Inhalt

OLG München, Hinweisbeschluss v. 04.08.2022 – 18 U 538/22
Titel:

Rückforderung von Glücksspielverlusten

Normenketten:
GlüStV Art. 4
BGB § 134, § 242, § 817
AEUV Art. 56, Art. 267
ZPO § 522, § 529
Leitsätze:
1. Das Totalverbot des Veranstaltens und Vermittelns öffentlicher Glücksspiele im Internet gem. § 4 Abs. 4 Glücksspielstaatsvertrag (GlüStV) in der bis zum 01.07.2021 gültigen alten Fassung (im Folgenden: a.F.) stellt ein Verbotsgesetz gem. §134 BGB dar. (Rn. 3)
2. § 4 Abs. 4 GlüStV a.F. beschränkt nicht in unionsrechtswidriger Weise den in Art. 56 AEUV verbürgten freien Dienstleistungsverkehr; insoweit ist auch keine Vorlage an den EuGH nach Art. 267 Abs. 3 AEUV veranlasst. Hieran ändert auch der Umstand nichts, dass §4 Abs. 4 GlüStV in der am 01.07.2021 in Kraft getretenen Fassung vorsieht, dass nun - unter den Voraussetzungen des Art. 4 Abs. 5 GlüStV neuer Fassung (im Folgenden: n.F.) - u.a. für die Veranstaltung und den Eigenvertrieb von Online-Casinospielen eine Erlaubnis erteilt werden kann, wenn keine Versagungsgründe nach Abs. 2 GlüStV n.F. vorliegen. (Rn. 5, 6 und 8)
3. Die Rückforderung der Glücksspielverluste ist jedenfalls dann nicht gemäß § 817 S. 2 BGB ausgeschlossen, wenn die insoweit darlegungs- und beweisbelastete Online-Glücksspiel-Anbieterin nicht nachgewiesen hat, dass der Spieler in subjektiver Hinsicht vorsätzlich verbots- oder sittenwidrig gehandelt oder sich der Einsicht in die Gesetz- bzw. Sittenwidrigkeit zumindest leichtfertig verschlossen hat. (Rn. 23)
Die Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts, das unter Verstoß gegen ein Gesetz abgeschlossen wurde, bleibt von der nachträglichen Aufhebung des Verbotsgesetzes grundsätzlich unberührt. Anderes kann im Einzelfall ausnahmsweise dann gelten, wenn ein Rechtsgeschäft gerade in der Erwartung und für den Fall geschlossen wird, dass das Verbotsgesetz aufgehoben werden wird. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Totalverbot, Glücksspiel, veranstalten, vermitteln, Verbotsgesetz, Unionsrecht, Dienstleistungsverkehr, Vorabentscheidung, Online-Casinospiel, Erlaubnis, Versagungsgrund, Rückforderung, Glücksspielverlust, Werbung, Internet
Vorinstanz:
LG Traunstein, Endurteil vom 20.12.2021 – 3 O 1549/21
Rechtsmittelinstanz:
OLG München, Beschluss vom 20.09.2022 – 18 U 538/22
Fundstellen:
NJOZ 2023, 1364
LSK 2022, 29939
BeckRS 2022, 29939

Tenor

1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 20.12.2021, Az. 3 O 1549/21, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.
2. Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen drei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses.

Entscheidungsgründe

I.
1
Der Senat beabsichtigt, die Berufung der Beklagten gegen das Endurteil des Landgerichts Traunstein vom 20.12.2021 gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil er einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
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Gemäß § 513 Abs. 1 ZPO kann die Berufung nur darauf gestützt werden, dass das angefochtene Urteil auf einer Rechtsverletzung im Sinne von § 546 ZPO beruht oder nach § 529 ZPO zugrunde zu legende Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen. Dies zeigt die Berufungsbegründung nicht auf. Das Landgericht hat in seinem sorgfältig und unter Auseinandersetzung mit der einschlägigen ober- und höchstrichterlichen Rechtsprechung erstellten Urteil zu Recht bereicherungsrechtliche Ansprüche des Klägers gegen die Beklagte auf Rückzahlung von bei Onlineglücksspielen erlittenen Verlusten gem. § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB bejaht und die Klage zugesprochen.
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1. Wie das Landgericht zutreffend dargelegt hat (LGU, S. 5), kann ein Verbotsgesetz i.S.d. § 134 BGB auch ein Staatsvertrag sein (siehe z.B. Ellenberger/Bunte, Bankrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2022, Rn. 58 m.w.N.). Das Totalverbot des Veranstaltens und Vermittelns gem. § 4 Abs. 4 Glücksspielstaatsvertrag (GlüStV) in der bis zum 01.07.2021 gültigen a.F. stellt ein Verbotsgesetz gem. § 134 BGB dar (BeckOGK/Vossler, 01.06.2022, BGB § 134 Rn. 219; Heidel/Hüßtege/Mansel/Noack, BGB Allgemeiner Teil / EGBGB, 4. Aufl. 2021, Rn. 183; in Bezug auf § 1 Abs. 1 Ziff. 2 SpielbVO: BGH, Urteil vom 12.07.1962 - VII ZR 28/61, NJW 1962, 1671).
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2. Soweit die Beklagte argumentiert, die Regelung in § 4 Abs. 4 GlüStV, die ein Totalverbot für virtuelle Automatenspiele ohne deutsche Erlaubnis statuiert, verstoße gegen Art. 56 AEUV, geht sie fehl. Das Landgericht hat korrekt dargelegt, dass und warum § 4 Abs. 4 GlüStV mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Die Rüge der Berufung, das Urteil des Bundesgerichtshofes vom 22.07.2021 in Sachen I ZR 194/20 stütze das angegriffene Urteil des Landgerichts nicht, weil der BGH dort das Totalverbot nicht unionsrechtlich belastbar rechtfertige, greift nicht durch. Denn dort hat der BGH abermals klargestellt, dass die RL 2005/29/EG nach ihrem ErwG 9 S. 2 nationale Vorschriften unberührt lässt, die sich - wie das Verbot der Werbung für unerlaubte Online-Casinospiele und virtuelle Automatenspiele - im Einklang mit dem Unionsrecht auf Glücksspiele beziehen. Der Klagepartei ist zwar zuzugeben, dass die einschlägigen Ausführungen im besagten Urteil des Bundesgerichtshofes eher knapp gehalten sind. Der BGH hat indes auch schon früher dargelegt, warum er das „Internetverbot“ des § 4 Abs. 4 GlüStV für mit Verfassungs- und Gemeinschaftsrecht - insbesondere auch mit Art. 56 AEUV - vereinbar hält (BGH, Urteil vom 28.09.2011 - I ZR 92/09, hier und im Folgenden - soweit nicht anders kenntlich gemacht - jeweils zitiert nach juris); der Senat schließt sich diesen Ausführungen an.
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Das Landgericht hat sich im angegriffenen Urteil zudem auch ausdrücklich die betreffenden Ausführungen im Urteil des Kammergerichts Berlin vom 06.10.2020 (Az.: 5 U 72/19) zu eigen gemacht, denen auch der Senat beitritt. Die gegen das genannte Urteil des Kammergerichts - das darlegt, dass § 4 Abs. 4 GlüStV nicht in unionsrechtswidriger Weise den in Art. 56 AEUV verbürgten freien Dienstleistungsverkehr beschränkt - erhobene Nichtzulassungsbeschwerde hat der BGH mit Beschluss vom 22.07.2021 (Az.: I ZR 199/20) zurückgewiesen. Er hat deutlich gemacht, dass der EuGH entschieden hat, dass die unionsrechtliche Kohärenzprüfung beschränkender Maßnahmen im Glücksspielsektor im Einzelfall Sache der nationalen Gerichte ist.
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3. Damit korrespondierend hat der BGH nicht nur klargestellt, dass auch er - wie das Kammergericht Berlin - nicht von einem Verstoß gegen Unionsrecht ausgeht. Er hat zudem dargelegt, dass insoweit auch keine Vorlage an den EuGH nach Art. 267 Abs. 3 AEUV veranlasst ist. Auch insoweit schließt sich der Senat dem Bundesgerichtshof an und hält es daher nicht für geboten, den EuGH - wie in der Berufungsbegründung beantragt - im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens zur Auslegung von Art. 56 AEUV zu befragen (siehe dazu auch BVerfG, Beschluss vom 30.09.2013 - 1 BvR 3196/11, BeckRS 2013, 59939 unter Ziffer 5).
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Soweit die Beklagte insoweit in ihren Schriftsatz vom 14.09.2022 (auf Seiten 6 bis 56) einen Schriftsatz an das Bundesverwaltungsgericht hineinkopiert hat, betrifft dieser nicht zuletzt die Frage, ob im dortigen verwaltungsgerichtlichen Verfahren das Bundesland Baden-Württemberg „alle erforderlichen Elemente dargelegt [hat], um seine Verbotsverwaltungsakte zu legitimieren“. Im hier zur Entscheidung stehenden Verfahren ist nach dem hiesigen Sach- und Streitstand aber gleichwohl nicht von einem „Vollzugsdefizit“ dargetan oder ersichtlich, angesichts dessen bezüglich der streitgegenständlichen Regelung im GlüStV von einer „Inkohärenz“ ausgegangen werden könnte (vgl. EuGH, Urteil vom 15.09.2011 - C-347/09 -, juris Rn. 44 und 56).
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4. Die Argumentation der Beklagten, seit Anfang 2020 habe mit der Vereinbarung des Vierten Glückspielstaatsvertrages durch alle 16 Bundesländer festgestanden, dass diese nicht an dem Totalverbot für virtuelle Automatenspiele festhalten und deshalb könne nicht darauf abgestellt werden, dass die Aufhebung des Totalverbotes förmlich erst zum 01.07.2022 in Kraft getreten sei, verhilft der Berufung nicht zum Erfolg. Zunächst ist klarzustellen, dass das Totalverbot des § 4 Abs. 4 GlüStV a.F. mitnichten aufgehoben wurde. Vielmehr sieht § 4 Abs. 4 in der am 01.07.2021 in Kraft getretenen Fassung lediglich vor, dass nun - unter den Voraussetzungen des Art. 4 Abs. 5 GlüStV n.F. - u.a. für die Veranstaltung und den Eigenvertrieb von Online-Casinospielen eine Erlaubnis erteilt werden kann, wenn keine Versagungsgründe nach Abs. 2 GlüStV n.F. vorliegen. Anders, als die Berufungsbegründung meint, entbehrt es auch insoweit jeglicher rechtlichen Grundlage, auch schon vor dem Inkrafttreten des § 4 Abs. 4 GlüStV n.F. am 01.07.2021 davon auszugehen, dass bereits im hier streitgegenständlichen Zeitraum kein Verbotsgesetz i.S.d. § 134 BGB bestanden hätte (siehe dazu auch BGH, Urteil vom 28.09.2011 - I ZR 92/09, Rn. 54). Dies gilt umso mehr, nachdem die Beklagte nach wie vor über keine Erlaubnis i.S.d. § 4 Abs. 4 GlüStV n.F. verfügt und deshalb auch nach der zwischenzeitlich in Kraft getretenen Fassung gegen das gem. § 4 Abs. 4 S. 2 GlüStV n.F. nach wie vor fortbestehende grundsätzliche Verbot verstoßen hat.
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Die Berufung verkennt, dass die Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts, das unter Verstoß gegen ein Gesetz abgeschlossen wurde, von der nachträglichen Aufhebung des Verbotsgesetzes grundsätzlich unberührt bleibt (OLG Hamm, Beschluss vom 12.11.2021 - 12 W 13/21, Rn. 16 unter Bezugnahme auf BGH, Urteil vom 03.07.2008 - III ZR 260/07, NJW 2008, 3069, Rn. 14 und Urteil vom 19.02.1997 - XII ZR 236/95, NJW-RR 1997, 641, 642). Anderes kann im Einzelfall zwar ausnahmsweise dann gelten, wenn ein Rechtsgeschäft gerade in der Erwartung und für den Fall geschlossen wird, dass das Verbotsgesetz aufgehoben werden wird (OLG Hamm, a.a.O., unter Verweis auf BGH, Urteil vom 27.06.2007 - VIII ZR 150/06, WuM 2007, 440); diese Voraussetzungen sind hier aber nicht erfüllt (siehe dazu auch KG Berlin, Urteil vom 06.10.2020 - 5 U 72/19, Rn. 50).
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5. Auch soweit die Berufung moniert, das Totalverbot sei schon deshalb nicht gerechtfertigt, weil es weder geeignet noch erforderlich sei, um die „Kanalisierungsaufgabe“ des Staatsvertrags zu erreichen, geht sie fehl.
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Insoweit hat das Landgericht (unter Bezugnahme auf BGH, Urteil vom 12.07.1962 - VII ZR 28/61, NJW 1962, 1671) zu Recht dargelegt, der hinter der Norm stehende Sinn und Zweck der Suchtprävention bzw. des Gesundheitsschutzes rechtfertige ein Verständnis als Verbotsgesetz, da dieses sich nicht lediglich gegen die Art und Weise des Zustandekommens des Spielvertrags wende, sondern das Rechtsgeschäft als solches missbillige.
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Insoweit darf zudem insbesondere auch auf die Ausführungen im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 30.09.2013 - 1 BvR 3196/11, BeckRS 2013, 59939, verwiesen werden. Dort hat das Bundesverfassungsgericht (unter Hinweis auf BVerfGK 14, 328) angemerkt, dass es bereits festgestellt habe, dass die Verbote der Veranstaltung von und der Werbung für Glücksspiel im Internet mit der Berufsfreiheit vereinbar seien. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe darin keinen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention gesehen (EGMR, Urteil vom 27. November 2012 - 21252/09 -, EuGRZ 2013, 274). Eine effektive Verfolgung der in § 1 GlüStV a.F. formulierten Ziele erfordere, dass auch private Anbieter den für die Ausübung des Glücksspielgewerbes gesetzten Grenzen unterworfen seien. Mit der Herausnahme der privaten Glücksspielveranstalter aus den Anforderungen an Vertrieb von und Werbung für Glücksspiel würden sich die Länder der Gefahr des unions- und verfassungsrechtlichen Vorwurfs einer inkohärenten Verfolgung der in § 1 GlüStV a.F. formulierten Ziele aussetzen.
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Der Bundesgerichtshof hat dargetan (Urteil vom 28.09.2011 - I ZR 92/09, juris Rn. 32 bis 76), dass der Glücksspielstaatsvertrag materiell verfassungsgemäß sei. Die durch ihn bewirkten Eingriffe in das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 GG) seien durch überragend wichtige Gemeinwohlziele gerechtfertigt, nämlich den Schutz der Bevölkerung vor den Gefahren der Glücksspielsucht und vor der mit Glücksspielen verbundenen Folge- und Begleitkriminalität. Dabei sei davon auszugehen, dass die Besonderheiten des Glücksspiels im Internet, namentlich dessen Bequemlichkeit und - im Vergleich zur Abgabe eines Lottoscheins in einer Annahmestelle - dessen Abstraktheit, problematisches Spielerverhalten in entscheidender Weise begünstigen. Das Internetverbot sei deshalb geeignet, erforderlich und angemessen, ein Gemeinwohlziel hohen Ranges zu fördern (aaO., Rn. 32 m.w.N.). Die durch den Glücksspielstaatsvertrag und die Ausführungsbestimmungen bewirkten Einschränkungen der Dienstleistungsfreiheit im Bereich der Sportwetten dienten zwingenden Gründen des Allgemeininteresses im Sinne des Unionsrechts. Ziele des Glücksspielstaatsvertrags seien die Suchtbekämpfung (§ 1 Nr. 1 GlüStV), die Begrenzung des Glücksspielangebots und die Lenkung der Wettleidenschaft (§ 1 Nr. 2 GlüStV), der Jugend- und Spielerschutz (§ 1 Nr. 3 GlüStV) sowie die Betrugsvorbeugung (§ 1 Nr. 4 GlüStV). Der Gerichtshof der Europäischen Union habe anerkannt, dass der Verbraucherschutz, die Betrugsvorbeugung, die Abwehr von Störungen der sozialen Ordnung und das Anliegen, die Bürger vor Anreizen zu überhöhten Spieleinsätzen zu bewahren, zwingende Gründe des Allgemeininteresses seien, die Beschränkungen der Spieltätigkeiten rechtfertigen könnten. Die Ziele der Suchtbekämpfung sowie des Jugend- und Spielerschutzes (§ 1 Nr. 1 und Nr. 3 GlüStV) dienten dem Schutz der Sozialordnung. Die Begrenzung des Glücksspielangebots und die Lenkung der Wettleidenschaft (§ 1 Nr. 2 GlüStV) zielten darauf ab, die Bürger vor Anreizen zu überhöhten Spieleinsätzen zu bewahren. Das Internetverbot des § 4 Abs. 4 GlüStV sei auch geeignet, die mit dem Glücksspielstaatsvertrag verfolgten Gemeinwohlziele zu fördern. Der Gerichtshof der Europäischen Union habe anerkannt, dass eine Maßnahme, mit der jedes Anbieten von Glücksspielen über das Internet verboten werde, grundsätzlich geeignet sei, die legitimen Ziele der Vermeidung von Anreizen zu übermäßigen Spielausgaben und der Bekämpfung der Spielsucht sowie des Jugendschutzes zu verfolgen, auch wenn das Angebot solcher Spiele über herkömmliche Kanäle zulässig bleibe. Denn über das Internet angebotene Spiele wiesen wegen des Fehlens eines unmittelbaren Kontakts zwischen Verbraucher und Anbieter und einer sozialen Kontrolle sowie wegen der Anonymität und Isolation der Spieler ein besonderes Gefährdungspotential für jugendliche und spielsuchtgefährdete oder spielsüchtige Verbraucher auf, das mit erhöhten Betrugsrisiken einhergehe. Dabei falle insbesondere auch die für das Internet typische besonders leichte und ständige Zugänglichkeit zu einem sehr großen internationalen Spielangebot ins Gewicht. Die Vorschrift des § 4 Abs. 4 GlüStV solle speziell diesen besonderen Gefahren des Angebots von Glücksspielen im Internet begegnen. Für die Beurteilung der unionsrechtlichen Zulässigkeit des Internetverbots komme es deshalb nicht auf die Verfügbarkeit von Glücksspielen in anderen Vertriebskanälen an, die nicht die besonderen Gefahren des Internetvertriebs aufwiesen (a.a.O., Rn. 42 bis 45 m.w.N.).
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Das Kammergericht Berlin hat - was auch aus Sicht des Senats hinsichtlich der „Kanalisierungsaufgabe“ gilt - mit Urteil vom 06.10.2020 (5 U 72/19, Rn. 47 bis 49) dargelegt, dass sich zwar - insbesondere, weil die Veranstaltung der unerlaubten Spiele zumeist aus dem Ausland heraus über das Internet erfolge - die Bekämpfung des Schwarzmarktes in den vergangenen Jahren als schwierig erwiesen habe. Auch soweit unerlaubte Glücksspielangebote untersagt worden seien und obwohl Gerichte das behördliche Vorgehen bestätigt hätten, führten Glücksspielunternehmen ihre unerlaubten Angebote aus dem Ausland heraus weiter, wo sie sich dem Zugriff deutscher Behörden weitestgehend hätten entziehen können. Rechtsvergleichende Studien hätten aber ergeben, dass in allen Regulierungsmodellen, die zum Schutz vor den aus Glücksspielen erwachsenden Gefahren mehr als nur unwesentliche Einschränkungen vorsähen, Defizite bei der Rechtsdurchsetzung im Internet gegen unerlaubte Angebote bestünden. Zudem handele es sich hier nicht um ein dem Regelungssystem oder gar dem Behördenwillen (oder Mitbewerberwillen) geschuldetes, also „strukturelles“, sondern allenfalls um ein „faktisches Vollzugsdefizit“, weil den zahlreichen Verbotsverstößen und dem „geschickten“ Vorgehen der Rechtsbrecher nicht in dem Ausmaß und der Vollständigkeit beizukommen sei, wie dies vielleicht wünschenswert wäre. Dies könne aber - was keiner weiteren Vertiefung bedürfen solle - nicht dazu führen, die Verbotsnormen als unanwendbar einzustufen und die Massenverstöße überhaupt nicht mehr zu verfolgen. Denn das hieße, dass die zahlreichen Rechtsbrecher ihr rechtswidriges Handeln selbst „legalisieren“ könnten, indem sie in einem Ausmaß und in einer dergestalt „geschickten“ Weise vorgingen, dass sich dies nicht mehr vollumfänglich und nachhaltig - und - bei einer solchen Betrachtungsweise - schließlich aus Rechtsgründen sogar überhaupt nicht mehr unterbinden ließe. Sonach könne auch mit Blick auf ein „Vollzugsdefizit“ insoweit von einer „Inkohärenz“ der aktuell gültigen Regelung keine Rede sein. Der Bundesgerichtshof hat die besagte Entscheidung des Kammergerichts Berlin gebilligt (BGH, Beschluss vom 22.07.2021 - I ZR 199/20).
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Der Senat macht sich die vorstehenden Ausführungen im angegriffenen Urteil des Landgerichts ebenso wie diejenigen des Bundesverfassungsgerichts, des Bundesgerichtshofs und des Kammergerichts zu eigen. Die genannten Zitate (siehe z.B. auch OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 08.04.2022 - 23 U 55/21, BeckRS 2022, 12872, Rn. 46) widerlegen überdies auch die Behauptung aus der Berufungsbegründung, es hätte sich noch kein deutsches Gericht in einschlägigen Judikaten damit auseinandergesetzt, ob das (frühere) Totalverbot geeignet sowie im Hinblick auf die Ziele des Staatsvertrages auch erforderlich und kohärent sei sowie ob die Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit insoweit gerechtfertigt sei.
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In den Blick zu nehmen ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeit ergänzend ferner die Einschätzungsprärogative. Die Berufung scheint wohl davon auszugehen, wenn das frühere Totalverbot in der Neufassung des Glücksspielstaatsvertrages abgemildert und stattdessen eine Erlaubnisfähigkeit statuiert wird, könne das damalige Totalverbot nicht verhältnismäßig gewesen sein. Dies greift zu kurz. Entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten führt auch allein der Umstand, dass trotz eines Totalverbots eine Nachfrage nach virtuellen Automatenspielen bestand und von Spielern in dem im EU-Ausland regulierten und überwachten Graumarkt oder sogar im unregulierten Schwarzmarkt befriedigt wurde, nicht etwa ohne Weiteres dazu, dass das Totalverbot sich per se zwingend als ungeeignet und deswegen unverhältnismäßig dargestellt hätte.
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6. Wie auch die Berufung einräumt, geht das Bundesverwaltungsgericht ebenfalls davon aus, dass § 4 Abs. 4 GlüStV a.F. im Einklang mit Unions- und Verfassungsrecht steht (BVerwG, Urteil vom 26.10.2017 - 8 C 18/16, BVerwGE 160, 193 = NVwZ 2018, 895). Der Einwand der Beklagten, das BVerwG habe es verabsäumt, wie geboten seine Vorlagepflicht an den EuGH wahrzunehmen, geht fehl; wie oben (unter Ziffer 3) dargelegt, bestand nämlich keine Vorlagepflicht. Soweit die Beklagte moniert, die Prüfung seitens des BVerwG sei defizitär, weil u.a. nicht erörtert worden sei, ob das Totalverbot geeignet und erforderlich sei, um die Kanalisierungsaufgabe des Staatsvertrags zu erfüllen, teilt der Senat diese Auffassung nicht. Denn erstens geht der Senat aus den oben erörterten Gründen davon aus, dass das Totalverbot gerechtfertigt war; zweitens hat das Bundesverwaltungsgericht in der besagten Entscheidung - entgegen der anderslautenden Rüge der Berufung - unter Bezugnahme auf einschlägige Rechtsprechung im Einzelnen dargelegt, dass und warum ein generelles Internetverbot für öffentliches Glücksspiel mit der Verfassung - insbesondere mit dem Grundrecht der Berufsfreiheit und dem allgemeinen Gleichheitssatz - sowie mit Unionsrecht vereinbar ist (a.a.O., S. 898 ff. unter Rn. 30 ff.).
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Die These der Berufung (auf Seite 6 = Bl. 155 d.A. unter Rn. 24), dem Bundesverwaltungsgericht sei es nicht „um die richtige Auslegung und Anwendung des Unionsrechts gegangen“, sondern es habe schlicht die Untersagungsverfügung bestätigen und eine ungewollte Vorlage an den EuGH vermeiden wollen, hält der Senat mithin nicht für nachvollziehbar.
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7. Die Argumentation der Berufung zum Beibringungsgrundsatz bzw. zu einer Darlegungslast der Klagepartei beruht schließlich auf einem grundsätzlichen Fehlverständnis. Einem Kläger obliegt es im deutschen Zivilprozess noch nicht einmal, irgendeine Norm zu benennen, auf die er seinen Anspruch stützen will (es gilt also noch immer iura novit curia und da mihi facta, dabo tibi ius). Unabhängig von der Feststellungsund Entscheidungspflicht des Richters über die Rechtslage dürfen sich die Parteien zwar zu allen Rechtsfragen (Rechtsgeltung, Rechtsinhalt, Auslegung, Anwendung) äußern; hierzu besteht jedoch keinerlei Verpflichtung (vgl. hierzu z.B. MüKoZPO/Prütting, 6. Aufl. 2020, ZPO § 293 Rn. 2 ff.).
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Erst recht muss die Klagepartei nicht darlegen und ggf. beweisen, aus welchen Gründen die Normen, auf die der mit einer Klage geltend gemachte Anspruch gestützt wird, formell und materiell verfassungsgemäß und unionsrechtskonform sind, weil sie u.a. geeignet sind, das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel zu erreichen, nicht das Übermaßverbot verletzen und mit den Grundrechten bzw. in deren Anwendungsbereich mit den unionsrechtlichen Grundfreiheiten vereinbar sind. Nach der - unzutreffenden - Rechtsansicht der Beklagten müsste ein Gericht nach dem Sach- und Streitstand eines Verfahrens prüfen, ob eine Norm bei dieser Sachlage verfassungswidrig bzw. in dessen Anwendungsbereich unionsrechtswidrig wäre und ggf. eine konkrete Normenkontrolle gem. Art. 100 Abs. 1 GG bzw. ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 Abs. 3 AEUV in die Wege leiten. Würde ein beklagtes Glücksspielunternehmen vortragen, einem Glücksspiel komme keinerlei Suchtpotential zu und eine Klagepartei würde dies nicht bestreiten, müsste das Gericht nach Meinung der hiesigen Beklagten also wohl das Bundesverfassungsgericht nach der Vereinbarkeit eines betreffenden Verbots mit der Berufsfreiheit aus Art. 12 GG bzw. im Anwendungsbereich des Unionsrechts den EuGH nach einem Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit aus Art. 56 AEUV befragen. Dieser Ansatz geht aber fehl. Vielmehr legt ein Gericht dann vor, wenn es ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig hält (Art. 100 Abs. 1 GG; zu einem Staatsvertrag als zulässigem Vorlagegegenstand i.R.d. Art. 100 Abs. 1 GG, wenn Landtage der Bundesländer diesem zugestimmt und ihn somit in den Rang eines formellen nachkonstitutionellen Landesgesetzes erhoben haben, siehe z.B. BVerfG, Beschluss vom 07.05.1974 - 2 BvL 17/73, NJW 1974, 1812, 1813) bzw. wenn es im Anwendungsbereich des Unionsrechts eine Entscheidung über die Auslegung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält (Art. 267 Abs. 1 lit.a. Abs. 3 AEUV). Das vorlegende Gericht muss i.R.d. Art. 100 Abs. 1 GG deutlich machen, mit welchem verfassungsrechtlichen Grundsatz die zur Prüfung gestellte Regelung seiner Ansicht nach nicht vereinbar ist und aus welchen Gründen es zu dieser Auffassung gelangt ist (BVerfG, Beschluss vom 2. 5. 2012 - 1 BvL 20/09, NJW 2012, 2176, 2176, Rn. 68 m.w.N. - Hervorhebung durch den Senat). Auch beim Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ist eine Vorlage geboten, wenn das nationale Gericht selbst von der Unionsrechtswidrigkeit eines nationalen Rechtsaktes überzeugt ist (Calliess/Ruffert/Wegener, 6. Aufl. 2022, AEUV Art. 267 Rn. 30 - Hervorhebung durch den Senat); ein Vorabentscheidungsersuchen ist dabei nicht von einem Parteiantrag abhängig (Grabitz/Hilf/Nettesheim/Karpenstein, 75. EL Januar 2022, AEUV Art. 267 Rn. 31).
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Nach diesen Maßgaben ist vorliegend - wie bereits oben dargetan - auch unter Berücksichtigung der Ausführungen in der Berufungsbegründung zur Überzeugung des Senats weder dargetan noch ersichtlich, dass das in § 4 Abs. 4 GlüStV a.F. normierte Totalverbot die Verbürgungen der Dienstleistungsfreiheit aus Art. 56 AEUV verletzen würde, noch dass insoweit in Fallgestaltungen außerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts ein Verstoß gegen das Grundgesetz vorliegen würde.
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Der Vollständigkeit halber ist außerdem anzumerken, dass die Klagepartei unter ausdrücklicher Bezugnahme auf einschlägige Rechtsprechung dezidiert zur Eignung des Internetverbots sowie zu dessen Verhältnismäßigkeit und seiner Vereinbarkeit mit Unionsrecht vorgetragen hat (siehe Replik, S. 15/23 = Bl. 82/90 d.A.). Darauf, dass das beklagtenseits nun in der Berufungsbegründung unterbreitete Beweisangebot eines Sachverständigengutachtens überdies verspätet ist, kommt es aus den vorstehenden Gründen nicht mehr an.
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8. Hinsichtlich der übrigen tragenden Aspekte des landgerichtlichen Urteils, das zutreffend u.a. dargelegt hat, dass der Sachverhalt nach deutschem Sachrecht zu beurteilen ist sowie dass sich ein Rückzahlungsanspruch - entgegen der erstinstanzlichen Argumentation der Beklagten - aus § 812 Abs. 1 S.1 Alt. 1 BGB ergibt und dass die Rückforderung der Beträge weder nach § 817 S. 2 BGB noch gem. § 672 BGB oder nach § 242 BGB ausgeschlossen ist, enthält die Berufung keine Angriffe. Insoweit erscheinen hier daher keine ergänzenden Ausführungen veranlasst.
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9. Das Urteil des Landgerichts erweist sich mithin als zutreffend und hält den Berufungsangriffen uneingeschränkt stand. Die vom Landgericht angesichts der bejahten Ansprüche gem. § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB offen gelassene Frage, ob dem Kläger gegen die Beklagte darüber hinaus auch deliktische Schadenersatzansprüche aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 4 Abs. 4 GlüStV bzw. i.V.m. § 284 StGB zustehen, kann daher auch im Berufungsverfahren dahinstehen.
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10. Eine Zulassung der Revision ist nicht veranlasst, da Zulassungsgründe im Sinne von § 543 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen (siehe dazu auch BGH, Beschluss vom 22.07.2021 - I ZR 199/20).
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11. Es ist beabsichtigt, den Streitwert für das Berufungsverfahren auf 18.175,00 € festzusetzen.
II.
27
Zur Vermeidung weiterer Kosten regt der Senat die Rücknahme der offensichtlich unbegründeten Berufung an. Im Falle der Berufungsrücknahme ermäßigen sich die Gerichtskosten des Berufungsverfahrens von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses zum Gerichtskostengesetz).