Titel:
Klage gegen Ausweisung aus generalpräventiven Gründen
Normenketten:
AufenthG § 53, § 54 Abs. 2 Nr. 9, § 95 Abs. 1 Nr. 1
StGB § 267 Abs. 1
Leitsätze:
1. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG ist so zu verstehen, dass ein Rechtsverstoß nur dann unbeachtlich ist, wenn er vereinzelt und geringfügig ist, er hingegen immer beachtlich ist, wenn er vereinzelt, aber nicht geringfügig, oder geringfügig, aber nicht vereinzelt ist; eine vorsätzliche Straftat kann dabei grundsätzlich nicht als geringfügig angesehen werden. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Ausweisungsinteresse lässt sich auch mit generalpräventiven Gründen begründen. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
3. Zur Anordnung und Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung aus generalpräventiven Gründen, Wechsel der ausländerrechtlichen Zuständigkeit während des gerichtlichen Verfahrens Urkundenfälschung, Erstmalige Einwendungen gegen Strafbarkeit nach Rechtskraft der strafgerichtlichen Entscheidung, Ausweisungsinteresse
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 25.10.2022 – 19 ZB 22.1643
Fundstellen:
InfAuslR 2023, 53
BeckRS 2022, 29799
LSK 2022, 29799
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Der Kläger wendet sich gegen eine Ausweisungsverfügung.
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Der Kläger ist ein am …1990 geborener irakischer Staatsangehöriger. Seine Schwester sowie die Großfamilie leben im Irak. Der Kläger hat dort die Schule bis zur 6. Klasse besucht und diese ohne Abschluss verlassen. Bis zu seiner Ausreise hat er im Irak als A. gearbeitet.
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Am 22. August 2015 reiste der Kläger ins Bundesgebiet ein und stellte am 14. Dezember 2015 einen Asylantrag. Mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. Februar 2017 wurden die Flüchtlingseigenschaft und der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt sowie der Antrag auf Asylanerkennung abgelehnt. Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe/Bestandskraft der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der Nichtbefolgung wurde die Abschiebung insbesondere in den Irak angedroht. Die gegen den Asylbescheid am 27. Februar 2017 erhobene Klage wurde mit Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach vom 7. Februar 2019, rechtskräftig seit dem 16. März 2019, abgewiesen.
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Der Kläger war im Bundesgebiet vom 1. Dezember 2016 bis zum 30. August 2017 als K. beschäftigt, seit dem 1. März 2021 ist er in der S. tätig.
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Bei der Anhörung im Asylverfahren im August 2016 hatte der Kläger angegeben, er habe seinen Personalausweis auf die Reise mitgenommen, aber unterwegs verloren. Sein Reisepass und die Staatsangehörigkeitsurkunde seien noch zu Hause. Am 1. September 2017 legte der Kläger anlässlich einer Vorsprache bei der Beklagten eine Staatsangehörigkeitsurkunde und eine ID-Karte vor. Die Dokumente seien durch seine im Irak lebende Familie an die irakische Botschaft in F. gesandt worden. Er habe die Dokumente in F. abgeholt. Einen Abholnachweis konnte der Kläger nicht vorlegen. Eine physikalischtechnische Untersuchung ergab in der Folge, dass der Staatsangehörigkeitsnachweis und die ID-Karte vom vorliegenden Vergleichsmaterial abweichen und Totalfälschungen darstellen.
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Mit Strafbefehl des Amtsgerichts … vom 24. Juli 2018, rechtskräftig seit 5. Oktober 2018, wurde gegen den Kläger wegen Urkundenfälschung in zwei Fällen eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 10 EUR verhängt.
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Im Folgenden wurde der Kläger mehrfach aufgefordert, seiner Passpflicht nachzukommen und auf die Folgen einer Missachtung dieser Pflicht hingewiesen (erstmals bei der Vorsprache am 19. November 2019). Nach zwischenzeitlicher Erteilung von Duldungen für Personen mit ungeklärter Identität ab dem 6. Oktober 2020 legte der Kläger die für die Passbeantragung erforderlichen Dokumente am 9. Februar 2021 und einen gültigen Reisepass am 22. November 2021 vor.
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Mit Schreiben vom 18. November 2019 hörte die Beklagte den Kläger zu der beabsichtigten Ausweisung an. Mit Schreiben vom 9. Dezember 2019 nahm der Bevollmächtigte des Klägers Stellung. Insbesondere liege kein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse vor. Es sei nicht die Absicht des Klägers gewesen, über seine Staatsangehörigkeit zu täuschen, da der Nachweis über die irakische Staatsangehörigkeit auch durch andere Dokumente geführt werden könne. Der Kläger habe zudem keine Kenntnis von der Fälschung gehabt.
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Mit Bescheid vom 23. Juli 2020 wies die Beklagte den Kläger aus dem Bundesgebiet aus (Ziffer I) und ordnete ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Dauer von vier Jahren ab Abschiebung bzw. Ausreise an (Ziffer II).
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Zur Begründung wurde insbesondere ausgeführt, es liege ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vor, weil der Kläger unerlaubt eingereist sei und im Asylverfahren mehrere totalgefälschte Urkunden vorgelegt habe. Hinsichtlich Letzterem stehe die Einlassung des Klägers bei Vorlage der Dokumente, diese wären von seiner Familie nach Deutschland geschickt worden, im Widerspruch zur Aussage in der Anhörung beim Bundesamt. Hiernach habe er seinen Ausweis, also die ID-Karte auf der Reise verloren. Es sei auch nicht nachvollziehbar, dass seine Familie die Dokumente nicht direkt an ihn geschickt habe, sondern an das Generalkonsulat in F., welches die gefälschten Dokumente auch noch ausgehändigt haben soll. Gesetzlich normierte Bleibeinteressen würden nicht vorliegen. Die Ausweisung erfolge aus general- und spezialpräventiven Gründen. Es liege eine begründete Wiederholungsgefahr vor, weil der Kläger mit seinen vorbereiteten und vorsätzlichen Straftaten sowie Rechtsverstößen auf verschiedenen Rechtsgebieten (StGB, AufenthG) seine völlige Missachtung staatlicher Regelungen zeige. Im Rahmen ihrer Abwägung führte die Beklagte insbesondere aus, dass der Kläger nur zur Begehung von Straftaten in das Bundesgebiet eingereist sei und keine familiären oder sonstigen Bindungen in Deutschland habe.
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Mit Schriftsatz vom 21. August 2020 hat der Kläger durch seinen Bevollmächtigten Klage erhoben und beantragt,
Der Bescheid der Beklagten vom 23. Juli .2020, zugestellt am 29. Juli 2020, Az.: …, wird aufgehoben.
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Zur Begründung führte er mit Schriftsatz vom 21. September 2020 aus, in der Vielzahl der Fälle der unerlaubten Einreise zur Beantragung von Asyl werde von einer strafrechtlichen Verfolgung abgesehen, weil ein Rechtfertigungsgrund vorliege. Nach der Rechtsauffassung der Beklagten könne somit kein Asylbewerber mehr nach Deutschland einreisen, ohne sich strafbar zu machen. Hinsichtlich der Verurteilung wegen Urkundenfälschung sei zu sehen, dass die Urkunden von Verwandten zugesandt worden seien und der Kläger aufgrund mangelnder Kenntnis von der Fälschung keinen Vorsatz gehabt habe. Der Strafbefehl sei aufgrund versäumten Einspruchs des Klägers rechtskräftig geworden, ohne dass eine stichhaltige Prüfung erfolgt sei. Erfahrungsgemäß sei es auch so, dass bei gefälschten irakischen Urkunden die Verfälschung nur sehr schwer erkennbar sei. Es stelle sich daher die Frage, wie der Kläger Kenntnis von der Fälschung erlangt haben solle.
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Mit Schriftsatz vom 3. September 2020 beantragte die Beklagte
und verwies zur Begründung auf den streitgegenständlichen Bescheid.
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Mit Schreiben vom 3. September 2020 hat sich die Regierung von M. als Vertreterin des öffentlichen Interesses am Verfahren beteiligt.
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Mit Schriftsatz vom 29. Oktober 2020 hat die Beklagte auf das klägerische Vorbringen ergänzt, dass ein gestellter Asylantrag die Tatbestände der unerlaubten Einreise sowie der § 95 Abs. 1 Nrn. 1-3 AufenthG nicht verdränge. Die Strafverfolgung von Asylbewerbern sei eine Frage des Einzelfalls, bei der insbesondere auch der Ausgang des Asylverfahrens eine nicht unwesentliche Rolle spiele. Der Kläger habe sein Asylverfahren erfolglos durchlaufen. Die bestandskräftige Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge enthalte eine vollziehbare Abschiebungsandrohung, die seit Jahren aufgrund der Passverweigerung des Klägers nicht vollzogen werden könne. Deswegen müsse in Abwägung der Gesamtumstände das Verhalten des Klägers bei der unerlaubten Einreise und des unerlaubten Aufenthalts ohne gültigen Reisepass in vollem Umfang berücksichtigt werden. Nach obergerichtlicher Rechtsprechung sei die unerlaubte Einreise eines Ausländers mit anschließendem unerlaubten Aufenthalt kein geringfügiger Rechtsverstoß im Sinne des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG. Zudem sei die Beschaffung und Vorlage gefälschter Personaldokumente, aufgrund derer der Kläger mit rechtskräftigem Strafbefehl verurteilt wurde, ein weiterer zu beachtender Rechtsverstoß. Die Ausländerbehörde dürfe grundsätzlich von der Richtigkeit der strafrichterlichen Feststellungen ausgehen, wobei dies sowohl die Rechtsfrage des Vorliegens eines Straftatbestandes als auch die tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils betreffe. Der Vortrag des Klägers, er habe um die Fälschung der von ihm beschafften Personalpapiere nicht gewusst, sei zudem als Schutzbehauptung und als lebensfremd zu bewerten. Überdies setze der Kläger sein dem Strafbefehl zugrundeliegendes Verhalten der Identitätsverschleierung und der Nichterfüllung seiner Passpflicht unbeeindruckt fort.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, die beigezogene Behördenakte sowie die Sitzungsniederschrift verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist unbegründet, weil der Bescheid der Beklagten vom 23. Juli 2020 rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Sie richtet sich nach wie vor gegen die richtige Beklagte, auch wenn die Zentrale Ausländerbehörde bei der Regierung von M. die ausländerrechtliche Zuständigkeit im Fall des Klägers übernommen hat; das Einvernehmen zur Fortführung der Verwaltungsstreitsache durch die Beklagte wurde erteilt (Art. 3 Abs. 3 BayVwVfG).
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Die in Ziffer I des streitgegenständlichen Bescheids verfügte Ausweisung ist ebenso wenig rechtlich zu beanstanden wie das in Ziffer II angeordnete und auf die Dauer von vier Jahren ab Abschiebung bzw. Ausreise befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot.
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Die in Ziffer I verfügte Ausweisung ist rechtmäßig.
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Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung einer Ausweisung ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, U.v. 4.10.2012 - 1 C 13.11 - juris Rn. 16; U.v. 30.7.2013 - 1 C 9.12 - juris Rn. 8; BayVGH, U.v. 25.8.2014 - 10 B 13.715 - juris Rn. 37; BayVGH, U.v. 8.3.2016 - 10 B 15.180 - juris Rn. 25).
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Gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem Verbleib des Ausländers ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
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Im Fall des Klägers liegt ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vor. Nach dieser Norm wiegt das Ausweisungsinteresse unter anderem dann schwer, wenn der Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen begangen hat. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG ist dabei so zu verstehen, dass ein Rechtsverstoß nur dann unbeachtlich ist, wenn er vereinzelt und geringfügig ist, er hingegen immer beachtlich ist, wenn er vereinzelt, aber nicht geringfügig, oder geringfügig, aber nicht vereinzelt ist; eine vorsätzliche Straftat kann dabei grundsätzlich nicht als geringfügig angesehen werden (BayVGH B.v. 19.9.2017 - 10 C 17.1434 - juris Rn. 6 m.w.N.). Eine strafrechtliche Verurteilung ist im Rahmen des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG nicht erforderlich (BayVGH, B.v. 27.5.2021 - 19 ZB 20.1976 - juris Rn. 25). Der Kläger erfüllt diese Voraussetzung, insbesondere da er sowohl wiederholt als auch in nicht lediglich geringfügigem Maße gegen Rechtsvorschriften verstoßen hat.
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Der Kläger hat zum einen gegen § 267 Abs. 1 StGB verstoßen. Gegen ihn wurde mit Strafbefehl des Amtsgerichts … vom 24. Juli 2018, rechtskräftig seit 5. Oktober 2018, wegen Urkundenfälschung in zwei Fällen eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 10 EUR verhängt. Er hatte am 1. September 2017 bei einer Vorsprache bei der Beklagten eine Staatsangehörigkeitsurkunde und eine ID-Karte vorgelegt, die laut physikalischtechnischer Untersuchung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge Totalfälschungen darstellen. Es ist nicht zu beanstanden, dass die Beklagte aufgrund dieses Strafbefehls ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse angenommen hat. Der Kläger hat zwar - erstmals im Rahmen der Anhörung zur Ausweisung - vortragen lassen, er habe keine Kenntnis davon gehabt, dass die Urkunden gefälscht seien und damit keinen Vorsatz gehabt, der aber für eine Verurteilung wegen Urkundenfälschung zwingend sei. Er hat die behauptete fehlende Kenntnis von der Fälschung der Urkunden allerdings weder im Ermittlungsverfahren noch im Wege eines Einspruchs gegen den Strafbefehl geltend gemacht, obwohl der Vorsatz hinsichtlich der Unechtheit der vorgelegten Urkunden für die Frage der strafrechtlichen Schuld (mit) ausschlaggebend ist. Zudem weist die Beklagte zutreffend darauf hin, dass nicht nachvollziehbar sei, warum die Familie des Klägers die besagten Dokumente nicht direkt an ihn geschickt habe, sondern an das Generalkonsulat in F., und dieses die (total-) gefälschten Urkunden ausgehändigt haben soll.
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Zum anderen hat sich der Kläger im Bundesgebiet aufgehalten, ohne zumutbare Mitwirkungshandlungen zur Erfüllung seiner Passpflicht ergriffen zu haben, § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Nach §§ 95 Abs. 1 Nr. 1, 3 Abs. 1, 48 Abs. 2 AufenthG ist ein im Bundesgebiet aufhältiger Ausländer für den Fall, dass er nicht über einen anerkannten oder gültigen Pass bzw. Passersatz verfügt, verpflichtet, alle ihm zumutbaren Maßnahmen zur Erlangung eines Passes oder Passersatzes zu ergreifen.
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Vorliegend hat der Kläger in den Jahren 2019 und 2020 zumutbare Maßnahmen zur Passbeschaffung nicht unternommen, weswegen er zumindest insoweit gegen die Passpflicht verstoßen hat. Er war bei einer Vorsprache am 16. November 2019 von der Beklagten dazu aufgefordert worden, sich um die Beschaffung einer neuen ID-Karte und einer neuen Staatsangehörigkeitsurkunde zu kümmern und diese Dokumente unverzüglich, spätestens jedoch bis zum 18. Dezember 2019 vorzulegen. Auf die (strafrechtlichen) Folgen einer Nichtmitwirkung wurde der Kläger dabei hingewiesen (Seite 542 der Behördenakte). Erst am 9. Februar 2021 legte er die geforderte Staatsangehörigkeitsurkunde vor. Er hatte dabei bereits am 26. Juni 2020 angegeben, seine im Irak lebende Schwester habe eine neue Staatsangehörigkeitsurkunde beantragt, die er sich zuschicken lassen werde (Seite 560 der Behördenakte). Bei seiner Vorsprache am 30. November 2020 hatte er wiederum erklärt, er werde morgen zum Konsulat gehen, um eine Vollmacht für die Schwester auszustellen, damit diese die Staatsangehörigkeitsurkunde im Irak beantragen könne (Seite 569 der Behördenakte). Nach der ersten Aufforderung hierzu hat der Kläger Nachweise über konkret eingeleitete Schritte zur Beschaffung seiner Staatsangehörigkeitsurkunde bis zu deren Vorlage nicht erbracht (vgl. auch den Aktenvermerk der Beklagten vom 16. September 2020, Seite 256 der Behördenakte). Nach alledem hat der Kläger seine Passpflicht verletzt, sodass es insoweit auch nicht zu beanstanden war, dass die Beklagte ab dem 6. Oktober 2020 eine Duldung für Personen mit ungeklärter Identität ausgestellt hat.
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Die genannten Verstöße gegen das Strafrecht und das Aufenthaltsrecht sind aufgrund ihrer vorsätzlichen Begehung nicht nur geringfügig und zusammen betrachtet auch nicht nur vereinzelt, sodass das schwerwiegende Ausweisungsinteresse des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG gegeben ist.
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Der weitere Aufenthalt des Klägers gefährdet auch die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG. Diese Bewertung wird von generalpräventiven Erwägungen getragen. Das Bundesverwaltungsgericht hat zuletzt in den Urteilen vom 12. Juli 2018 und 9. Mai 2019 entschieden, dass sich mit generalpräventiven Gründen ein Ausweisungsinteresse begründen lässt (BVerwG, U.v. 12.7.2018 - 1 C 16.17 - juris Rn. 16; BVerwG, U.v. 9.5.2019 - 1 C 21.18 - juris Rn. 17). Der Kläger gehört nicht zu den durch § 53 Abs. 3, Abs. 3a oder Abs. 3b AufenthG privilegierten Personengruppen, sodass auch insoweit das Abstellen auf generalpräventive Gründe nicht ausgeschlossen ist. Dem Gedanken der Generalprävention liegt zugrunde, dass - über eine ggf. erfolgte strafrechtliche Sanktion hinaus - ein besonderes Bedürfnis besteht, durch die Ausweisung andere Ausländer von Taten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten. Erforderlich ist regelmäßig, dass eine Ausweisungspraxis, die an die Begehung ähnlicher Taten anknüpft, geeignet ist, auf potentielle weitere Täter abschreckend zu wirken.
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Bei der generalpräventiven Aufenthaltsbeendigung ist besonders sorgfältig das Gewicht der mit ihr verfolgten, im öffentlichen Interesse liegende Ziele zu ermitteln. Hierzu gehört auch für die Verwaltungsgerichte eine genaue Kenntnisnahme und Würdigung des der Aufenthaltsbeendigung zugrundeliegenden Tatgeschehens und seiner strafgerichtlichen Bewertung (BVerfG, B.v. 21.3.1985 - 2 BvR 1642/83 - juris Rn. 24).
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Die generalpräventiven Erwägungen der Beklagten sind im vorliegenden Fall nicht zu beanstanden. Zurecht führt sie aus, dass die Beschaffung von gefälschten Urkunden bzw. Ausweisdokumenten für die Einreise, den Aufenthalt und die Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet und ihre Verwendung gegenüber inländischen Behörden nicht hingenommen werden darf. Auch führt sie im streitgegenständlichen Bescheid zutreffend aus, dass mit einer konsequenten Ausübung der Ausweisungsermächtigung potentiellen Straftätern das hohe Risiko, welches sie bei Begehung derartiger Straftaten eingehen, verdeutlicht werden muss, um dadurch eine abschreckende Wirkung zu erzielen und diese Personen von der Begehung von Straftaten abzuhalten.
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Die nach § 53 Abs. 1 AufenthG unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an seiner Ausreise überwiegt. Nach § 53 Abs. 2 AufenthG sind bei der Abwägung nach den Umständen des Einzelfalles, wie sie § 53 Abs. 1 AufenthG erfordert, insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Ausländers, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat sowie die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen.
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Dem genannten schwerwiegenden Ausweisungsinteresse stehen keine vertypten Bleibeinteressen gegenüber. Die Beklagte ist im Rahmen der vorzunehmenden Abwägungsentscheidung außerdem davon ausgegangen, dass im Fall des Klägers keine nennenswerte Integration erfolgt ist. Insoweit ist festzuhalten, dass der Kläger zwar mittlerweile als Ladendetektiv arbeitet, allerdings während seines über sechsjährigen Aufenthalts keine familiären und sozialen Bindungen aufbauen konnte und seit dem 16. März 2019 vollziehbar ausreisepflichtig ist. Nachdem der Kläger vor seiner Ausreise 25 Jahre lang im Irak gelebt, die Schule bis zur 6. Klasse besucht und als A. gearbeitet hat und sich seine Großfamilie nach wie vor dort aufhält, ist auch davon auszugehen, dass sich der Kläger im Irak wieder ohne größere Schwierigkeiten integrieren wird.
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Im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtabwägung kommt die Kammer damit unter Berücksichtigung des verfassungsmäßigen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und unter Berücksichtigung von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK zu dem Ergebnis, dass vorliegend das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
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Ach das in Ziffer II angeordnete und auf die Dauer von vier Jahren ab Abschiebung bzw. Ausreise befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
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Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist gemäß § 11 Abs. 2 Satz 3 und S. 4 AufenthG von Amts wegen zu befristen, wobei die Frist mit der Ausreise zu laufen beginnt. Über die Länge der Frist, die nach § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG außer in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten darf, wird nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach Ermessen entschieden. Die Ausländerbehörde muss bei der allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzenden Frist das Gewicht des Ausweisungsinteresses und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck berücksichtigen, wobei eine zweistufige Prüfung vorzunehmen ist (dazu BVerwG, U.v. 22.2.2017 - 1 C 27/16 - juris Rn. 23; BayVGH, U.v. 25.8.2014 - 10 B 13.715 - juris Rn. 56): Es bedarf in einem ersten Schritt der prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu generalpräventiven und spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zu Grunde liegt, das öffentlichen Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die sich an der Erreichung des Ausweisungszwecks orientierende Sperrwirkung muss sich dabei in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK messen und gegebenenfalls relativieren lassen, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen. Gemessen an diesen Vorgaben sind Ermessensfehler insoweit nicht ersichtlich. Die Beklagte hat das Gewicht des Ausweisungsgrundes und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck herausgearbeitet und ist beanstandungsfrei zu dem Ergebnis gekommen, dass eine Befristung von vier Jahren angemessen ist.
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Die Klage war somit vollumfänglich abzuweisen.
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Die Kostenfolge beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.