Titel:
Anforderungen an die Passbeschaffung eines sierra-leonischen Staatsangehörigen
Normenkette:
AufenthG § 60b Abs. 1 S. 1, § 84 Abs. 1 S. 1 Nr. 3
Leitsatz:
Die Ratio des § 60b AufenthG ist nicht allein die Klärung der Identität des Betroffenen, um sodann etwaig Verfestigungstatbestände anstreben zu können. Vielmehr dient diese Bestimmung bereits nach dem Wortlaut der Norm zuvörderst der besseren Durchsetzung der vollziehbaren Ausreisepflicht, ist doch in einer Vielzahl von Fällen das Fehlen von Reisedokumenten Grund für die Erteilung und Fortschreibung von Duldungen. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Sierra Leone, Duldung, fehlendes Reisedokument, Emergency Travel Certificate, Passersatzdokument, Passbeschaffungspflicht
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 28.09.2022 – 19 CS 22.1650
Fundstelle:
BeckRS 2022, 29772
Tenor
I. Der Eilantrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf € 1.250…. festgesetzt.
IV. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung wird abgelehnt.
Gründe
1
Der Antragsteller wendet sich im Hauptsacheverfahren u.a. gegen die Erteilung einer Duldung nach § 60b des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG).
2
Der Antragsteller ist sierra-leonischer Staatsangehöriger. Sein nach Einreise in das Bundesgebiet am 20. Januar 2017 gestellter Asylantrag blieb erfolglos (zuletzt BayVGH, B.v. 10.4.2019 - 9 ZB 19.30606). Er ist bereits seit 10. Mai 2018 vollziehbar ausreisepflichtig und wird seit 20. Mai 2019 wegen Passlosigkeit geduldet.
3
Der Antragsteller wurde in der Vergangenheit u.a. wie folgt über passbezogene Mitwirkungspflichten belehrt:
22. März 2017
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Belehrung nach § 15 des Asylgesetzes (AsylG), u.a. zu § 15 Abs. 2 Nr. 6 AsylG
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8. Mai 2019
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Aufforderung zur Vorlage eines Reisepasses bei Umsetzung des auf der Internetseite der Botschaft beschriebenen Procederes. Auf § 60a Abs. 6 AufenthG wurde u.a. hingewiesen. Kontaktdaten der Botschaft der Republik Sierra Leone in Berlin waren beigefügt.
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16. Mai 2019
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Persönliche Belehrung zur Beschaffung eines Reisepasses einschließlich Hinweises auf Kostenübernahme. Ferner Aushändigung einer vom Antragsteller nicht unterschriebenen Niederschrift, welche unter anderem auch auf die Erlangung eines gültigen Reisedokuments (Pass oder Passersatzpapier) hinweist. Darüber hinaus Benennung von behördlichen Kontaktstellen sowie von Vertrauensanwälten in Sierra Leone.
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19. Juli 2019
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Aufforderung zur Beschaffung eines Reisepasses/einer Geburtsurkunde mit Hinweisen zum weiteren Vorgehen. Hinweis auf § 60a Abs. 6 AufenthG.
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22. August 2019
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Aufforderung zur Beschaffung eines Reisepasses/einer Geburtsurkunde mit Hinweisen zum weiteren Vorgehen. Hinweis auf § 60a Abs. 6 AufenthG.
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6. Oktober 2019
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Benennung von Kontaktdaten für die Beschaffung einer Geburtsurkunde bzw. von Ausweisdokumenten.
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6. Dezember 2019
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Aufforderung zur Beschaffung/Ausstellung einer Geburtsurkunde sowie eines Staatsangehörigkeitsnachweises einschließlich Hinweise auf Vertrauensanwälte, Kostenübernahme und § 60a Abs. 6 AufenthG.
Ferner Hinweisblatt auf Möglichkeit, dass Duldung nach § 60b AufenthG ausgestellt werden kann.
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13. Januar 2021
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Aufforderung zur Beschaffung eines Passes, Passersatzes oder sonstigen Ausweisersatzes mit Hinweis auf § 60b AufenthG. Konkret Hinweis auf Umsetzung des von der Botschaft vorgegebenen Procederes (Bezug Passantrag, Übersendung an das Immigration Department).
Ferner Aufforderung zur Beschaffung eines Heimreisescheins (Emergency Travel Certificate) bei Aushändigung an die Ausländerbehörde. Aufforderung des qualifizierten Nachweises der erfolgreichen Beantragung eines Heimreisescheins. Bei Weigerung der Botschaft sei eine schriftliche Bestätigung der Botschaft erforderlich, in der ausführlich begründet werde, warum es im Fall des Antragstellers nicht möglich sei, ihm ein Dokument auszustellen, welches ihn zur Rückkehr in sein Heimatland berechtige. Ein bloßes standardisiertes Schreiben genüge dem Begründungserfordernis nicht.
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26. Februar 2021
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Aufforderung zur Passbeschaffung bzw. zur Umsetzung des seitens der Botschaft beschriebenen Vorgehens infolge Besitzes einer Geburtsurkunde unter Benennung verschiedener Informations- und Kontaktdaten sowie möglicher finanzieller Hilfestellungen.
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5. Oktober 2021
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Hinweisblatt zu § 60b AufenthG als Anlage zu Vorsprachebescheid vom 5. Oktober 2021.
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Darüber hinaus enthielten die jeweiligen Duldungsanträge ebenfalls Hinweise auf die Passbeschaffungspflicht und § 60a Abs. 6 AufenthG. Die Duldungsanträge seit dem 25. September 2019 belehren ferner zu den Regelungen in § 60b AufenthG.
5
Ein PEP-Verfahren wurde am 17. Mai 2019 eingeleitet, bislang ohne Ergebnis. Der Antragsteller wurde am 27. Oktober 2021 zum Zwecke der Beschaffung von Passersatzpapieren vor einer sierra-leonischen Expertendelegation zur Anhörung zwangsvorgeführt. Die sierra-leonische Staatsangehörigkeit des Antragstellers wurde dort festgestellt. Nach Auskunft der zuständigen Stelle zur Passersatzbeschaffung des Bundes vom 9. November 2021 bestehe Bereitschaft der hiesigen Botschaft, auf Antrag ein Passersatzpapier auszustellen. Die Einzelheiten des Verfahrens müssten mit der Botschaft noch abgestimmt werden.
6
Eine am 12. Juni 2019 ausgestellte Geburtsurkunde für den Antragsteller ist aktenkundig. Am 20. Januar 2020 legte er eine Bestätigung der Botschaft der Republik Sierra Leone vor, wonach er sierra-leonischer Staatsangehöriger und persönlich zur Beantragung eines Passes erschienen sei. Die Botschaft stelle jedoch aus technischen Gründen keine Pässe aus. Es werde geraten, einen biometrischen Reisepass persönlich beim Immigration Departement in Freetown zu beantragen. Unter dem 11. Juni 2021 teilte die Botschaft der Republik Sierra Leone mit, dass der Antragsteller dort befragt worden sei. Hiernach habe er angegeben, am …1995 geboren und Kind sierra-leonischer Eltern zu sein. Er sei aufgrund seines Dialekts identifiziert worden. Die Botschaft könne bestätigen, dass dieser Dialekt in Sierra Leone gesprochen werde. Daher bestehe eine Möglichkeit, dass der Antragsteller sierra-leonischer Staatsangehöriger sein könnte. Dies müsse vom Immigration Departement weiter bestätigt werden. Die Botschaft stelle keine Pässe aus. Die Immigrationsregeln erforderten, dass Antragsteller persönlich für ein biometrisches Interview in Freetown erscheinen.
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Unter dem 3. September 2021 verfügte die Ausländerbehörde intern erstmals die Erteilung einer Duldung nach § 60b AufenthG. Der Antragsteller nehme nicht alle zumutbaren Handlungen zur Beschaffung eines Passes oder Passersatzes selbst vor, insbesondere mit Blick auf § 60b Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 6 AufenthG. Er sei auf seine entsprechenden Pflichten hingewiesen worden. Die Umstände des Einzelfalles seien bei dieser Feststellung berücksichtigt worden. Die Beschaffung eines sierra-leonischen Reisepasses sei möglich und auch zumutbar. Die aktenkundigen Schreiben der Botschaft würden als reine Gefälligkeitsschreiben angesehen, um eine Mitwirkung bei der Passbeschaffung vorzutäuschen. Die vorgelegten Unterlagen genügten den Anforderungen an eine Mitwirkung zur Klärung der Identität nicht. Zudem sei es nach Mitteilung des Landesamtes für Asyl und Rückführungen möglich, einen Heimreiseschein für Sierra Leone zu erhalten. Am 18. Januar 2022 wurde die interne Verfügung wiederholt und vermerkt, dass andere sierra-leonische Staatsbürger gültige Reisepässe vorgelegt hätten, die jeweils am 1. November 2021 in Freetown ausgestellt worden seien. Eine Passbeantragung sei also entgegen der offiziellen Auskunft der Botschaft auch dann möglich, wenn der Betreffende sich in Deutschland aufhalte. Die Beantragung müsse direkt bei den Behörden vor Ort erfolgen. Es seien keine Gründe ersichtlich, weshalb der Antragsteller sich über seine Verwandten keinen Reisepass beschaffen können sollte.
8
Seit 21. Januar 2022 ist der Antragsteller in Besitz einer Duldung für Personen mit ungeklärter Identität gemäß § 60b Abs. 1 AufenthG.
9
Mit undatiertem Schreiben ließ der Antragsteller über den Münchner Flüchtlingsrat die Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis beantragen. Er habe alle möglichen und zumutbaren Schritte zur Identitätsklärung unternommen. Er habe einen Antrag auf Passersatzpapiere ausgefüllt. Ferner habe er Belege vorgelegt, dass er Personen in Sierra Leone kontaktiert habe, um ihm bei der Beschaffung einer Geburtsurkunde behilflich zu sein. Diese sei vorgelegt worden. Außerdem habe er die Botschaft in Berlin aufgesucht und eine Bestätigung über die Staatsangehörigkeit vorgelegt. Darüber hinaus habe er an der Vorsprache zur Identitätsklärung teilgenommen. Dass er bisher keinen Pass habe vorlegen können, liege nicht in seinem Verantwortungsbereich. Die Botschaft stelle keine Pässe aus. Es sei ihm somit unmöglich, sich in Deutschland einen Reisepass zu besorgen. Auch in Sierra Leone über Kontakte sei dies nicht möglich, da es sich bei den Pässen um biometrische Pässe handele. Es würden biometrische Daten des Passantragstellers benötigt. Eine Beauftragung zur Passbeschaffung sei somit auch nicht zielführend. Die Unmöglichkeit der Passbeschaffung in Deutschland werde auch in den PEP-Informationen des Landesamtes für Asyl und Rückführungen mit Stand vom 23. Januar 2022 bestätigt. Die Ausstellung eines Reisepasses unter erheblichen Bestechungszahlungen mittels Vermittlungspersonen sei nur unter Zuhilfenahme illegaler Mittel und unter unsicherem Ausgang möglich und könne somit nicht den Betroffenen zugemutet werden. Dass die Mitwirkungshandlungen des Antragstellers nicht zu einer vollständigen Identitätsklärung im Sinne einer Passvorlage geführt hätten, sei nicht ihm anzulasten, sondern der Unmöglichkeit der Passbeschaffung auf legalem Weg. Die Tatsache, dass anderweitig sierra-leonische Pässe vorlägen, ändere nichts an der Einschätzung, dass ein solcher in Deutschland nicht besorgt werden könne, außer es würden hohe Summen an Bestechungsgeldern gezahlt. Dem Antragsteller sei es daher nicht möglich, ein Reisedokument vorzulegen. Zudem werde auf die zu erwartenden gesetzlichen Veränderungen für Personen mit Duldung hingewiesen.
10
Mit Bescheid vom 21. Februar 2022, dem Antragsteller zugestellt am 23. Februar 2022, lehnte die Ausländerbehörde den Antrag auf Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis zur Ausbildung zum Bäcker bei einer Bäckerei in W* … ab. Es bestehe bereits auf Grundlage des § 60b Abs. 5 Satz 2 AufenthG ein Beschäftigungsverbot. Er habe zumutbare Handlungen zur Erfüllung der besonderen Passbeschaffungspflicht, über die er mehrfach belehrt worden sei, nicht vorgenommen. Da andere sierra-leonische Staatsbürger in jüngster Zeit am 1. November 2021 bzw. 14. Januar 2022 in Freetown ausgestellte Reisepässe vorgelegt hätten, sei somit erwiesen, dass entgegen anderslautender Mitteilungen der Botschaft die Beantragung eines Reisepasses auch dann möglich sei, wenn der Betreffende sich in Deutschland aufhalte. Zwar müsse der Antrag bei den Behörden in Sierra Leone gestellt werden, dies sei aber über seine Verwandten im Herkunftsland möglich. Zum anderen werde der Antrag auf Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis auf Grundlage des § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG abgelehnt, da aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus von ihm selbst zu vertretenden Gründen (fehlende Reisedokumente) nicht vollzogen werden könnten (wird sodann näher ausgeführt, Anm. d.G.).
11
Mit anwaltlichen Schreiben vom 18. März 2022 ließ der Antragsteller die Erteilung einer Duldung ohne den Zusatz nach § 60b AufenthG sowie die Erteilung einer allgemeinen Arbeitserlaubnis beantragen. Nach den Informationen des Landesamtes für Asyl und Rückführungen in der Fassung vom 11. Februar 2022 müssten sierra-leonische Staatsangehörige einen Pass „persönlich und physisch in Freetown“ beantragen. Eine Beantragung über die Botschaft in Berlin und die Ermächtigung von Freunden/Bekannten/Familienangehörigen in Sierra Leone sei somit nicht möglich. Eine Passbeschaffung sei somit auch für den Antragsteller nicht möglich und er erfülle seine besondere Passbeschaffungspflicht. Dass er keinen Pass erhalte, liege nicht in seinem Verantwortungsbereich. Dass der Ausländerbehörde anderweitig Pässe vorlägen, stehe dem nicht entgegen. Die Erteilung von Pässen ohne physische Anwesenheit funktioniere über die Zahlung erheblicher Geldsummen. Aus diesen Gründen bestehe auch kein Arbeitsverbot nach § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG. Die Aufforderung der Ausländerbehörde zur Passbeschaffung sei inhaltlich unrichtig und nicht erfüllbar. Von vornherein aussichtslose Handlungen seien nicht zumutbar und könnte nicht verlangt werden. Wenn die Heimatbehörden ohne persönliche Antragstellung des Betroffenen in Sierra Leone keinen Pass ausstellten, sei die Passlosigkeit jedenfalls aktuell nicht von ihm zu vertreten. Bis auf die Passbeschaffung habe der Antragsteller sämtliche andere Mitwirkungshandlungen erledigt.
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Auf Anfrage der Ausländerbehörde teilte das Bayerische Staatsministerium des Innern am 30. März 2022 mit, dass die Beschaffung von Pässen aus Sierra Leone legal möglich sei. Nach derzeitigem Kenntnisstand müssten Staatsbürger ihren neuen Reisepass direkt und persönlich beim für die Passausstellung zuständigen Immigration Department in Freetown beantragen. Dabei sei aufgrund der Speicherung von biometrischen Daten auf dem neuen Reisepass die physische Anwesenheit des Antragstellers erforderlich. Damit ein Antragsteller, der derzeit über keinen gültigen Reisepass verfüge, die persönliche Anwesenheit beim Immigration Department wahrnehmen könne, stelle die sierra-leonische Botschaft in Berlin dem Antragsteller kostenlos einen Heimreiseschein aus. Dieses „Emergency Travel Document“ sei nicht zur Identitätsklärung geeignet, da es weder über biometrisch-maschinenlesbare Merkmale verfüge noch über einen Registerabgleich im Heimatland bestätigt worden sei. Antragsteller sollten dabei folgendermaßen vorgehen: 1. Kontaktaufnahme mit der SLE Botschaft in Berlin zur Absprache der Modalitäten der Rückreise nach Sierra Leone und den benötigten Dokumenten, 2. Terminabsprache mit dem Immigration Department Freetown‚ Antragstellung in Freetown.
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Aktenkundig ist die Bekanntmachung einer Allgemeinverfügung des Bundesministeriums des Innern über die Anerkennung eines ausländischen Passes oder Passersatzes vom 6. April 2016 (BAnz AT 25.04.2016 B1). Aus der tabellarischen Anlage geht zu Sierra Leone hervor, dass als sonstiger Pass und Passersatzdokument u.a. auch das „Emergency Travel Certificate“ gilt. Es sei nur zur Ausreise zur Rückkehr nach Sierra Leone anerkannt, sofern es an sierra-leonische Staatsangehörige ausgestellt sei.
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Mit Schreiben vom 8. April 2022 informierte die Ausländerbehörde die Bevollmächtigte über das Vorgehen zur Beschaffung eines Reisepasses bzw. eines „Emergency Travel Certificate“.
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Nach Aktenlage hat die Ausländerbehörde über den anwaltlichen Antrag vom 18. März 2022 bislang noch nicht entschieden.
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Mit am 28. Juni 2022 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz vom 22. Juni 2022 ließ der Antragsteller Klage erheben (in der Hauptsache auch auf Ermöglichung einer Beschäftigung) und zugleich Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO stellen, jeweils verbunden mit Anträgen auf Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung. Die Erteilung einer Duldung mit Nebenbestimmung nach § 60b AufenthG sei wegen Erfüllung der besonderen Passbeschaffungspflicht rechtswidrig und verletze den Antragsteller in seinen Rechten. Er habe alle zumutbaren Handlungen vorgenommen, habe jedoch einen Pass nicht besorgen können, da dieser nur bei physischer Anwesenheit in Freetown beantragt werden könne. Dies bestätige auch das Landesamt für Asyl und Rückführungen in seinen PEP-Informationen mit Stand vom 11. Februar 2022. Die Erstellung eines Reisepasses in der hiesigen Botschaft sei nicht möglich, wie die Botschaft schon wesentlich länger mitteile und sich aus den vorgelegten Bestätigungen wie aus der Erkenntnislage (u.a. ACCORD) ebenfalls ergebe. Bei dieser Sachlage habe der Antragsteller im Rahmen des ihm Möglichen und Zumutbaren aktiv mitgewirkt. Er sei wiederholt zur Botschaft nach Berlin gefahren, habe dort vorgesprochen und habe auch aufgrund seines Dialekts identifiziert werden können. Bei der Vorführung vor der sierra-leonischen Delegation habe er die Fragen beantwortet und habe als sierra-leonischer Staatsangehöriger identifiziert werden können. Die Kontaktierung von Personen in Sierra Leone würde - jedenfalls aktuell - nicht zum Erfolg führen, da der Pass nur bei physischer Anwesenheit in Sierra Leone beantragt werden könne. Weitere zumutbare Handlungen, die zur Ausstellung eines Passes führen könnten, seien aktuell nicht ersichtlich. Die Beantragung eines „Emergency Travel Certificate“ zum Zwecke der Passbeantragung vor Ort sei nicht zumutbar. Mit Ausreise aus Deutschland würde die Duldung des Antragstellers erlöschen. Die besondere Passbeschaffungspflicht treffe den vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer. Bei Ausreise aus Deutschland würde er bereits nicht mehr zum Adressatenkreis der Pflichtigen gehören. Die Pflicht zur Ausreise sei nicht Bestandteil von Passbeschaffungspflichten. Die Einführung der besonderen Passbeschaffungspflichten sollte dazu führen, Ausreisehindernisse besser zu beseitigen, aber nicht die Ausreise im Rahmen einer Pflicht zur Beschaffung von Dokumenten durchzusetzen.
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Der Antragsteller lässt beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen.
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Der Antragsgegner beantragt,
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Es bestehe kein Anordnungsgrund, da die Klage keine Aussicht auf Erfolg habe. Das Asylverfahren des Antragstellers sei seit 10. April 2019 bestandskräftig abgeschlossen. Eine Abschiebung könne weiterhin aufgrund fehlender Reisedokumente nicht erfolgen, so dass ein Duldungsanspruch derzeit weiterbestehe. Der Antragsteller sei im Rahmen der Sammelanhörungsmaßnahme im Oktober 2021 erfolgreich identifiziert worden, die Ausstellung eines PEP sei zugesagt worden. Wann ein solches jedoch tatsächlich ausgestellt werde, sei derzeit nicht bekannt. Informationen hierüber lägen weder dem Landratsamt Passau noch dem Bayerischen Landesamt für Asyl und Rückführungen (BayLfAR) vor. Eine Duldung, egal in welcher Form, stelle jedoch keinen geregelten Aufenthaltsstatus dar. Es sei die Pflicht eines abgelehnten Asylbewerbers, alles zu tun, um in sein Heimatland zurückzukehren, gleichwohl, ob dies durch die Beschaffung eines Reisepasses oder eines anderen Reisedokumentes erfolge (§ 48 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Auch die Passbeschaffung habe letztendlich die Ausreise des abgelehnten Asylbewerbers zum Ziel. Auf einen dem entgegenstehenden inneren Willen des Betreffenden komme es hierbei nicht an. Die Ausreisepflicht bestehe kraft Gesetzes (§ 50 Abs. 1 AufenthG). Auch wenn die Ausstellung eines Reisepasses durch die sierra-leonische Botschaft laut derzeitigen Erkenntnissen des BayLfAR aussichtslos sei, sei dies für einen Heimreiseschein nicht der Fall. Der Antragsteller habe bislang nicht nachgewiesen, dass er versucht habe, einen Heimreiseschein (Emergency Travel Certificate) zu beantragen. Die Beantragung dieses Dokuments sei gem. BayLfAR bei der sierra-leonischen Botschaft möglich und sei so auch bereits mindestens einmal nachweislich erfolgreich durchgeführt worden. Dass dieses Dokument von der sierra-leonischen Botschaft in Berlin ausgestellt werde, lasse sich dadurch nachweisen, dass auf der Website unter „consular fees“ für die Ausstellung eines „Emergency Travel Certificate“ eine Gebühr von 100,00 € verlangt werde. Der Antragsteller sei durch das Landratsamt Passau bereits explizit auf dieses Dokument verwiesen worden (Schreiben vom 13.1.2021). Es seien keine Gründe dafür ersichtlich, warum ihm die Beantragung dieses Dokuments nicht möglich oder nicht zumutbar sein sollte. Es sei ihm zumutbar, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen und im Rahmen des Visumverfahrens zur Aufnahme einer Berufsausbildung zurückzukehren. Er habe somit keineswegs alle zumutbaren Maßnahmen unternommen, um seine Identität zu klären.
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Zur Ergänzung der Sachverhaltswiedergabe wird auf den weiteren Inhalt der Gerichtsakten in Eil- und Hauptsache, insbesondere den weiteren Inhalt der gewechselten Schriftsätze, sowie der vorgelegten Behördenakte Bezug genommen.
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Der Antrag, die aufschiebende Wirkung der unter dem Aktenzeichen RN 9 K 22.1684 geführten Klage gegen die Erteilung einer Duldung nach § 60b des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) anzuordnen, hat keinen Erfolg.
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1. Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Fall eines gesetzlichen Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) ganz oder teilweise anordnen. Hierbei hat das Gericht selbst abzuwägen, ob diejenigen Interessen, die für einen gesetzlich angeordneten sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts streiten, oder diejenigen, die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung sprechen, höher zu bewerten sind. Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache als wesentliches, aber nicht als alleiniges Indiz zu berücksichtigen. Wird der in der Hauptsache erhobenen Rechtsbehelf bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nur möglichen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein, weil er zulässig und begründet ist, so wird im Regelfall nur die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtmäßig, besteht ein öffentliches Interesse an seiner sofortigen Vollziehung und der Antrag bleibt voraussichtlich erfolglos. Sind die Erfolgsaussichten bei summarischer Prüfung als offen zu beurteilen, findet eine eigene gerichtliche Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt.
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2. Vor diesem Hintergrund überwiegt das gesetzliche Vollzugsinteresse (§ 60b Abs. 6 i.V.m. § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG) des Antragsgegners. Denn bei summarischer Prüfung wird die in der Hauptsache erhobene Klage auf Aufhebung des Zusatzes nach § 60b AufenthG keinen Erfolg haben.
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2.1 Die Regelungen des § 60b AufenthG, über deren Bestehen, Inhalt und Rechtsfolgen der Antragsteller in der Vergangenheit mehrfach ausführlich und mit einer Vielzahl weiterführender Hinweise belehrt worden ist, sprechen nicht nur Pässe, sondern auch Passersatzpapiere an. Diese beseitigen ebenfalls das Abschiebungshindernis „fehlendes Reisedokument“, wenn sie zur Ausreise in den Herkunftsstaat berechtigen.
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Nach den Informationen des Landesamtes für Asyl und Rückführungen vom 11. Februar 2022 stellt die Sierraleonische Botschaft in Berlin für freiwillige Ausreisen auf persönlichen Antrag nach einem Interview ein „Emergency Travel Certificate“ aus (s. auch https://slembassy-germany.org/?page_id=192 unter „Consular Fees“, aufgerufen am Entscheidungstag). Nach einer Suchmaschinenrecherche im Internet informieren verschiedene sierra-leonische Stellen hierzu sogar aktiv (jeweils aufgerufen am Entscheidungstag):
- Sierraleonische Botschaft in den USA:
https://embassyofsierraleone.net/visa-and-consular-services/emergency-travel-certificate
„The Emergency Travel Certificate (ETC) is issued to Sierra Leoneans who are traveling back to Sierra Leone. It is only good for one-way travel to Sierra Leone.“
- Sierraleonische Botschaft in der Türkei:
http://www.sierraleoneembassy.org.tr/Webkontrol/uploads/Fck/form_1.docx
- Sierraleonische Botschaft in Kuwait:
https://kw.slembassy.gov.sl/etc/
„The Emergency Travel Certificate (ETC) is issued to Sierra Leoneans traveling back to Sierra Leone who do not have valid passports. It is only valid for one-way travel to Sierra Leone.“
- Sierraleonische Botschaft bei den Vereinten Nationen:
https://un.slmission.gov.sl/consular-services/our-services
„Emergency Travel Certificates (ETCs) are issued to Sierra Leoneans who are traveling to Sierra Leone. ETCs are only good for one-way travel to Sierra Leone.“
- National Revenue Authority Freetown:
https://www.nra.gov.sl/individuals-and-partnerships/fees
EMERGENCY Travel Certificate 65,000 Leones“
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Bei einem entsprechenden eigenen Vorgehen des Antragstellers, für den sowohl mehrere Bestätigungen über die sierra-leonische Staatsangehörigkeit als auch eine Geburtsurkunde aktenkundig sind und der bereits mehrfach bei der hiesigen Botschaft in Berlin vorstellig werden konnte, kann also das Ausreisehindernis „fehlendes Reisedokument“ beseitigt werden. Wie sich aus der aktenkundigen Bekanntmachung einer Allgemeinverfügung des Bundesministeriums des Innern über die Anerkennung eines ausländischen Passes oder Passersatzes vom 6. April 2016 (BAnz AT 25.04.2016 B1), dort Ziffer I.1.2 i.V.m. Anlage I ergibt, gilt für Sierra Leone als sonstiger Pass und Passersatzdokument für eigene Staatsangehörige u.a. auch das „Emergency Travel Certificate“. Bezüglich anfallender Kosten wird erforderlichenfalls auf § 6 Abs. 1 Satz 1 Alt. 4 AsylbLG hingewiesen.
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2.2 Die - ganz unabhängig von den inmitten stehenden Fragen - bereits seit geraumer Zeit bestehende vollziehbare Ausreisepflicht infolge längst rechtskräftig negativ abgeschlossenen Asylverfahrens (§ 50 Abs. 1 und 2 i.V.m. § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) ist an dieser Stelle ausdrücklich zu betonen. Deswegen liegt der Hinweis der Antragstellerseite auf Unzumutbarkeit der Beschaffung eines solchen Reisedokuments wegen damit sodann verbundener Ausreisemöglichkeit ganz augenscheinlich neben der Sache. „Verstärkt“ sich die ohnehin kraft Gesetzes bestehende Verpflichtung zur Ausreise des Antragstellers faktisch durch Verweis auf eine Passbeschaffung vor Ort bei Verwendung eines im Bundesgebiet auf Antrag erhältlichen anderen Reisedokuments, erschließt sich das Argument der „Unzumutbarkeit der Ausreise wegen Passbeschaffung“ in keiner Weise. Vielmehr kommt er schlicht der ihm „sowieso“ obliegenden Verpflichtung zur Ausreise nach. Die etwaige Beschaffung eines Reisepasses im Heimatland wird dabei in seinem eigenen Interesse liegen, wenn er den Hinweis der Ausländerbehörde auf eine mögliche Rückkehr im Rahmen eines dann durchzuführenden Visumverfahrens umsetzen will.
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2.3 Da ein eigenes Engagement des Antragstellers zur Erlangung eines „Emergency Travel Certificate“ nicht nur nicht erkennbar ist, sondern mit Blick auf den Antragsschriftsatz - in unzutreffender Weise - sogar als nicht zumutbar erachtet wird, liegen die Tatbestandvoraussetzungen für die Erteilung einer Duldung nach § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG unschwer vor. Die Ratio des § 60b AufenthG ist nicht allein die Klärung der Identität des Betroffenen, um sodann etwaig Verfestigungstatbestände anstreben zu können. Vielmehr dient diese Bestimmung bereits nach dem Wortlaut der Norm zuvörderst der besseren Durchsetzung der vollziehbaren Ausreisepflicht („…wenn die Abschiebung aus von ihm selbst zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden kann…“), ist doch in einer Vielzahl von Fällen das Fehlen von Reisedokumenten Grund für die Erteilung und Fortschreibung von Duldungen (vgl. BT-Drs 19/10047, S. 37: „Die geltenden Regelungen zur Passbeschaffung werden von den Betroffenen bislang in der Praxis oftmals nicht befolgt. Daher ist auf eine stärkere Erfüllung dieser Rechtspflicht hinzuwirken, indem für vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer eine besondere Passbeschaffungspflicht im Gesetz festgeschrieben wird. Die Festschreibung der besonderen Passbeschaffungspflicht im Aufenthaltsgesetz ermöglicht es, an die Nichterfüllung Sanktionen zu knüpfen.“). So liegt der Fall auch hier.
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2.4 Mit Blick auf das Hauptsacheverfahren ist bereits jetzt anzumerken, dass im Lichte der vorstehenden Ausführungen die Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis - in welcher Form auch immer - bereits dem Grunde nach ausscheidet. Der im Sinne von Art. 43 Abs. 2 BayVwVfG wirksame Bestand einer Duldung nach § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG löst das kraft Gesetzes angeordnete erwerbsbezogene Erlaubnisverbot aus § 60b Abs. 5 Satz 2 AufenthG aus. Auch unter Streitwert- und damit Kostengesichtspunkten (§ 45 Abs. 1 Satz 2 GKG - die Hilfsanträge sind in der vorläufigen Streitwertfestsetzung bislang nicht berücksichtigt - möge die Aufrechterhaltung bzw. Konsolidierung der beschäftigungsbezogenen Haupt- bzw. Hilfsanträge überdacht werden.
Kosten: § 154 Abs. 1 VwGO.
Streitwert: §§ 53 Abs. 2 Nr. 2 und 52 Abs. 1 GKG unter Berücksichtigung von Ziffern 1.5 und 8.3 des Streitwertkataloges 2013.
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Nach den vorstehenden Ausführungen war der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung wegen fehlender hinreichender Erfolgsaussicht ebenfalls abzulehnen.