Titel:
Fehlendes Rechtsschutzinteresse an einer Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz
Normenkette:
SGG § 86b Abs. 2
Leitsatz:
Am Rechtsschutzbedürfnis im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes fehlt es, wenn ein Antragsteller sein Begehren auf einfachere Weise verwirklichen kann und sich dadurch die Einleitung gerichtlicher Schritte als überflüssig erweist. Ein einfacherer Weg ist insoweit die Erfüllung zumutbare Mitwirkungshandlungen im Verwaltungsverfahren. (Rn. 14) (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verwaltungsverfahren, zumutbare Mitwirkungshandlung, einstweiliger Rechtsschutz, Rechtsschutzinteresse, Grundsicherungsleistungen, einstweiligen Anordnung
Rechtsmittelinstanzen:
LSG München, Beschluss vom 20.07.2022 – L 18 SO 136/22 B ER
BSG Kassel, Beschluss vom 25.08.2022 – B 8 SO 30/22 AR
BSG Kassel, Beschluss vom 11.11.2022 – B 8 SO 44/22 AR
Fundstelle:
BeckRS 2022, 30593
Tenor
I. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
1
Der Antragsteller begehrt im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vom Antragsgegner vorläufig zu erbringende Leistungen der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII).
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Der am ... 1965 geborene Antragsteller bezog zuletzt bis offenbar Juli 2021 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende vom zuständigen Jobcenter. Mit Bescheid vom 13.07.2021 hob das Jobcenter die Leistungsbewilligung ab August 2021 wegen fehlender Mitwirkung auf, da der Antragsteller keinen Nachweis über eine Terminvereinbarung bei der Deutschen Rentenversicherung vorlegte. Mit Bescheid vom 21.10.2021 lehnte das Jobcenter Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zum August 2021 ab, da der Antragsteller nach eigenen Angaben nicht erwerbsfähig sei. Einer ärztlichen Untersuchung sei er bislang ferngeblieben.
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Mit Schreiben vom 09.09.2021 und vom 04.10.2021 teilte der Antragsteller dem Antragsgegner mit, dass ein Zuständigkeitswechsel eingetreten sei. Aufgrund eines Gerichtsbeschlusses des Amtsgerichts Gemünden am Main sei ihm eine vollständige Erwerbsunfähigkeit bzw. Unvermittelbarkeit bescheinigt worden. Aufgrund der Nichtvermittelbarkeit trete eine Erwerbsunfähigkeit ein. Mit Schreiben vom 11.11.2021 gab der Antragsgegner bei der Deutschen Rentenversicherung Nordbayern eine Begutachtung der dauerhaften vollen Erwerbsminderung des Antragstellers in Auftrag; eine Entscheidung hierüber steht bislang noch aus.
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Mit Schreiben vom 26.10.2021 hat der Antragsteller Klage zum Sozialgericht Würzburg gegen den Antragsgegner und die Bundesrepublik Deutschland erhoben. Die Klage ist unter dem Aktenzeichen S 9 AS 286/21 geführt worden. Im Rahmen der Klageerwiderung hat das zu zuständige Jobcenter zugesichert, Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende wiederaufzunehmen, sobald sich der Antragsteller von der Deutschen Rentenversicherung untersuchen lässt. Mit Beschluss der betreffenden Kammer vom 26.01.2022 ist das Begehren des Antragstellers gegen die Bundesrepublik Deutschland abgetrennt und unter dem Aktenzeichen S 9 AS 15/22 fortgeführt worden. Das gegen den Antragsgegner gerichtete Begehren ist zuständigkeitshalber an die erkennende Kammer abgegeben worden.
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Der Antragsteller hält sich aufgrund von Ausführungen im Rahmen einer betreuungsgerichtlichen Entscheidung des Amtsgerichts Gemünden am Main für nicht vermittelbar und damit für erwerbsunfähig. Die entzogene soziale Absicherung sei umgehend wiederherzustellen. Eine Begutachtung sei lediglich durch das zuständige Verfassungsgericht zulässig. Die Fürsorgepflicht obliege allein dem zuständigen Sozialamt. Dieses sei seit August 2021 nicht willens, seinen Pflichten nachzukommen. Seit August 2021 sei keine medizinische Versorgung mehr vorhanden und die Mietkosten könnten nicht beglichen werden.
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Er beantragt sinngemäß zuletzt,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zu verpflichten, ihm ab 01.08.2021 Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
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Der Antragsgegner beantragt,
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Die Erwerbsfähigkeit des Antragstellers sei zumindest seit dem Ende des Jahres 2019 nicht ärztlich festgestellt worden. Aussagekräftige Unterlagen lägen nicht vor. Es sei nach wie vor nicht festgestellt, dass beim Antragsteller eine volle Erwerbsminderung vorliege, sodass keine sachliche Zuständigkeit des Antragsgegners vorliege.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte im vorliegenden Verfahren und in dem Verfahren unter dem Aktenzeichen S 9 AS 286/21 sowie auf die beigezogenen Verfahrensakten des Antragsgegners verwiesen. Diese waren alle Gegenstand der Entscheidungsfindung.
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Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz hat keinen Erfolg.
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1. Dabei stellt das vom Antragsteller an das Gericht gerichtete Begehren einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz im Sinne des oben aufgeführten Antrags dar, da nur eine derartige Auslegung dem wesentlichen Begehren des Antragstellers (schnelle Zahlung von Grundsicherungsleistungen) am besten zum Ziel verhilft (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG [12. Aufl. 2017], § 123 Rn. 3). Der Antragsteller begehrt die umgehende Wiederherstellung seiner sozialen Absicherung rückwirkend zum 01.08.2021 durch den Antragsgegner. Eine Sachentscheidung durch den Antragsgegner ist bislang noch nicht ergangen. Insofern war die „Klageschrift“ entsprechend § 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) auszulegen.
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2. Der so verstandene (§ 123 SGG) Antrag ist grundsätzlich als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in Form einer sog. Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft, da der Antragsteller nicht die Sicherung einer bestehenden Rechtsposition, sondern eine Erweiterung seiner Rechtsposition, mithin die Gewährung von Leistungen, begehrt. Nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit ein Fall des § 86b Abs. 1 SGG nicht vorliegt, eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
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3. Das Jobcenter M. als örtlich zuständiger Träger der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II war nicht nach § 75 Abs. 2 SGG beizuladen, da der Antragsteller ausdrücklich und ausschließlich Leistungen vom Antragsgegner begehrt.
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4. Der Antrag ist jedoch abzulehnen, weil er unzulässig ist. Ihm fehlt das Rechtsschutzbedürfnis. Am Rechtsschutzbedürfnis fehlt es, wenn der Antragsteller sein Begehren auf einfachere Weise verwirklichen kann (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG [12. Aufl. 2017], vor § 51 Rn. 16 f.) - z.B. durch eigene und zumutbare Mitwirkungshandlungen - und sich dadurch die Einleitung gerichtlicher Schritte als überflüssig erweist.
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Dies ist hier der Fall. Dem Antragsteller werden Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II gewährt, sobald er sich von der Deutschen Rentenversicherung zur Feststellung seiner Erwerbsfähigkeit ärztlich untersuchen lässt. Dies hat das Jobcenter M. in seiner Klageerwiderung im Rahmen des Verfahrens unter dem Aktenzeichen S 9 AS 286/21 zugesichert (Blatt 13 der Gerichtsakte). Diese Leistungen sind im Wesentlichen inhaltsgleich mit den Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt oder der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung der Sozialhilfe nach dem SGB XII.
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Der Antragsteller hat die Altersgrenze des § 41 Abs. 2 SGB XII noch nicht erreicht. Für eine Leistungsberechtigung nach dem Dritten oder Vierten Kapitel des SGB XII ist daher die Feststellung der vollen Erwerbsminderung des Antragstellers erforderlich. Ein entsprechendes Verfahren ist in § 44a SGB II bzw. 45 SGB XII vorgesehen. Ausführungen im Rahmen einer betreuungsgerichtlichen Entscheidung sind dazu ebenso wenig zielführend wie aus einer Nichtvermittelbarkeit eine Erwerbsunfähigkeit folgt. Solange eine volle Erwerbsminderung des Antragstellers nicht festgestellt ist, gehen Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II den Leistungen nach dem Dritten oder Vierten Kapitel des SGB XII hier vor, vgl. § 21 S. 1 SGB XII bzw. § 5 Abs. 2 SGB II. Hierfür ist das Jobcenter M. zuständig.
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Der Antragsteller ist nach Maßgabe der §§ 60 ff. SGB I, § 20 SGB X verpflichtet, bei der Feststellung der Erwerbsfähigkeit mitzuwirken. Dies umfasst insbesondere die Erteilung von erforderlichen Auskünften, die Vorlage bereits vorhandene ärztliche Unterlagen oder die Einwilligung in deren Beiziehung sowie die Wahrnehmung ärztlicher bzw. psychologischer Termine zur Untersuchung der Erwerbsfähigkeit (Brems in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, [5. Aufl. 2020], § 44a Rn. 49 ff. m.w.N.; Blüggel in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII [3. Aufl. 2020], § 45 Rn. 27). Für eine Überschreitung der Grenzen der Mitwirkung nach § 65 SGB I sind vorliegend für die erkennende Kammer greifbare Anhaltspunkte weder ersichtlich noch wurden solche vorgetragen.
18
Da der Antragsteller die ihm sowohl vom Jobcenter M. als auch vom Antragsgegner auferlegten und zumutbaren Mitwirkungshandlungen bislang noch nicht erfüllt hat und ihm die Nachholung der Mitwirkung zumutbar ist, steht ihm ein einfacherer Weg zur Seite, eine Auszahlung von Grundsicherungsleistungen selbst herbeizuführen (so auch SG Lüneburg, Beschluss vom 10.12.2007 - S 25 AS 1623/07 ER - Rn. 3 ff.). Damit fehlt dem Antragsteller das berechtigte Interesse, mittels eines gerichtlichen Verfahrens Rechtsschutz zu erlangen. Der Antragsteller sei vielmehr dazu angehalten, bei der Abklärung seiner Erwerbsfähigkeit entsprechend mitzuwirken und nicht noch selbst weitere Verzögerungen zu verursachen. Ein gerichtliches Eilverfahren hat nicht den Zweck, gesetzlich vorgesehene und zumutbare Mitwirkungshandlungen im Verwaltungsverfahren zu ersetzen (BayLSG, Beschluss vom 20.1.2011 - L 7 AS 21/11 B ER - Rn. 18). Ausnahmen, um hiervon abzusehen, erscheinen vorliegend weder glaubhaft noch sind solche ersichtlich (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG [12. Aufl. 2017], § 86b Rn. 26b; Wehrhahn in: Breitkreuz/Fichte, SGG [1. Aufl. 2009], § 86b Rn. 19; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens [4. Aufl. 2005], V. Rn. 46).
19
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenüber dem Antragsgegner ist damit überflüssig. Er ist als unzulässig abzuweisen.
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5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG in entsprechender Anwendung. Sie entspricht dem Ergebnis in der Hauptsache, in der der Antragsteller vollumfänglich unterlag.