Titel:
Ausweisung, Irak, Betäubungsmittelabhängigkeit, Drogenhandel, Geplante Legalisierung von Cannabis, Gefährlichkeit Cannabis, Heilungschancen betreffend Cannabisabhängigkeit
Schlagworte:
Ausweisung, Irak, Betäubungsmittelabhängigkeit, Drogenhandel, Geplante Legalisierung von Cannabis, Gefährlichkeit Cannabis, Heilungschancen betreffend Cannabisabhängigkeit
Vorinstanz:
VG Ansbach, Urteil vom 20.07.2022 – AN 5 K 22.1403
Fundstellen:
InfAuslR 2023, 108
LSK 2022, 29802
BeckRS 2022, 29802
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,00 € festgesetzt.
Gründe
1
Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg.
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Der gemäß Aktenlage am ... 1984 geborene Kläger, irakischer Staatsangehöriger, der erstmals im Jahr 2006 in das Bundesgebiet einreiste, der im Rahmen des damals erfolglos durchgeführten Asylverfahrens (ablehnender Bescheid vom 16.11.2006) durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) unter Androhung der Abschiebung insbesondere in den Irak aufgefordert wurde, das Bundesgebiet zu verlassen, der im Jahr 2010 in den Irak zurückkehrte, dort eine irakische Staatsangehörige heiratete (3 Kinder), der mit seiner Familie spätestens im Februar 2017 wieder in das Bundesgebiet einreiste und dessen Asylfolgeantrag das Bundesamt mit Bescheid vom 13. April 2017 ebenso ablehnte wie dessen Antrag auf Abänderung des Bescheids vom 16. November 2006 hinsichtlich der Feststellung nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG, wobei das Bundesamt den Kläger unter Androhung der Abschiebung insbesondere in den Irak aufforderte, das Bundesgebiet innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheides zu verlassen, begehrt die Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 20. Juli 2022, durch das seine Klage gegen den Bescheid des Beklagten vom 11. Mai 2022 abgewiesen worden ist. Mit diesem Bescheid hat der Beklagte den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (Nr. 1), ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet (Nr. 2), das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf die Dauer von 8 Jahren ab dem Verlassen des Bundesgebiets befristet (Nr. 3) und die sofortige Vollziehung der Maßnahme unter Nr. 2 angeordnet (Nr. 4). Ausweisungsanlass bildete die Verurteilung des vordelinquenten und betäubungsmittelabhängigen (Cannabinoide nach ICD-10 F12.21 sowie Stimulanzien nach ICD-10 F15.21) Klägers vom 25. Juni 2021 (durch das Landgericht N.-F. aufgrund Verständigung und unter Verfahrensbeschränkung) wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen, in einem Fall hiervon in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubtem Erwerb von Betäubungsmitteln und des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge mit Waffen in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren, zwei Monaten unter Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach einem Vorwegvollzug von zwei Jahren, sieben Monaten. Der Verurteilung lag im Wesentlichen zugrunde, dass der Kläger zusammen mit anderen Personen (u.a. einer mitverurteilten rumänischen Prostituierten, mit der der Kläger liiert war/ist) spätestens seit 2018 in großem Umfang einen Handel mit Rauschgift (insbesondere Marihuana und Methamphetamin, aber auch Kokain) betrieb, um sich dadurch eine auf Dauer angelegte nicht unerhebliche Einnahmequelle zu verschaffen. Er bezog das Rauschgift bundesweit von verschiedenen Händlern, ließ es nach N. schaffen, um es in verschiedene Bunkerwohnungen zu verbringen und sodann gewinnbringend an seine Abnehmer zu verkaufen. Nachgewiesen und abgeurteilt wurden eine Vielzahl derartiger Lieferungen/Geschäfte.
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Das der rechtlichen Überprüfung durch den Senat ausschließlich unterliegende Vorbringen in der Begründung des Zulassungsantrags (§ 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO) rechtfertigt keine Zulassung der Berufung. Der ausschließlich geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), dessen Beurteilung sich grundsätzlich nach dem Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts richtet (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 12), sodass eine nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage bis zum Zeitpunkt der Entscheidung in dem durch die Darlegung des Rechtsmittelführers vorgegebenen Prüfungsrahmen zu berücksichtigen ist (BayVGH, B.v. 20.2.2017 - 10 ZB 15.1804 - juris Rn. 7), liegt nicht vor. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils ergeben sich aus dem Zulassungsvorbringen des Klägers auch unter Berücksichtigung der aktuellen Entwicklung nicht.
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Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestünden nur dann, wenn die Klägerseite im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 - 1 BvR 814/09 - juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 - 1 BvR 2453/12 - juris Rn. 16). Solche schlüssigen Gegenargumente liegen bereits dann vor, wenn im Zulassungsverfahren substantiiert rechtliche oder tatsächliche Umstände aufgezeigt werden, aus denen sich die gesicherte Möglichkeit ergibt, dass die erstinstanzliche Entscheidung unrichtig ist (BVerfG, B.v. 20.12.2010 - 1 BvR 2011/10 - juris Rn. 19). Es reicht nicht aus, wenn Zweifel lediglich an der Richtigkeit einzelner Rechtssätze oder tatsächlicher Feststellungen bestehen, auf welche das Urteil gestützt ist. Diese müssen vielmehr zugleich Zweifel an der Richtigkeit des Ergebnisses begründen. Das wird zwar regelmäßig der Fall sein. Jedoch schlagen Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente nicht auf das Ergebnis durch, wenn das angefochtene Urteil sich aus anderen Gründen als richtig darstellt (BVerwG, B.v. 10.3.2004 - 7 AV 4/03 - juris Rn. 9).
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Zur Begründung seines Zulassungsantrags trägt der Kläger vor, nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs stehe es den Mitgliedsstaaten zwar frei, Straftaten wie die in Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV angeführten als besonders schwere Beeinträchtigung eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses anzusehen, die geeignet ist, die Ruhe und die physische Sicherheit der Bevölkerung unmittelbar zu bedrohen und die damit unter dem Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit fallen kann, mit denen gemäß „Art. 28 Abs. 3“ eine Ausweisungsverfügung gerechtfertigt werden kann, sofern die Art und Weise der Begehung solcher Straftaten besonders schwerwiegende Merkmale aufweist. Dies sei vom vorlegenden Gericht auf der Grundlage einer individuellen Prüfung des konkreten Falles, mit dem es befasst sei, zu klären. Das Urteil des Verwaltungsgerichts setze sich jedoch nur oberflächlich mit der Art und Weise der Begehung der Straftat durch den Kläger und/oder solcher besonders schwerwiegenden Merkmale der Begehung der Straftat auseinander. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs setze jede Ausweisungsverfügung voraus, dass das persönliche Verhalten des Betroffenen eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstelle, die ein Grundinteresse der Gesellschaft oder des Aufnahmemitgliedsstaats berühre, wobei diese Feststellung im Allgemeinen bedeute, dass eine Neigung des Betroffenen bestehen müsse, das Verfahren in Zukunft beizubehalten. Bevor der Aufnahmemitgliedsstaat eine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfüge, habe er insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet dieses Staates, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in diesem Staat und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen. Zwar sei im Ansatz erkennbar, dass sich das Verwaltungsgericht insbesondere mit der Dauer des Aufenthaltes des Klägers im Bundesgebiet, dem Alter, seinem Gesundheitszustand, seiner familiären wirtschaftlichen Lage etc. auseinandergesetzt habe, übersehe dabei aber, dass der Kläger inzwischen erfolgreich eine Drogentherapie bestreite. Die vom Kläger begangenen Straftaten basierten auf eine Betäubungsmittelabhängigkeit des Klägers. Inzwischen habe der Kläger jedoch die Gelegenheit erhalten, diese Betäubungsmittelabhängigkeit, also seine Erkrankung, durch Absolvierung einer Drogentherapie behandeln zu lassen. Der Verlauf der Therapie sei wohl unstrittig bislang erfolgreich. Betäubungsmittelabhängigkeit sei eine Erkrankung, dem Kläger könne das Vorliegen einer Erkrankung nicht entgegengehalten werden. Dies habe nichts mit entsprechenden Neigungen des Klägers im Hinblick auf die Begehung von Betäubungsmittelstraftaten zu tun, insbesondere, wenn davon ausgegangen werden könne, dass die absolvierte Drogentherapie erfolgreich bestritten werde. Die Frage also, ob das persönliche Verhalten des Klägers eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstelle, die ein Grundinteresse der Gesellschaft oder des Aufnahmemitgliedsstaats berühre, könne folglich nur dadurch beantwortet werden, ob die für die Straftaten ursächliche Betäubungsmittelerkrankung noch vorliege oder nicht. Zu dieser Frage hätten weder „die Beklagte“ noch das Verwaltungsgericht Feststellungen getroffen. Allein das Abstellen darauf, dass im Allgemeinen Drogenabhängige nach Absolvierung einer Drogentherapie rückfallgefährdet seien, stelle keine hinreichende Auseinandersetzung „der Beklagten“ und des Verwaltungsgerichts mit dem hier vorliegenden Einzelfall im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes dar. Darüber hinaus müsse im Hinblick auf eine hinreichende Wahrscheinlichkeit der Begehung weiterer Straftaten durch den Kläger berücksichtigt werden, dass es zukünftig Straftaten, die im Hinblick auf die aufenthaltsrechtliche Entscheidung dem Kläger entgegengehalten würden, nicht mehr geben werde. Es werde auch keine öffentliche Drogenszene in dieser Art mehr geben und werde gerade im Umgang mit weichen Drogen eine Legalisierung erfolgen. Es sei daher im Fall des Klägers auch nicht (mehr) von einer fortbestehenden, gegenwärtigen, tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung der öffentlichen Ordnung auszugehen. Dies nicht nur im Hinblick auf die vom Kläger absolvierte Therapie, sondern eben gerade auch im Hinblick auf die bevorstehende gesetzliche Legalisierung sog. weicher Drogen. Wie allseits bekannt sein dürfte, habe die jetzige Bundesregierung im Koalitionsvertrag vereinbart, gerade diese weichen Drogen zu legalisieren. Es sei mit einem Gesetzesentwurf noch in diesem Jahr zu rechnen (Zitat einer SPD-Bundestagsabgeordneten). Der Kläger habe sich zwar nicht nur im Zusammenhang mit sog. weichen Drogen strafbar gemacht, aber jedoch zum großen Teil und es sei im Hinblick auf die bevorstehende Legalisierung dieser sog. weichen Drogen die anzustellende Prognose bezogen auf die Wahrscheinlichkeit der Begehung weiterer, insbesondere welcher (?) Straftaten durch den Kläger neu auszurichten und anzupassen, was der Durchführung des Berufungsverfahrens vorbehalten bleiben müsse.
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Diese Rügen zeigen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils auf.
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Das Verwaltungsgericht hat selbstständig tragend sein klageabweisendes Urteil auch darauf gestützt, dass es die durch den Beklagten mit generalpräventiven Erwägungen begründete Ausweisung nicht beanstandet hat. Hiergegen gerichtete Ausführungen sind dem Zulassungsvorbringen des Klägers nicht zu entnehmen. Jedenfalls genügt er nicht dem Darlegungsgebot (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO). Schon deshalb kann sein Zulassungsantrag betreffend die verwaltungsgerichtliche Einschätzung, der Aufenthalt des Klägers gefährde die öffentliche Sicherheit und Ordnung, keinen Erfolg haben.
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1. Mit seinem Zulassungsvorbringen hat der Kläger die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts nicht ernstlich im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in Zweifel gezogen.
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Auch unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens ist nach dem persönlichen Verhalten des Klägers weiter von einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung nach § 53 Abs. 1 AufenthG auszugehen. Die Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass von dem Kläger auch weiterhin eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht und aus der Entwicklung des Klägers nach der Anlassverurteilung nicht darauf zu schließen ist, dass die durch die vergangenen Straftaten indizierte Gefährlichkeit des Klägers beseitigt ist, ist nicht zu beanstanden.
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Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 18). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (BayVGH, U.v. 30.10.2012 - 10 B 11.2744 - juris Rn. 33 m.w.N.). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr; vgl. z.B. BayVGH, U.v. 30.10.2012 - 10 B 11.2744 - juris Rn. 34; BVerwG, U.v. 4.10.2012 - 1 C 13.11 - Rn. 18).
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Was die Prognose der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts im Hinblick auf Drogenstraftaten angeht, ist zudem festzuhalten, dass Betäubungsmitteldelikte zu den schweren, Grundinteressen der Gesellschaft berührenden und schwer zu bekämpfenden Straftaten gehören. Die Folgen, insbesondere für junge Menschen, können äußerst gravierend sein. Der Gerichtshof der Europäischen Union sieht in der Rauschgiftsucht ein „großes Übel für den Einzelnen und eine soziale und wirtschaftliche Gefahr für die Menschheit“ (vgl. EuGH, U.v. 23.11.2010 - RsC-149/09, „Tsakouridis“ NVwZ 2011, 221 Rn. 47). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat mehrfach klargestellt, dass es bei der Verurteilung eines Ausländers wegen eines Betäubungsmitteldelikts - wie vorliegend - in Anbetracht der verheerenden Auswirkungen von Drogen auf die Bevölkerung Verständnis dafür hat, dass die Vertragsstaaten in Bezug auf diejenigen, die zur Verbreitung dieser Plage beitragen, entschlossen durchgreifen (U.v. 30.11.1999 - Nr. 3437-97 „Baghli“ NVwZ 2000, 1401, U.v. 17.4.2013 - Nr. 52853/99 „Yilmaz“ NJW 2004, 2147; vgl. auch OVG NRW, B.v. 17.3.2005 - 18 B 445.05 - juris). Die von unerlaubten Betäubungsmitteln ausgehenden Gefahren betreffen die Schutzgüter des Lebens und der Gesundheit, welche in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Werteordnung einen hohen Rang einnehmen. Rauschgiftkonsum bedroht diese Schutzgüter der Abnehmer in hohem Maße und trägt dazu bei, dass deren soziale Beziehungen zerbrechen und ihre Einbindung in wirtschaftliche Strukturen zerstört wird. Die mit dem Drogenkonsum häufig einhergehende Beschaffungskriminalität schädigt zudem die Allgemeinheit, welche ferner auch für die medizinischen Folgekosten aufkommen muss (BayVGH, B.v. 14.3.2013 - 19 ZB 12.1877).
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Bei Straftaten, die ihre Ursache in einer Suchterkrankung haben, kann von einem Entfallen der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange eine entsprechende Therapie nicht (vollständig) erfolgreich abgeschlossen ist und sich der Betreffende nach Therapieende hinreichend in Freiheit bewährt hat (vgl. BayVGH, B.v. 2.2.2022 - 10 ZB 21.3030 - juris; B.v. 3.9.2021 - 19 ZB 21.1771 - juris Rn. 21; ebenso auch OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 11.6.2020 - OVG 11 N 55-19 - juris Rn.16-18). Allein aus dem Beginn einer Therapie kann noch nicht auf ein künftiges straffreies Leben geschlossen werden; eine angetretene Therapie im Rahmen des Maßregelvollzugs findet unter dessen schützenden Bedingungen und Kontrollen statt, sodass ein etwaiges Wohlverhalten dort wenig Aussagekraft für ein künftiges Verhalten in Freiheit hat (vgl. BayVGH, B.v. 16.8.2021 - 19 ZB 19.2491 - juris Rn. 12).
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Bei Absolvierung einer angeordneten Therapie liegen die Erfolgschancen im Allgemeinen bereits deutlich unter 50% (vgl. Fabricius in Körner/Patzak/Volkmer, BtMG, 9. Aufl. 2019, § 35 Rn. 46 ff.: nur 25% der beobachteten Personen blieben strafrechtlich unauffällig und dürften eine Chance der sozialen Reintegration und der gesundheitlichen Stabilisierung erlangt haben; „bescheidene Erfolge“; laut Klos/Görgen, Rückfallprophylaxe bei Drogenabhängigkeit, 2. Aufl. 2020, S. 18 ff. ist mit Rückfällen zu rechnen und eine langfristige Therapiestrategie angezeigt, Rückfälle seien eher die Regel als die Ausnahme). Den vorliegenden Untersuchungen zufolge sind die Erfolgschancen weiterer Therapien umso geringer und die Rückfalldelinquenz umso häufiger, je mehr erfolglose Therapien vorangegangen sind (Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V., Nr. 4.6 der Auswertung der Katamnesedaten zum Entlassungsjahrgang 2011 - Drogeneinrichtungen - Stand: August 2013; als Grund für diese Chancenverschlechterung wird eine Chronifizierung der Sucht angenommen; vgl. auch Klos/Görgen, Rückfallprophylaxe bei Drogenabhängigkeit, 2. Aufl. 2020, S. 36 ff. zur spezifischen und hohen Rückfallgefährdung drogenabhängiger Menschen aufgrund der Chronizität ihrer Erkrankung). Ein früh begonnener und verfestigter langjähriger Drogenkonsum sowie eine Neigung zu deviantem Verhalten bzw. Delinquenz stellt auch nach Abschluss einer Behandlung ein erhebliches Rückfallrisiko dar (vgl. Klos/Görgen, a.a.O., S. 29).
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Davon ausgehend ist zunächst festzuhalten, dass der Kläger tiefgreifend und langanhaltend betäubungsmittelabhängig ist. Dem Anlassurteil des Landgerichts N.-F. ist zu entnehmen, dass der Drogenmissbrauch des Klägers bis in das Jahr 2001 zurückgeht. Das Landgericht stellt auch den regelmäßigen (zuletzt täglichen) Konsum von Methamphetamin bzw. (zuletzt zweimal wöchentlich) von Kokain dar. Der Sachverständige Dr. W. führte u.a. aus, beim Kläger bestehe eine Abhängigkeitserkrankung von Cannabinoiden sowie Stimulanzien, ein Hang, psychotropische Substanzen im Übermaß zu konsumieren, sei unter klinischen Aspekten zu bestätigen, der Kläger sei ein intensiver und regelmäßiger, täglicher Konsument, der seit Jahren keine Abstinenzphasen mehr habe erreichen können. Ein symptomatischer Zusammenhang sei insbesondere wegen des eigenen Konsums der gegenständlichen Substanzklassen offensichtlich. Die Wiederholungsgefahr für gleichgelagerte Straftaten bewertete der Sachverständige gemäß Urteil als sehr hoch, würde der Kläger seinen Konsum fortsetzen. Es sei zu erwarten, dass er aufgrund seiner begrenzten, finanziellen Mittel, in ihm bekannte Beschaffungsmethoden zurückfallen werde, um seinen eigenen Konsum finanzieren zu können.
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Dies zugrunde gelegt geht von dem hochkriminellen Kläger (im Hinblick auf die Schwere der Delinquenz hat das Landgericht ausgeführt, bei den Straftaten des Klägers habe es sich in jedem Einzelfall um hohe Rohmengen an Betäubungsmitteln gehandelt, die auch jeweils einen hohen Wirkstoffanteil aufgewiesen hätten, sodass auch die Grenze zur nicht geringen Menge jeweils in einem erheblichen Maße überschritten worden sei; zu Lasten des Klägers habe die Kammer überdies gewertet, dass die Tatbegehung ihrer konkreten Ausgestaltung nach von immenser krimineller Energie zeuge, da etwa mehrere Bunkerwohnungen zur Abwicklung der Rauschgiftgeschäfte benutzt worden seien; auch habe die Kammer bezüglich eines Tatkomplexes zu Lasten des Klägers gewertet, dass gleich 2 Messer in 2 verschiedenen Wohnungen zu Verteidigungszwecken vorgehalten worden seien) weiterhin eine hohe Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus. Der Kläger hat bereits nichts dafür dargelegt und es ist auch (abgesehen von wohl vom Kläger aus der Luft gegriffenen Behauptungen) nichts dafür ersichtlich, dass der sich im Vorwegvollzug befindliche Kläger eine Drogentherapie angetreten, geschweige denn erfolgreich absolviert und sich sodann ausreichend bewährt hat.
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Zurecht weist der Beklagte zudem darauf hin, dass etwaige Beratungsgespräche zur Behandlung seiner Betäubungsmittelabhängigkeit in der Strafhaft (auch dazu hat der Kläger nichts dargelegt) nicht ausreichen, um die mit einem erfolgreichen Abschluss einer Drogentherapie verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens nach Therapieende glaubhaft zu machen.
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Soweit der Kläger auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV hinweist, zudem (wohl) auf die Voraussetzungen des Art. 28 Abs. 3 der RL-2004/38/EG verweist, ist er wohl der Auffassung, das vorliegende Verfahren betreffe eine Verlustfeststellung gemäß § 6 FreizügG/EU. Zurecht weist der Beklagte darauf hin, dass der Kläger als Iraker offensichtlich nicht (wie insoweit erforderlich) zu den Personen gehört, die gemäß § 2 Abs. 2 FreizügG/EU unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt sind. Die Ausführungen des Klägers erfolgen insoweit offensichtlich irrig. Nämliches gilt, soweit der Kläger ggf. mit seinen Ausführungen auf die für bestimmte türkische Staatsangehörige geltende Vorschrift des § 53 Abs. 3 AufenthG abstellen will.
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Soweit der Kläger seine künftige Gefährlichkeit im Hinblick auf seinen Vortrag, die Bundesregierung plane die Legalisierung sog. weicher Drogen, verneinen will, ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich, unter welchen Bedingungen in einem insoweit relevant zeitlich absehbaren Rahmen der Handel mit und der Konsum von Marihuana „legal“ werden könnte. Den allgemein zugänglichen Medien ist insoweit zu entnehmen, dass gemäß den Überlegungen des Bundesgesundheitsministers (Legalisierung von Kauf und Besitz von Cannabis ab dem Alter von 18 Jahren unter Begrenzung des berauschenden Wirkstoffs THC im allgemeinen und im besonderen für Menschen von 18 bis 21 Jahren - zur Verhinderung cannabisbedingter Gehirnschädigungen -, beabsichtigtes Gesetzgebungsverfahren 2023, avisierte Freigabe ab 2024 - vorbehaltlich einer Vereinbarkeit insbesondere mit EU-Recht), ein eingeschränkter und kontrollierter Erwerb (in lizensierten Fachgeschäften, ggf. auch in Apotheken) und Besitz von sog. Genusscannabis freigegeben werden könnte, ohne dass dies ersichtlich ausschlaggebende Auswirkungen auf die hier zu prüfende Wiederholungsgefahr betreffend eine Rauschgifthändlertätigkeit (hier Marihuana) des Klägers hätte. Denn es verbleibt ersichtlich auch künftig eine Vielzahl von Möglichkeiten eines strafbaren Drogenhandels auch betreffend Cannabis/Marihuana. Im Übrigen ist unabhängig davon festzuhalten, dass sich die Suchtproblematik und die Wiederholungsgefahr einer Drogenhändlertätigkeit des Klägers (auch) auf (insbesondere) Methamphetamin und Kokain bezieht, mithin Rauschgifte, deren „Legalisierung“ die Bundesregierung nicht in den Blick nimmt. Auch spricht der diesbezügliche Vortrag des Klägers nicht für ein seine Gefährlichkeit minderndes Unrechtsbewusstsein und stellt die vom Landgericht zu seinen Gunsten gewertete Schuldeinsicht und Reue in Frage.
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Fällt der Kläger mithin in den Drogenkonsum und in die Beschaffungskriminalität (insbesondere im Zusammenhang mit dem Rauschgifthandel) zurück, bleibt weiterhin zu betonen, dass bereits der Handel mit Cannabis/Marihuana (und nicht nur der zu erwartende Handel mit z.B. Methamphetamin) insbesondere bei einem anschließenden Konsum durch Kinder bzw. Jugendliche zu schwerwiegenden negativen Folgen führt. Neuere wissenschaftliche Untersuchungen belegen die dauerhafte Veränderung der Hirnstruktur und des Verhaltens bei Jugendlichen und die Erhöhung des Risikos u.a. für psychotische Störungen wie cannabisinduzierte Psychosen und Schizophrenien sowie affektive Störungen wie Depressionen, Angststörungen, bipolare Störungen, Suizidalität (Studie Albaugh u.a. in JAMA psychiatry 2021, 78(9), 1031-1040; vgl. auch Horn/Friemel/Schneider, Abschlussbericht Cannabis, Potenzial und Risiko, Stand 11/2018, www.bundesgesundheitsministerium.de). Was die Therapiechancen insoweit Abhängiger angeht, spricht betreffend Cannabis Thomasius, Ärztlicher Leiter am Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters, Universitätsklinikum Hamburg, von bescheidenen Behandlungserfolgen; langfristig abstinent seien nach einer Therapie nur etwa 25% der Patienten; zit. nach aok-Gesundheitsmagazin, 31.5.2021, www.aok.de).
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2. Mit seinem Zulassungsvorbringen hat der Kläger die Gesamtabwägung des Verwaltungsgerichts gemäß § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG nicht ernstlich im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in Zweifel gezogen. Insoweit äußert sich der Kläger, bei dem besonders schwerwiegende Ausweisungsinteressen nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 und 1b AufenthG bestehen (das Strafmaß gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1b AufenthG wird um mehr als das 9-fache überschritten) und der nach jahrelangem Aufenthalt im Irak seinen neuerlichen Aufenthalt in Deutschland unter Missbrauch eines Asylverfahrens praktisch durchgehend bis zur Inhaftierung für eine Tätigkeit als hochkrimineller Rauschgifthändler nutzte, zu den diesbezüglichen Ausführungen des Verwaltungsgerichts nicht, sodass er bereits dem Darlegungsgebot des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO nicht genügt.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 47 Abs. 3, Abs. 2, 52 Abs. 1 GKG.
23
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).