Titel:
Kein Duldungsgrund wegen des noch nicht in Kraft getretenen Chancen-Aufenthaltsrechts
Normenketten:
AufenthG § 60a Abs. 2 S. 3, § 104c
VwGO § 91, § 122 Abs. 1, § 146 Abs. 4
Leitsätze:
1. § 91 VwGO findet trotz der Nichterwähnung in § 122 Abs. 1 VwGO für das Beschlussverfahren, insbesondere im Eilrechtsschutz nach § 123 VwGO, entsprechende Anwendung. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Beschwerdeverfahren dient, wie sich aus dem in den Sätzen 3 und 4 des in § 146 Abs. 4 VwGO normierten Darlegungsgebot ergibt, ausschließlich der rechtlichen Überprüfung der in Verfahren nach §§ 80 und 123 VwGO ergangenen erstinstanzlichen Entscheidung und lässt für einen allein im Wege der Antragsänderung bzw. -erweiterung zu verfolgenden Anordnungsantrag keinen Raum. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, Ermessensduldung, Chancen-Aufenthaltsrecht, Gesetzgebungsverfahren, fehlende Konkretheit des Gesetzes, Streitgegenstand, Antragsänderung
Vorinstanz:
VG Würzburg, Beschluss vom 24.08.2022 – W 7 S 22.1250
Fundstelle:
BeckRS 2022, 29775
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragstellerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.250 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.
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Die Prüfung der für die Begründetheit der Beschwerde streitenden Gründe ist im Grundsatz auf das in der Beschwerdebegründung Dargelegte beschränkt (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO). Danach ergibt sich nicht, dass die aufschiebende Wirkung der Klage der am ... 1970 geborenen, am ... 1997 in K. die Ehe mit einem deutschen Staatsangehörigen eingegangenen (aus der am ....1999 geschiedenen Ehe ist ein am ....1998 geborener Sohn hervorgegangen), am 9. März 1997 in das Bundesgebiet mit einem Visum zur Familienzusammenführung eingereisten, ab 23. April 1997 zunächst eine Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen (bis am 28.11.2011 bekannt wurde, dass die Antragstellerin seit längerer Zeit keinen regelmäßigen Kontakt mehr zu ihrem Sohn pflegte) und zuletzt (wegen der Annahme einer außergewöhnlichen Härte aufgrund der Minderjährigkeit ihres Sohnes) eine bis 13. Dezember 2021 gültige Aufenthaltserlaubnis nach §25 Abs. 4 AufenthG besitzenden, wegen vorsätzlicher Körperverletzung zum Nachteil ihres damaligen Ehemanns am 28. Mai 1999 rechtskräftig zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen verurteilten (von der Verfolgung einer weiteren Körperverletzung wurde mit Verfügung vom 19. Mai 1999 nach § 154 StPO abgesehen), die k. Staatsangehörigkeit besitzenden Antragstellerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (unter Aufhebung des Bescheids der Antragsgegnerin vom 27.7.2022) entgegen der Entscheidung des Verwaltungsgerichts anzuordnen wäre. Mit diesem Bescheid hat die Antragsgegnerin den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vom 10. November 2021 abgelehnt (Nr. 1 des Bescheids), der Antragstellerin unter Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise die Abschiebung, insbesondere nach K., angedroht (Nr. 2 des Bescheids), ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet und dieses auf die Dauer von zwei Jahren beginnend ab dem Zeitpunkt der Abschiebung befristet (Nr. 3 des Bescheids).
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Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung als unbegründet angesehen. Die Antragstellerin habe im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung keinen Anspruch auf Verlängerung ihrer bzw. Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Ein Aufenthaltserlaubnisanspruch aus familiären Gründen sei nicht ersichtlich. Der Antragstellerin stehe auch kein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Erwerbstätigkeit zu. Sie könne auch nicht die Erteilung eines Aufenthaltsrechts nach §25 Abs. 5 AufenthG beanspruchen. Es fehle an der besonderen Erteilungsvoraussetzung der tatsächlichen oder rechtlichen Unmöglichkeit der Ausreise. Insbesondere sei der Antragstellerin die Ausreise auch mit Blick auf höherrangiges Recht - Art. 6 GG, Art. 8 EMRK - zumutbar. Die Antragstellerin habe auch keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach §25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG. Auch aus §25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG ergebe sich kein Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis, selbst wenn eine Verlängerung grundsätzlich möglich sein sollte. Auch das bislang noch nicht beschlossene und in Kraft getretene Chancen-Aufenthaltsrecht gemäß §104c AufenthG-E stelle keinen Umstand dar, der zu einem Anspruch der Antragstellerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis führe. Das Gesetzgebungsverfahren sei keineswegs schon so weit fortgeschritten, dass ausreichend sicher wäre, welchen Inhalt das Gesetz letztendlich haben werde. Die Abschiebungsandrohung mit Ausreisefristsetzung unter Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheids erweise sich bei summarischer Prüfung ebenfalls als rechtmäßig. Auch das im Einklang mit §11 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 2 AufenthG angeordnete befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot für den Fall der Abschiebung sei rechtmäßig. Da somit die Erfolgsaussichten der Hauptsache als gering einzuschätzen seien, überwiege das - durch die gesetzliche Anordnung des Sofortvollzugs gemäß §84 Abs. 1 Nr. 1 und 7 AufenthG, Art. 21a VwZVG i.V.m. §80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO indizierte - öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit gegenüber dem privaten Aussetzungsinteresse der Antragstellerin, weshalb der Antrag abzulehnen sei.
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Zur Begründung ihrer Beschwerde lässt die Antragstellerin vortragen, die Erfolgsaussichten der Klage in der Hauptsache seien zumindest insoweit offen, als sie im Vorgriff auf das Chancen-Aufenthaltsrecht gem. §104c AufenthG-E eine Ermessensduldung nach §60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG beanspruchen könne. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sei das Gesetzgebungsverfahren schon so weit fortgeschritten, dass absehbar sei, dass sie unter den unstreitigen Kern-Anwendungsbereich der neuen Altfallregelung falle. Der am 6. Juli 2022 durch das Bundeskabinett vorgelegte Gesetzentwurf zur Einführung des Chancen-Aufenthaltsrechts gem. §104c AufenthG-E sehe im Kern vor, dass einer Person, die sich am 1. Januar 2022 seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis in Deutschland aufgehalten habe, eine Aufenthaltserlaubnis „auf Probe“ für ein Jahr erteilt werden solle. Die Antragstellerin erfülle diese Voraussetzung, weil sie sich seit 1997 ununterbrochen mit Aufenthaltserlaubnis - zuletzt befristet bis zum 13.12.2021 - im Bundesgebiet aufgehalten habe. Bis 13. Juni 2022 sei die Antragstellerin im Besitz einer Fiktionsbescheinigung gewesen, deren Fortgeltung gem. §81 Abs. 4 AufenthG mit Bescheinigung der Ausländerbehörde vom 30. Juni 2022 bestätigt worden sei. Der Anwendungsbereich des neuen §104c AufenthG-E scheitere nicht daran, dass die Antragstellerin aufgrund des Bescheides vom 27. Juli 2022 vollziehbar ausreisepflichtig und nicht im Besitz einer Duldungsbescheinigung sei. Zur Klarstellung liege im Gesetzgebungsverfahren ein Änderungsvorschlag vor, wonach der Begriff „geduldet“ durch die Formulierung „vollziehbar ausreisepflichtig“ ersetzt werden solle. Die weiteren Voraussetzungen für das neue Chancen-Aufenthaltsrecht seien ebenfalls erfüllt. Insbesondere sei die Antragstellerin nicht wegen Straftaten mit Geldstrafen von 50 Tagessätzen oder mehr bzw. von 90 Tagessätzen oder mehr bei Straftaten nach dem Aufenthalts- oder Asylgesetz verurteilt wurden. Sie sei nur einmal mit Urteil vom 28. Mai 1999 zu einer Geldstrafe zu 30 Tagessätzen verurteilt worden. Auch die weitere Voraussetzung, dass nicht vorsätzlich falsche Angaben gemacht oder über Identität oder Staatsangehörigkeit getäuscht wurde und dadurch die eigene Abschiebung verhindert wurde, erfülle die Antragstellerin. Die Antragstellerin sei durch einen k. Reisepass ausgewiesen, ihre Identität sei geklärt. Die Anwendung des §104c AufenthG-E setze im Zeitpunkt der Erteilung auch nicht voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert sein müsse. Trotz der durch den Ukraine-Krieg entstandenen Verzögerungen des Gesetzgebungsprozesses werde der Gesetzentwurf am 21. September 2022 im Bundestag beraten, wo das Gesetz mit der gegebenen Regierungsmehrheit beschlossen und mit dem dargestellten Kerninhalt des vom Bundeskabinett vorgelegten Entwurfs in absehbarer Zeit in Kraft treten könne. Änderungsanträge im Gesetzgebungsverfahren, die den Anwendungsbereich einschränkten, lägen nicht vor. Im Hinblick auf die Stichtagsregelung gebe es allenfalls Erweiterungsanträge, die jedoch den Gesetzgebungsprozess nicht verzögern würden. Im Hinblick auf das fortgeschrittene Gesetzgebungsverfahren hätten B., H., N., S.-Ho. und R.-P. Vorgriffsregelungen erlassen, um zu verhindern, dass potentiell begünstigte Personen noch kurz vor dem Inkrafttreten der Neuregelung abgeschoben würden. Für den F. B. sei zwar eine entsprechende Vorgriffsregelung nicht zu erwarten. Daraus könne jedoch nicht im Umkehrschluss geschlossen werden, dass potentiell begünstigte Personen noch vor Inkrafttreten der Neuregelung zwingend abgeschoben werden müssten. Vielmehr hätten die Ausländerbehörden auch im F. B. nach §60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG im Vorgriff auf die allgemein bekannte Neuregelung jeweils im Einzelfall über die Erteilung einer Ermessensduldung zu entscheiden. Es bestehe ein erhebliches öffentliches Interesse daran, dass begünstigte Personen, die uneingeschränkt unter den Anwendungsbereich der Neuregelung fielen, nicht noch kurz vor dem Inkrafttreten der Neuregelung im Lotterieverfahren je nach Bundesland abgeschoben würden. Das erhebliche öffentliche Interesse ergebe sich aus der Bundestreue der Bundesländer und dem Respekt vor dem Bundesgesetzgeber. Zudem lägen im Fall der Antragstellerin unabhängig vom Grad ihrer Verwurzelung schon aufgrund ihres 25-jährigen Aufenthalts im Bundesgebiet dringende humanitäre und persönliche Gründe vor. Jedenfalls sei damit zu rechnen, dass die Neuregelung noch im Laufe des Hauptsacheverfahrens in Kraft treten werde oder das Gericht das Verfahren bis zum Inkrafttreten der Neuregelung aussetze.
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Diese Rügen greifen nicht durch.
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Die verwaltungsgerichtliche Auffassung, das bislang noch nicht beschlossene und in Kraft getretene Chancen-Aufenthaltsrecht gemäß §104c AufenthG-E (wonach einem geduldeten Ausländer abweichend von §5 Absatz 1 Nummer 1, 1a und 4 sowie §5 Absatz 2 eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden soll, wenn er sich am 1. Januar 2022 seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten hat und weitere Voraussetzungen erfüllt und bestimmte Ausschlussgründe nicht vorliegen) stelle keinen Umstand dar, der zu einem Anspruch der Antragstellerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis führe, da das Gesetzgebungsverfahren keineswegs schon so weit fortgeschritten sei, dass ausreichend sicher wäre, welchen Inhalt das Gesetz letztendlich haben werde, ist nicht zu beanstanden.
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Der Senat schließt sich der verwaltungsgerichtlichen Auffassung an. Es ist derzeit nicht absehbar, wann und in welcher Fassung §104c AufenthG-E in Kraft treten wird. Die Antragstellerin hat in ihrem Beschwerdevorbringen selbst einen bereits im Gesetzgebungsverfahren eingebrachten Änderungsvorschlag angeführt („vollziehbar ausreisepflichtig“ statt „geduldet“), der - sollte er nicht zu einer Änderung der Entwurfsfassung der Norm führen - sogar negative Auswirkungen auf einen Anspruch der Antragstellerin haben könnte. Zudem könnte auch der Stichtag noch einer Änderung unterliegen (vgl. zur Forderung eines anderen Stichtags: https://www.asyl.net/view/update-laendererlasse-im-vorgriff-auf-das-chancen-aufenthaltsrecht). Auch ein solcher könnte Auswirkungen auf einen möglichen Anspruch der Antragstellerin haben. Eine die Antragsgegnerin bindende Vorgriffsregelung ist weder vorgetragen noch ersichtlich.
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Sollte die Antragstellerin mit ihrem Beschwerdevorbringen zudem die Erteilung einer Ermessensduldung gem. §60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG begehrt haben („Die Erfolgsaussichten der Klage in der Hauptsache sind zumindest insoweit offen, als die Antragstellerin im Vorgriff auf das Chancen-Aufenthaltsrecht gem. §104c AufenthG-E eine Ermessensduldung nach §60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG beanspruchen kann.“; „Vielmehr haben die Ausländerbehörden auch im F. B. nach §60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG im Vorgriff auf die allgemein bekannte Neuregelung jeweils im Einzelfall über die Erteilung einer Ermessensduldung zu entscheiden.“; „Zudem liegen im Fall der Antragstellerin unabhängig vom Grad ihrer Verwurzelung schon aufgrund ihres 25-jährigen Aufenthalts im Bundesgebiet dringende humanitäre und persönliche Gründe vor.“), wäre die Beschwerde insoweit unzulässig. Da eine Ermessensduldung gem. §60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG erstinstanzlich nicht Streitgegenstand gewesen ist, wäre die Beschwerde mit einer Änderung des Streitgegenstandes verbunden, die in der Beschwerdeinstanz grundsätzlich nicht möglich ist. Zwar findet §91 VwGO trotz der Nichterwähnung in §122 Abs. 1 VwGO für das Beschlussverfahren insbesondere im Eilrechtsschutz nach §123 VwGO entsprechende Anwendung. Einer Antragsänderung im Beschwerdeverfahren steht jedoch §146 Abs. 4 VwGO regelmäßig entgegen (vgl. Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 91 Rn. 7; Happ in Eyermann, a.a.O., §146 Rn. 25). Das Beschwerdeverfahren dient, wie sich aus dem in den Sätzen 3 und 4 des in §146 Abs. 4 VwGO normierten Darlegungsgebot ergibt, ausschließlich der rechtlichen Überprüfung der in Verfahren nach §§ 80 und 123 VwGO ergangenen erstinstanzlichen Entscheidung und lässt für einen allein im Wege der Antragsänderung bzw. -erweiterung zu verfolgenden Anordnungsantrag keinen Raum (vgl. OVG LSA, B.v. 19.4.2010 - 4 M 73/10 - juris Rn. 3 m.w.N.). Abweichendes kann sich - wie hier nicht - ergeben, wenn mit der Antragsänderung keine wesentliche Änderung der zu prüfenden Gesichtspunkte einhergeht und das Gebot, effektiven Rechtsschutz zu gewähren, eine sachdienliche Antragsänderung verlangt (beispielsweise hinsichtlich des Zeitraums einer Beschäftigungserlaubnis vgl. BayVGH, B.v. 7.5.2018 - 10 CE 18.464 - juris Rn. 5 m.w.N.).
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §53 Abs. 2, §52 Abs. 1 GKG unter Berücksichtigung der Nrn. 1.5 und 8.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).