Inhalt

VG München, Urteil v. 13.06.2022 – M 17 K 20.31489
Titel:

Drohende Zwangsverheiratung einer Frau bei ihrer Rückkehr in den Jemen durch einen Familienangehörigen

Normenkette:
AsylG § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, Nr. 6, § 3c Nr. 3, § 3e
Leitsatz:
Frauen im Jemen werden als Zugehörige zur sozialen Gruppe der Frauen verfolgt, da sie aufgrund der kulturellen und religiösen Gepflogenheiten in der konservativ geprägten Gesellschaft des Jemens tiefgreifend diskriminiert werden und eine deutlich abgegrenzte Identität haben sowie von der sie umgebenden (männlichen) Bevölkerung als andersartig betrachtet werden. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht, Herkunftsland: Jemen, Auswanderung nach Saudi-Arabien im Alter von zwei Jahren, Furcht vor Zwangsverheiratung durch Onkel, Keine weitere Verwandte im Jemen, Herkunftsland Jemen, soziale Gruppe, drohende Zwangsverheiratung, Verfolgung durch Familienangehörige, Existenzminimum, keine interne Fluchtalternative
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 04.10.2022 – 15 ZB 22.30779
Fundstelle:
BeckRS 2022, 29752

Tenor

I. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlings-eigenschaft zuzuerkennen.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12. Mai 2020 wird aufgehoben, soweit er dieser Verpflichtung entgegensteht.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Be-klagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Die Klägerin begehrt die Anerkennung als Asylberechtigte bzw. die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise die Zuerkennung subsidiären Schutzes, hilfsweise die Feststellung eines Abschiebungsverbotes.
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Die Klägerin ist jemenitische Staatsangehörige und Zugehörige der Volksgruppe der Araber. Sie reiste nach eigenen Angaben am 6. oder 7. Oktober 2019 auf dem Landweg von Österreich kommend in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 7. November 2019 einen Asylantrag.
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In ihrer Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 18. Dezember 2019 gab sie im Wesentlichen an, dass sie den Jemen mit ihrer Familie bereits im Alter von 2 Jahren verlassen und 21 Jahre lang in Saudi-Arabien gelebt habe. Alleiniger Grund für die damalige Ausreise sei gewesen, dass der Großvater väterlicherseits eine plastik- und metallverarbeitende Firma in Saudi-Arabien gehabt habe. Eine Rückkehr in den Jemen sei nicht möglich, da dort Krieg herrsche und die Klägerin dort keine Lebensgrundlage habe. Ihr Vater sei mittlerweile verstorben, sie hätte dort niemanden, der sie beschützen könne.
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Mit Bescheid vom 12. Mai 2020 lehnte das Bundesamt die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf subsidiären Schutz (Nr. 3) ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 4). Die Klägerin wurde aufgefordert, innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung bzw. unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen. Andernfalls wurde ihr die Abschiebung in den Jemen bzw. in einen anderen Staat, in den sie einreisen darf oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht (Nr. 5). Zudem wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
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Die Klägerin hat hiergegen Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht München erhoben.
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Der Klägerbevollmächtigte beantragte,
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I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12. Mai 2020 wird aufgehoben.
II. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
III. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wird verpflichtet, die Klägerin als Asylberechtigte anzuerkennen.
IV. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wird verpflichtet, der Klägerin den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen.
V. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wird verpflichtet, hinsichtlich Jemen das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1, 2 AufenthG festzustellen.
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Zur Klagebegründung wurde ergänzend vorgetragen, dass ihr Vater bei einer Reise in den Jemen vom Daesch (IS) ermordet worden sei. Ihr Onkel arbeite für den Daesh und habe die Klägerin an einen Daesch-Mann „verkauft“. Der Klägerin drohe bei einer Rückkehr in den Jemen die Gefahr einer Zwangsverheiratung durch ihren Onkel. Zwar würde sich der betreffende Onkel nicht im Jemen, sondern in Saudi-Arabien aufhalten, allerdings wäre die Klägerin mangels familiärer Unterstützung und aufgrund des innerstaatlich bewaffneten Konflikts im Jemen gezwungen, nach Saudi-Arabien auszureisen.
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Die Beklagte übersandte die Behördenakten und stellte keinen Antrag.
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In der mündlichen Verhandlung wurde die Klägerin informatorisch zu ihrem Verfolgungsschicksal angehört. Sie gab dabei ergänzend an, dass vom im Jemen verbliebene Onkel ebenso die Gefahr einer Zwangsverheiratung ausgehe wie von dem Onkel, der in Saudi-Arabien lebe. Die Onkel seien Brüder und stünden in einem guten Verhältnis zueinander.
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Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 8. April 2022 zur Entscheidung auf die Einzelrichterin übertragen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, den Inhalt der vorgelegten Behördenakte des Bundesamts sowie die Niederschrift über die mündliche Verhandlung am 13. Juni 2022 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Über den Rechtsstreit konnte trotz des Ausbleibens der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung entschieden werden, da das Bundesamt fristgemäß geladen und in der Ladung darauf hingewiesen wurde, dass bei Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne diesen verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
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Die zulässige Klage hat teilweise Erfolg. Der Ablehnungsbescheid des Bundesamts vom 12. Mai 2020 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, soweit ihr Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abgelehnt wurde, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Hinsichtlich der Anerkennung als Asylberechtigte ist die Klage unbegründet. Über die als Hilfsanträge auszulegende (§§ 88, 86 Abs. 3 VwGO) Klageanträge zu III und IV war aufgrund des Erfolgs des Klageantrags zu II nicht mehr zu entscheiden.
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I. Die Klägerin hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG.
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Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtstellung der Flüchtlinge, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten politischen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
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Als Verfolgungshandlung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Zwischen den in § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Verfolgung muss stattfinden, weil der Verfolger dem Ausländer das in Rede stehende Merkmal, z.B. eine bestimmte politische Überzeugung, zuschreibt. Ist dies der Fall, kommt es weder darauf an, ob der Betroffene die ihm zugeschriebene Überzeugung tatsächlich aufweist (§ 3b Abs. 2 AsylG) noch ob er aufgrund dieser tatsächlich tätig geworden ist (§ 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG).
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Nach § 3c AsylG kann die Verfolgung ausgehen von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3).
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Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die oben genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen. Hinsichtlich des Prognosemaßstabs ist bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft in Orientierung an der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK („real risk“) der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen, wie er vormals auch in Art. 2 Buchst. c) RL 2004/83/EG enthalten war und nunmehr in Art. 2 Buchst. d) RL 2011/95/EU in der Umschreibung „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ zu Grunde liegt (vgl. BVerwG, U.v. 1.3.2012 - 10 C 7.11 - juris Rn. 12). Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 32). Wenn sich aus den Gesamtumständen des Falles die reale Möglichkeit einer Verfolgung ergibt, riskiert kein verständiger Mensch die Rückkehr in das Herkunftsland. Bei der Abwägung aller Umstände bezieht der verständige, besonnen und vernünftig denkende Betrachter auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in gewissem Umfang ein (vgl. BVerwG, U.v. 5.11.1991 - 9C 118/90 - juris Rn. 17).
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Des Weiteren kommt sog. Vorverfolgten die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (Qualifikationsrichtlinie) zugute. Danach ist die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (vgl. BVerwG, B.v. 17.9.2019 - 1 B 43.19 - juris Rn. 7 unter Verweis auf U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 - juris Rn. 19). Die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie greift auch bei der Prüfung, ob für den Vorverfolgten im Gebiet einer internen Schutzalternative gemäß § 3 AsylG keine begründete Furcht vor Verfolgung besteht. Die hinter der Beweiserleichterung stehende Teleologie - der humanitäre Charakter des Asyls - verbietet es, einem Schutzsuchenden, der das Schicksal der Verfolgung bereits einmal erlitten hat, das Risiko einer Wiederholung solcher Verfolgung aufzubürden (vgl. BVerwG, U.v. 5.5.2009 - 10 C 21.08 - juris Rn. 22 ff. in Bezug auf die Vorgängervorschrift Art. 8 Abs. 1 RL 2004/83/EG).
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Das Gericht muss dabei sowohl von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Schicksals als auch von der Richtigkeit der Prognose drohender Verfolgung bzw. Schadens die volle Überzeugung gewinnen. Wegen der häufig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Asylbewerbers kann schon allein sein eigener Sachvortrag zur Asylanerkennung führen, sofern sich das Tatsachengericht unter Berücksichtigung aller Umstände von dessen Wahrheit überzeugen kann (BVerwG, B.v. 21.7.1989 - 9 B 239.89 - juris Rn. 3). Dem persönlichen Vorbringen des Rechtssuchenden und dessen Würdigung kommt dabei besondere Bedeutung zu. Es ist Sache des Ausländers, die Gründe seiner Verfolgung und Bedrohung in schlüssiger Form vorzutragen (vgl. §§ 15, 25 AsylG). Dabei hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmige Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei dessen Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten hat. Hierzu gehört, dass der Asylbewerber zu den in seine eigene Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Asylanspruch lückenlos zu tragen (BVerwG, B.v. 26.10.1989 - 9 B 405.89 - juris Rn. 8).
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II. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist das Gericht aufgrund der Angaben der Klägerin beim Bundesamt und im gerichtlichen Verfahren unter Berücksichtigung des persönlichen Eindrucks, den das Gericht von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, davon überzeugt, dass der Klägerin in ihrem Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im vorstehenden Sinn droht.
22
Es ist beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in den Jemen Verfolgungshandlungen i.S.v. § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 6 AsylG ausgesetzt sein wird. Nach § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG gelten als Verfolgung auch Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen. Infolge einer zwangsweisen Verheiratung wird für eine Frau die individuelle und selbstbestimmte Lebensführung und ihr Recht auf Eheschließungsfreiheit aufgehoben sowie ihre sexuelle Identität als Frau grundlegend in Frage gestellt (vgl. VG Hannover, U.v. 3.3.2020 - 7 A 1787/20 - juris Rn. 34; VG Würzburg, U.v. 14.3.2019 - W 9 K 17.31742 - juris Rn. 30). Die Klägerin schilderte bereits beim Bundesamt die Furcht vor einer Zwangsverheiratung durch den Onkel in Saudi-Arabien. In der mündlichen Verhandlung konkretisierte die Klägerin ihren Vortrag dahingehend, dass gleichsam vom Onkel im Jemen diese Gefahr ausgehe. Dies ist aus gerichtlicher Sicht aufgrund der geschilderten Beziehung der Onkel zueinander nachvollziehbar. Die Klägerin machte deutlich, dass ihre Mutter die Gefahr der Zwangsverheiratung in der Vergangenheit dadurch begegnete, in dem sie ihre Töchter fortschickte. Bei einer Rückkehr in den Jemen könnte die Mutter der Klägerin aufgrund örtlicher Abwesenheit sich nicht schützend vor ihre Tochter stellen, ungeachtet der Frage, ob ihr dies als Frau ein zweites Mal gelingen würde. Der Vater der Klägerin ist bereits verstorben, sodass auch dieser die Klägerin nicht vor einer Verfolgungshandlung bewahren könnte. Auch sind keine anderen schutzbereiten Familienangehörigen zugegen, die die Klägerin vor einer unfreiwilligen Verheiratung bewahren könnten. Vielmehr geht die Gefahr der Verfolgung gerade von ihrem einzig im Jemen verbliebenen Familienangehörigen bzw. dessen Bruder aus aus, dessen Gewalt die Klägerin aufgrund der Gepflogenheiten im Jemen ausgesetzt wäre.
23
Verfolgungsgrund, an den die Verfolgungshandlung der Zwangsheirat anknüpft, vgl. § 3a Abs. 3 AsylG, ist die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, die nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 letzter Hs. AsylG auch allein an das Geschlecht anknüpfen kann (vgl. hierzu VG München, U.v. 4.6.2014 - M 23 K 11.30549 - juris Rn. 27 m.w.N.). Bei geschlechtsspezifischen Verfolgungsmaßnahmen wird schon im Tatbestand der Verfolgungshandlung die Zielgruppe als soziale Gruppe i.S.v. § 3b AsylG indiziert (VG Würzburg, U.v. 14.3.2019 - W 9 K 17.31742 - juris Rn. 31). Die Klägerin würde als Zugehörige zur sozialen Gruppe der Frauen verfolgt werden, die aufgrund der kulturellen und religiösen Gepflogenheiten in der konservativ geprägten Gesellschaft des Jemens tiefgreifend diskriminiert werden und eine deutlich abgegrenzte Identität haben sowie von der sie umgebenden (männlichen) Bevölkerung als andersartig betrachtet werden. Frauen im Jemen sind mit tiefgreifender Diskriminierung durch das Gesetz sowie im täglichen Leben konfrontiert. Mechanismen, um Schutz zu gewährleisten, sind schwach, und die Regierung kann sie nicht effektiv umsetzen. Strukturelle Diskriminierung, ein strenges Patriarchat, Ausschluss aus dem gesellschaftlichen und politischen Leben, häusliche Gewalt, wirtschaftliche Not und Zwangsehen von Minderjährigen sind Realitäten, die die Lebenswelten vieler jemenitischer Frauen und Mädchen durchdringen. Der Krieg hat Frauen besonders hart getroffen, viele Aspekte ihres Lebens dramatisch verschlechtert und die gegen sie begangenen Menschenrechtsverletzungen verschlimmert (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, 17.12.2021, S. 34).
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Als Verfolger i.S.v. § 3c Nr. 3 AsylG sind die Onkel der Klägerin anzusehen. Nach § 3c kann Verfolgung von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern Staat, Parteien und (internationale) Organisationen nicht willens oder in der Lage sind, wirksamen und nicht nur vorübergehenden Schutz vor Verfolgung zu bieten. Zwar bietet im Jemen das Gesetz Frauen Schutz vor häuslicher Gewalt, ausgenommen Vergewaltigung in der Ehe. Opfer häuslicher Gewalt zeigen diese jedoch nur selten bei der Polizei an, und Strafverfahren in Fällen häuslicher Gewalt sind selten, da die Regierung das Gesetz nicht wirksam durchsetzt. Zwangsverheiratung ist jedoch nicht einmal Gegenstand des Gesetzes. Der kriegsbedingte Niedergang des staatlichen Gebildes und der nahezu vollständige Zusammenbruch öffentlicher Institutionen führte zum Zusammenbruch der Schutzmauern für Frauen. Bei Rechtsverletzungen gibt es jetzt keinen juristischen Schutz mehr für Frauen. Die Zerstörung der bescheidenen öffentlichen Sicherungssysteme führte dazu, dass sich die Gesellschaft stärker an alte Sitten, Traditionen und die Religion klammert, was in der Folge zu einem Anstieg der Gewalt gegen Frauen führt (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, 17.12.2021, S. 35). Der rechtliche Rahmen in Jemen begünstigt geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 49, Jemen, 7.3.2022, S. 17).
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Die Klägerin muss sich auch nicht auf eine interne Fluchtalternative nach § 3e AsylG verweisen lassen. Demnach wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Dies ist nicht der Fall. Aufgrund der katastrophalen humanitären Verhältnisse infolge des Bürgerkriegs kann der Klägerin, nicht zugemutet werden, dass sie sich in einer anderen Region als ihrer Heimatregion H* ... niederlässt. Es ist nicht davon auszugehen, dass der Klägerin als Frau dort zumindest ein Leben am Rande des Existenzminimums möglich ist (vgl. BVerwG, U.v. 29.5.2008 - 10 C 11.07 - juris Rn. 35). Von einer finanziellen Unterstützung der Klägerin durch ihre Familie ist nicht auszugehen; familiäre oder soziale Netzwerke im Jemen bestehen - abgesehen von ihrem Onkel - nicht.
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II. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte. Die Voraussetzungen des Art. 16a GG liegen nicht vor, da die Klägerin nach eigenen Angaben über Österreich als einem Mitgliedstaat der Europäischen Union eingereist ist.
27
III. Aufgrund der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind die ablehnenden Entscheidungen hinsichtlich der Zuerkennung des subsidiären Schutzes (Nr. 3) und hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungsverboten (Nr. 4) gegenstandslos sowie die Abschiebungsandrohung (Nr. 5) und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (Nr. 6) rechtswidrig. Der streitgegenständliche Bescheid ist insoweit aufzuheben (vgl. VG Freiburg, U.v. 24.9.2020 - A 9 K 6070/17 - juris Rn. 83 ff. m.w.N.).
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VI. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Denn die Klageabweisung in Bezug auf die Anerkennung der Klägerin als Asylberechtigte fällt kostenmäßig nicht ins Gewicht, so dass von einer Kostenquotelung abzusehen war. Durch die weitgehende Angleichung des Flüchtlingsstatus an die Rechtsstellung des Asylberechtigten wirkt sich der abgewiesene Klageteil kostenmäßig nicht aus (vgl. VG Würzburg, U.v. 21.10.2015 - W 6 K 15.30149 - juris Rn. 48; HessVGH, U.v. 21.9.2011 - 6 A 1005/10.A - juris Rn. 41 m.w.N.).
29
Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.