Titel:
Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts – erfolgloser Antrag auf Zulassung der Berufung
Normenkette:
VwGO § 124a Abs. 2 Nr. 3, Abs. 4 S. 4, Abs. 5 S. 2
Leitsatz:
Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine konkrete, jedoch fallübergreifende Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung ist, deren noch ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Keine hinreichende Darlegung des Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache, polnischer Staatsangehöriger, Verlust des Rechts auf Freizügigkeit, grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, Verlust des Freizügigkeitsrechts, Freiheitsstrafe, Darlegungserfordernis
Vorinstanz:
VG Bayreuth, Urteil vom 04.05.2022 – B 6 K 20.1424
Fundstelle:
BeckRS 2022, 29796
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Berufungszulassungsverfahren wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg.
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Der am ... 1988 geborene, in Polen bereits über fünf Jahre inhaftierte (insgesamt sind neun Verurteilungen bekannt) und im August 2019 in das Bundesgebiet eingereiste Kläger, polnischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 4. Mai 2022, durch das seine Klage gegen den Bescheid des Beklagten vom 12. November 2020 abgewiesen worden ist. Mit diesem Bescheid hat der Beklagte den Verlust des Rechts des Klägers auf Freizügigkeit in der Bundesrepublik Deutschland festgestellt (Nr. 1 des Bescheids), die Wiedereinreise und den Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland für die Dauer von drei Jahren - beginnend mit der Ausreise - untersagt (Nr. 2 des Bescheids), dem Kläger unter Setzung einer Frist die Abschiebung, insbesondere nach Polen, angedroht (Nrn. 3 und 4 des Bescheids) und dem Kläger für den Fall der Abschiebung die Tragung der Abschiebungskosten auferlegt (Nr. 5 des Bescheids). Anlass der Verlustfeststellung war die strafgerichtliche Verurteilung des Klägers vom 20. April 2020 wegen gefährlicher Körperverletzung gem. §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten (die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wurde wegen der Alkoholabhängigkeit des Klägers angeordnet; Beginn der Unterbringung des seit 18.10.2019 inhaftierten Klägers ab dem 13. Mai 2020 in der Entziehungsanstalt; seit 15.12.2021 Probewohnen in einer Wohnung in B.; der Maßregelvollzug ist noch nicht beendet). Nach den Feststellungen des Amtsgerichts H. war Hintergrund der Tat ein Streit mit einem Arbeitskollegen, der derart eskalierte, dass der unter Alkohol- und Drogeneinfluss stehende Kläger mit einem Küchenmesser mehrfach (in Tötungsabsicht) auf den Geschädigten einstach. Dabei drang ein Stich ca. 4 cm tief in den Rücken des Geschädigten ein und endete erst kurz vor der Lunge. Aufgrund des Absehens von der Vollendung der Tat ist der Kläger strafbefreiend vom versuchten Totschlag zurückgetreten. Eine am Morgen nach der Tat um 7:17 Uhr entnommene Blutprobe ergab einen Mittelwert der Blutalkoholkonzentration von 0,51 Promille. Zudem wurden im Blut 2 ng/ml THC und 9,2 ng/ml THC-Metabolit festgestellt. Trotz der Alkoholisierung und des Marihuanakonsums war die Fähigkeit, das Unrecht der Tat zu erkennen und nach dieser Einsicht zu handeln, nicht aufgehoben, sondern nur eingeschränkt.
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Das der rechtlichen Überprüfung durch den Senat ausschließlich unterliegende Vorbringen in der Begründung des Zulassungsantrags (§ 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO) rechtfertigt keine Zulassung der Berufung.
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Der ausschließlich geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) ist schon nicht den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend hinreichend dargelegt (der Kläger hat sich zu den Hilfsausführungen des Beklagten in der Zulassungserwiderung zum Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils <§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO> nicht mehr geäußert).
5
Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine konkrete, jedoch fallübergreifende Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung ist, deren noch ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint. Dementsprechend verlangt die Darlegung (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung, dass eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) ist; ferner muss dargelegt werden, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht (stRspr., vgl. BayVGH, B.v. 12.4.2019 - 10 ZB 19.275 - juris Rn. 7; B.v. 8.9.2019 - 10 ZB 18.1768 - Rn. 11; B.v. 14.2.2019 - 10 ZB 18.1967 - juris Rn. 10; BayVGH, B.v. 17.12.2015 - 10 ZB 15.1394 - juris Rn. 16 m.w.N.; Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124a Rn. 72). Klärungsbedürftig sind solche Rechts- oder Tatsachenfragen, deren Beantwortung zweifelhaft ist oder zu denen unterschiedliche Auffassungen vertreten werden und die noch nicht oder nicht hinreichend ober- und höchstrichterlich geklärt sind (vgl. BVerfG, B.v. 28.4.2011 - 1 BvR 3007/07 - juris Rn. 21; Roth in Posser/Wolff, BeckOK, VwGO, Stand 1.1.2019, § 124 Rn. 55 m.w.N.; Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124 Rn. 38). Ein derartiger Klärungsbedarf besteht nicht, wenn die Rechtsfrage bereits geklärt ist oder auf der Grundlage der bestehenden Rechtsprechung mit Hilfe der anerkannten Auslegungsregeln auch ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantwortet werden kann (stRspr., BVerwG, B.v. 9.4.2014 - 2 B 107.13 - juris Rn. 9 m.w.N.; BVerfG, B.v. 29.7.2010 - 1 BvR 1634/04 - juris Rn. 64).
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Der Kläger wirft zur Begründung des Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung die Fragen auf, „Ist es gerechtfertigt, dass der Verlust des Freizügigkeitsgesetz vollzogen wird, trotzdem die Verlagerung des Lebensmittelpunktes, insbesondere des Wohnortes der gesamten Familie, zur erfolgreichen Durchführung der Therapie und somit zur Bewältigung der Strafvollstreckung erfolgte.“, „Ist es rechtlich nach den geltenden Gesetzen hinsichtlich des Verlustes der Freizügigkeit gerechtfertigt, wenn der Verlust in erster oder ausschließlicher Linie auf Straftaten im Bundesgebiet gestützt wird, dabei aber den Resozialisierungsgedanken des Strafrechts zu wider läuft?“, „Weiterhin stellt sich dadurch die Frage, ob bei einem ordnungsgemäßen Durchlaufen von vorgesehenen strafrechtlichen Folgen oder sogar einer besseren Bewährung sowie Resozialisierung in die Gesellschaft der Verlust der Freizügigkeit als weitere, erhebliche Folge und somit Strafe für den Betroffenen durchgesetzt werden darf oder ob dies bei einer bereits erfolgten Vollstreckung und ggf. Bewährung den Gesetzeszwecken entgegensteht?“, „Wiegen im Ermessensbereich des Verlustes des Freizügigkeitsgesetzes ausschließlich Straftaten zu Lasten des betroffenen Ausländers, stellt sich damit weiterhin die Frage ob mindestens die konkrete Bewährung im Rahmen der Strafvollstreckung sowie im Anschluss an diese sowie darüber hinaus Bewertung finden muss sowie weiterhin die Fragen, ob die Strafvollstreckung daher abgewartet werden muss oder zumindest die bis zum relevanten Zeitpunkt bereits erfolgte Vollstreckung und Resozialisierung im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigen ist.“, „Zusätzlich besteht ergänzend zu vorherigen Frage die Problematik, ob Erfolge im Rahmen der Resozialisierung sowie auch Integration besonders im Rahmen des Ermessens bei der Entscheidung über den Verlust des Freizügigkeitsgesetzes zu beachten sind.“, „Die vorgenannten Fragen stellen sich auch deshalb besonders im Rahmen des Freizügigkeitsrechts, da aufgrund des besonderen Verhältnisses von europäischem und deutschem/mitgliedstaatlichem Recht die weitere Frage besteht, ob in diesem Zusammenhang das strafrechtliche Interesse an einer Wiedereingliederung in das staatliche Gefüge höher wiegt als die reine Straffunktion, die beim Verlust des des Freizügigkeitsrechts zum Zuge kommt.“ und „Zuletzt stellt sich die Frage, ob es durch die doppelten Auswirkungen der Straftat im Strafrecht und im Freizügigkeitsrecht nicht zudem ein Konflikt im Rahmen des sogenannten Diskriminierungsverbotes besteht, da es sich hier um eine überwiegende bzw. sogar ausschließliche Schlechterbehandlung von EU-Ausländer handelt, welche trotz verbüßter Strafe gemäß der deutschen Strafrechtsordnung zusätzlich durch den Verlust des Freizügigkeitsrechts bestraft werden.“ Er führt darüber hinaus aus, die Erheblichkeit der aufgeworfenen Fragen ergebe sich daraus, dass bei einem Verlust des Freizügigkeitsrechts aufgrund behördlicher Entscheidung im Bereich von Straftaten ein eklatantes Missverhältnis im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit der Strafe entstehen könne und in zahlreichen Fällen entstehe, wenn eine doppelte Verwertung der Strafe im Straf- und Ausländerrecht dazu führe, dass der Betroffene deutlich härter bestraft werde als das Gesetz das vorsehe. Zudem stelle sich in diesem Zusammenhang die Frage, warum eine aus dem Strafgesetz hervorgehende Strafe im Rahmen des Verlustes des Freizügigkeitsrechts berücksichtigt werde, die ebenso im Strafrecht zu verortende Strafvollstreckung sowie eine dort mögliche Aussetzung der Strafe, Bewährung sowie allgemeine Resozialisierung, die im Strafrecht konkrete Folgen nach sich ziehen könne, aber nicht im Rahmen des Ermessens Beachtung finden müsse. Die formulierten Fragen seien „deshalb entscheidungserheblich, da der Kläger und Antragsteller im Zulassungsverfahren gerade alleine aufgrund seiner verübten Straftaten und trotz einer bereits mehrheitlich und sehr erfolgreichen Therapie und einer mehrheitlichen Strafvollstreckung sein Freizügigkeitsrecht, vgl. streitgegenständliches Urteil Seite“. Es sei unbestritten, dass der Kläger im Berufungsverfahren im Rahmen der Strafvollstreckung alles Mögliche getan habe, um zum einen die Vollstreckung so erfolgreich wie möglich zu absolvieren. Weiterhin habe er während des Zeitraums der Strafvollstreckung Integrationsleistungen erworben, die zuvor nicht bestanden hätten. Es sei somit - im Gegensatz zu der Zeit vor dem Strafantritt - zu erwarten, dass der Kläger sich nun erfolgreich und straffrei in das Gefüge der BRD eingliedern könne. „Aufgrund der selbst dafür geschaffenen Voraussetzungen zusätzlich zur reinen Strafvollstreckung, sei hier von einer besonders erfolgreichen, welche rein strafrechtlich auch durch eine Aussetzung der Strafe zur Bewährung berücksichtigt werden kann, jedoch im Rahmen des Freizügigkeitsgesetz keine oder nur eine sehr untergeordnete Beachtung findet“. Weiterhin komme für den Kläger hinzu, dass auch seine Familie - Lebensgefährtin und zwei gemeinsame Kinder im Kindergartenalter - sich in der Zwischenzeit zur Unterstützung der Therapie und Resozialisierung des Klägers nach Deutschland begeben und ihren Lebensmittelpunkt hierher verlagert hätten. Dies habe der Kläger auch in der mündlichen Verhandlung vorgetragen und Beweis hierzu angeboten.
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Eine hinreichende Darlegung des Zulassungsgrunds der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache lässt sich dem Zulassungsvorbringen nicht entnehmen. Der Kläger hat sich nicht im Ansatz mit den maßgeblichen Vorschriften und der einschlägigen Rechtsprechung, insbesondere der des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts, zur Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts auseinandergesetzt. Eine Äußerung auf die hilfsweisen zum Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung erfolgten Ausführungen des Beklagten im Rahmen seiner Antragserwiderung mit Schriftsatz vom 25. Juli 2022 erfolgte von Seiten des Klägers ebenfalls nicht. Folglich fehlt es (jedenfalls) an substantiellen Ausführungen zur Klärungsbedürftigkeit.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 63 Abs. 3 Satz 1, § 47, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziff. 8.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).