Inhalt

VGH München, Beschluss v. 28.09.2022 – 19 CS 22.1650
Titel:

Zumutbare Handlungen zur Passbeschaffung bei der sierra-leonischen Botschaft

Normenkette:
AufenthG § 60b Abs. 6, § 84 Abs. 1 S. 1 Nr. 3
Leitsatz:
Auch wenn die sierra-leonische Botschaft in B. (derzeit) für ihre Staatsangehörigen keine Pässe ausstellt, so stellt es ersichtlich eine zumutbare und nicht von vornherein aussichtslose Mitwirkungspflicht dar, persönlich bei der sierra-leonischen Botschaft vorzusprechen, um dort (jedenfalls) ein Emergency Travel Certificate (ETC) zu beantragen und ggf. weitere Informationen zum Prozedere (Einzelfallentscheidung) zu erhalten. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Passbeschaffungspflicht, Zumutbarkeit, Duldung „für Personen mit ungeklärter Identität“, zumutbare Handlungen zur Passbeschaffung, Emergency Travel Certificate (ETC), Republik Sierra Leone, Erfüllung der besonderen Passbeschaffungspflicht, passbezogene Mitwirkungspflichten
Vorinstanz:
VG Regensburg, Beschluss vom 01.07.2022 – RN 9 S 22.1683
Fundstelle:
BeckRS 2022, 29771

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.250,-- EUR festgesetzt.

Gründe

1
Die zulässige Beschwerde, mit der der Antragsteller, ein am ... 1995 geborener s.-l. Staatsangehöriger, der nach erfolgloser Durchführung eines Asylverfahrens seit dem 10. Mai 2018 vollziehbar ausreisepflichtig ist und seit dem 20. Mai 2019 wegen Passlosigkeit geduldet wird, seinen in erster Instanz erfolglosen Antrag weiterverfolgt, die aufschiebende Wirkung seiner Klage, „die Nebenbestimmung aus den Bescheinigungen vom 25.4.2022 und 27.1.2022, dass es sich um eine Duldung „für Personen mit ungeklärter Identität“ gemäß §60b AufenthG handelt, aufzuheben“ (RN 9 K 22.1684) anzuordnen, ist nicht begründet.
2
Die vom Antragsteller in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, auf die der Verwaltungsgerichtshof nach §146 Abs. 4 Satz 6 VwGO seine Prüfung des Beschwerdevorbringens im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes zu beschränken hat, rechtfertigt nicht die Abänderung oder Aufhebung des angefochtenen Beschlusses.
3
Zur Begründung seiner Beschwerde trägt der Antragsteller „ergänzend zur Begründung des Eilantrags vom 28.6.2022“ mit Schriftsatz vom 1. August 2022 vor, die Erteilung der Nebenbestimmung nach §60b AufenthG sei rechtswidrig, da keine weiteren möglichen und zumutbaren Handlungen zur Passbeschaffung für den Antragsteller möglich seien. Der Antragsteller könne kein Emergency Travel Certificate (ETC) bei der sierra-leonischen Botschaft in B. beantragen, da diese momentan dort nicht erteilt würden. In einem anderen Verfahren sei eine Bestätigung vom 20. Juli 2022 vorgelegt worden, dass die sierra-leonischen Botschaft weder Pässe noch ETC momentan erteile. Sowohl der Antragsteller als auch seine Vertreterin würden derzeit versuchen, mit der sierra-leonischen Botschaft Kontakt aufzubauen, um herauszufinden, ob aktuell ETC erteilt würden. Die Vertreterin habe sich per E-Mail vom 27. Juli 2022 an die sierra-leonischen Botschaft gewandt (Nachfrage 29.7.2022) und angefragt, ob ETC in B. bei persönlicher Vorsprache ausgestellt würden und was der Antragsteller dafür vorlegen müsse. Sie habe bislang keine Rückmeldung darauf erhalten. Dass die Gebühren für ein ETC auf der Homepage der sierra-leonischen Botschaft ausgewiesen seien, beweise nicht, dass diese auch durch die Botschaft erteilt würden. In derselben Kostentabelle würden auch die Gebühren für die Erteilung eines Passes ausgewiesen, der aktuell nicht durch die Botschaft erteilt werde. Somit sei jedenfalls zweifelhaft, ob die Erteilung eines ETC in der Botschaft in B. zu besorgen sei. Sollte dies nicht möglich sein, so sei es auch nicht im Rahmen der Passbeschaffungspflicht nach §60b AufenthG zu verlangen. Von vorneherein aussichtslose Handlungen seien nicht zumutbar.
4
Dieses Vorbringen verhilft der Beschwerde nicht zum Erfolg. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass das gesetzliche Vollzugsinteresse (§ 60b Abs. 6 i.V.m. §84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG) des Antragsgegners (bei dem Duldungszusatz „für Personen mit ungeklärter Identität handelt es sich um eine isoliert anfechtbare Nebenbestimmung, vgl. BayVGH, B.v. 27.8.2021 - 10 C 21. 2203 - juris Rn. 28; OVG Lüneburg, B.v. 9.6.2021 - 13 ME 587/20 - juris Rn. 8, 12; mithin ist vorläufiger Rechtsschutz gemäß §80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zu begehren, vgl. Dollinger in Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, §60b AufenthG, Rn. 32) die Interessen, die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung sprechen, überwiegt:
5
Der vielfach über seine passbezogenen Mitwirkungspflichten belehrte Antragsteller, der nach von ihm am 20. Januar 2020 dem Antragsgegner vorgelegter Bestätigung der Botschaft der Republik Sierra Leone dort persönlich zur Beantragung eines Passes erschienen war und der am 27. Oktober 2021 zum Zwecke der Beschaffung von Passersatzpapieren vor einer sierra-leonischen Experten-Delegation zur Anhörung zwangsvorgeführt wurde (wobei die sierra-leonische Staatsangehörigkeit festgestellt wurde), hat ersichtlich die ihm zur Vermeidung der Ausstellung einer Duldung für Personen mit ungeklärter Identität gemäß §60b AufenthG auferlegten Pflichten, zumutbare Handlungen zur Erfüllung der besonderen Passbeschaffungspflicht nach §60b Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht vorgenommen. Ersichtlich unstreitig stellt die sierra-leonische Botschaft in B. (derzeit) für ihre Staatsangehörigen keine Pässe aus. Dies geschieht vielmehr ersichtlich derzeit im Heimatland des Antragstellers. Soweit der Antragsteller den Ausführungen des Verwaltungsgerichts, er könne allerdings bei der sierra-leonischen Botschaft in B. ein ETC (zur Einreise in sein Heimatland zur dortigen Passbeschaffung und um seiner vollziehbaren Ausreisepflicht nachzukommen) erhalten, entgegensetzt, dies sei ihm nicht zumutbar (Vorlage eines Schreibens der Botschaft vom 20.7.2022 betreffend eine andere Person; Verweis auf nicht beantwortete E-Mail-Anfrage an die Botschaft durch die Vertreterin des Antragstellers), ist festzuhalten:
6
Der Antragsgegner hat im Hinblick auf die Ausführungen in der Beschwerdebegründung vom 1. August 2022 mitgeteilt, das Landesamt für Asyl und Rückführung habe insoweit wie folgt Stellung genommen:
7
„Gemäß dem letzten Kenntnisstand des LfAR vom 14.6.2020 (ohne Gewähr auf Aktualität) ist es weiterhin so, dass die sierra-leonische Botschaft in B. selbst zwar keine Reisepässe oder Heimreisescheine ausstellt, da die Prüfung und Ausstellung durch das Immigration Department in F. durchgeführt wird. Jede Person, die ein Reisedokument beantragt, muss persönlich bei der Botschaft vorsprechen, damit eine Einzelfallentscheidung über die weitere Vorgehensweise durch die Botschaft gefällt wird. Die Daten des Antragstellers werden dann nach Vorprüfung gegebenenfalls zur weiteren Entscheidung an das Immigration Department in F. übersandt und die Rückantwort dann an die antragstellende Person übermittelt. Das Prozedere, welches diesem Verfahrensentscheid zur Übersendung nach Sierra Leone zugrunde legt, ist uns aber unbekannt. Die Beweisführung mit einem Schreiben, dass sich nicht auf die Person bezieht, ist daher nicht zulässig. Die Person soll sich einen Termin bei der Botschaft geben lassen und dort persönlich vorsprechen. Der Nachweis der Vorsprache ist im Rahmen der Mitwirkungspflicht der aktenführenden Behörde im Original zu übergeben. Bezogen auf den Fall von Herrn J. I. kann folgende Auskunft gegeben werden: die Person wurde zur Anhörungsrunde im Oktober 2021 zwangsvorgeführt. Dort wurde die sierra-leonische Staatsangehörigkeit durch die Experten-Delegation positiv festgestellt und die Zusage zur Ausstellung eines Heimreisescheins erteilt. Das Prozedere zur Ausstellung wird derzeit noch auf Bundesebene erörtert. Mit einer Entscheidung ist aber noch in diesem Jahr zu rechnen.“
8
Davon ausgehend stellt es ersichtlich eine zumutbare und nicht von vornherein aussichtslose Mitwirkungspflicht des Antragstellers dar, persönlich bei der sierra-leonischen Botschaft in B. vorzusprechen, um dort (jedenfalls) ein ETC zu beantragen und ggf. weitere Informationen zum Prozedere (Einzelfallentscheidung) zu erhalten. Dieser Pflicht (vgl. §60b Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AufenthG) ist der Antragsteller bisher nicht nachgekommen. Auch ergibt sich in Anbetracht der Auskunft des Landesamtes für Asyl und Rückführung keine Unzumutbarkeit der Pflichterfüllung und auch keine Aussichtslosigkeit einer persönlichen Vorsprache aus dem eine andere Person betreffenden Schreiben der Botschaft sowie einer nicht beantworteten (im Übrigen allgemein gehaltenen, den Namen und das Verfahren des Antragstellers nicht nennenden) Anfrage der Antragstellervertreterin.
9
Im Übrigen erweist sich die ersichtlich verletzte Mitwirkungshandlung des geduldeten Ausländers als mitursächlich für die unterbliebene Aufenthaltsbeendigung (vgl. Dollinger a.a.O. Rn. 10).
10
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 2 VwGO.
11
Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1, Abs. 2 GKG.
12
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).