unterbringungsplätze als Bewerber zur Verfügung stehen; Ende 2020 waren 4% der Unterbringungsplätze frei (AIDA a.a.O., S. 102 f.). Zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung liegen keine Erkenntnisse für eine Einschränkung des Platzangebots in den staatlichen Aufnahmeeinrichtungen oder hinsichtlich Schwierigkeiten beim Registrierungsprozess in Folge der Corona-Pandemie mehr vor, die letzten derartigen Angaben stammen von Mai 2020 (AIDA a.a.O., S. 96).
34
Dublin-Rückkehrer haben wie reguläre Asylbewerber auch Zugang zum finanziellen Beihilfeprogramm für Asylbewerber (ADA - Allocation pour demandeurs d’asile). Dessen Höhe ist von verschiedenen Faktoren wie der Art der Unterkunft, dem Alter, der Anzahl der Kinder usw. abhängig. In der Regel erhalten untergebrachte Asylbewerber monatlich eine finanzielle Unterstützung von 204,00 EUR. Sind sie nicht staatlich untergebracht, erhöht sich der Betrag auf 426,00 EUR pro Monat (AIDA a.a.O., S. 97; BFA a.a.O., S. 8 f.). Zum Erhalt des Geldes ist nicht zwingend die Eröffnung eines Bankkontos nötig, Asylbewerbern wird eine Karte ausgestellt, mit der die Leistungen bezogen werden können, allerdings nur dergestalt, dass damit in Läden oder Online-Shops bezahlt, aber das Geld nicht am Geldautomaten abgehoben werden kann (AIDA a.a.O., S. 97 ff.).
35
Was die medizinische Versorgung anbelangt, so können Asylbewerber (und somit auch Dublin-Rückkehrer) den allgemeinen Krankenversicherungsschutz in Anspruch nehmen, sobald sie die Bestätigung über ihr laufendes Asylverfahren erhalten haben. Einkommensschwachen Personen steht darüber hinaus ein allgemeiner Zusatzkrankenschutz zu, der die Kostenübernahme hinsichtlich im Basisschutz nicht enthaltener Leistungen abdeckt. Nach drei Monaten Aufenthalt besteht schließlich auch Anspruch auf die sogenannte staatliche medizinische Hilfe (BFA a.a.O., S. 10 ff.). Anderen Quellen zufolge besteht zwar nunmehr das Erfordernis eines dreimonatigen Aufenthalts, bevor der Zugang zum allgemeinen und zusätzlichen Krankenversicherungsschutz eröffnet wird (AIDA a.a.O., S. 111). Wenn der Zugang zu diesen Sicherungssystemen nicht gegeben ist, können Asylbewerber aber jedenfalls die in den Krankenhäusern eingerichteten Bereitschaftsdienste zur ärztlichen Versorgung der Bedürftigsten in Anspruch nehmen.
36
Zusammenfassend sind systemische Schwachstellen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK mit sich bringen, im französischen Asylsystem für Dublin-Rückkehrer nicht ersichtlich (so auch VG Karlsruhe, B.v. 27.1.2021 - A 8 K 1948/20 - juris; VG Ansbach, U.v. 17.8.2020 - AN 17 K 19.51230 - juris; VG München, U.v. 22.7.2020 - M 2 K 19.50619 - BeckRS 2020, 18796; VG Würzburg, B.v. 15.6.2020 - W 8 S 20.50166 - juris; B.v. 2.3.2020 - W 8 S 20.50081 - juris, sogar für eine Mutter eines knapp drei Monate alten Säuglings). Die Antragstellerin hat gegenüber dem Bundesamt auch selbst angegeben, vom französischen Staat Geldleistungen erhalten zu haben und von einer Organisation Unterstützung bekommen zu haben. Dass die Antragstellerin bei einer Rücküberführung mit Obdachlosigkeit zu rechnen hat, kann nicht angenommen werden.
37
cc) Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist bei der Prüfung, ob eine Überstellung im Rahmen des Dublin-Verfahrens in den an sich zuständigen Mitgliedstaat die Gefahr einer gegen Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung birgt, nicht nur in den Blick zu nehmen, ob diese Gefahr im Rahmen des Asylverfahrens droht, sondern auch, ob nach einer etwaigen Anerkennung als Asylberechtigter eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu befürchten ist (EuGH, U.v. 19.3.2019 - Jawo, C-163/17 - juris Rn. 87 ff.).
38
Dies ist in Frankreich nicht der Fall. Nach einer Anerkennung wird Flüchtlingen ein Aufenthaltstitel mit einer Gültigkeit von zehn Jahren verliehen, subsidiär Schutzberechtigte erhalten eine für vier Jahre gültige Aufenthaltserlaubnis, die verlängert werden kann. (AIDA a.a.O., S. 144, zur Möglichkeit der Einbürgerung S. 146 f.; BFA a.a.O., S. 12, welches von einer nur einjährigen Aufenthaltsgenehmigung für subsidiär Schutzberechtigte ausgeht). Anerkannte Schutzberechtigte, die während des Asylverfahrens untergebracht waren, können nach der Schutzgewährung weitere drei Monate in der bisherigen Unterkunft verbleiben. Eine Verlängerung um weitere drei Monate ist möglich. Nach der Anerkennung müssen sie einen Willkommens- und Integrationsvertrag unterschreiben, im Rahmen dessen die Möglichkeit einer weiteren temporären Unterbringung für neun Monate in einem hierfür vorgesehenen Zentrum besteht, die wiederum für drei Monate verlängerbar ist. Die staatlichen Integrationsmaßnahmen sind für sich genommen zwar nicht ausreichend, werden jedoch durch solche von Nichtregierungsorganisationen ergänzt (BFA a.a.O., S. 12 f.).
39
Anerkannte Schutzberechtigte haben wie französische Staatsbürger Zugang zum Arbeitsmarkt, wobei tatsächliche Hürden, wie mangelnde Sprachkenntnisse, bestehen können (AIDA a.a.O., S. 154 f.; BFA a.a.O., S. 13). Weiter genießen anerkannte Schutzberechtigte Krankenversicherungsschutz und haben Zugang zu Sozialleistungen und verschiedenen Beihilfen in Bereichen wie Familie, Wohnraum, Bildung, Behinderung, etc. (BFA a.a.O.).
40
d) Ebenso wenig ist ein zielstaatsbezogenes oder inlandsbezogenes Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG erkennbar, das einer Abschiebung nach Frankreich entgegenstünde. Die Antragstellerin gab an, keine gesundheitlichen Beschwerden zu haben. Eine medizinische Behandlung ist im Bedarfsfall in Frankreich - wie oben dargestellt - auch möglich und erreichbar, so dass offenbleiben kann, ob die Antragstellerin wie ihre Tochter dem Bundesamt mitgeteilt, aber trotz Aufforderung nicht belegt hat, einen Herzinfarkt erlitten hat und sich hieraus weiter ein Behandlungsbedarf ableitet.
41
3. Die Kostenentscheidung des damit erfolglosen Antrags ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG.
42
4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.