Inhalt

VGH München, Beschluss v. 04.10.2022 – 15 ZB 22.30779
Titel:

Zur drohenden Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der jungen, heiratsfähigen Frauen im Jemen

Normenketten:
AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 6, § 3b Abs. 1 Nr. 4, § 78 Abs. 4 S. 4
Anerkennungs-RL Art. 10 Abs. 1 lit. d
Leitsatz:
Eine soziale Gruppe liegt nicht vor, wenn die betroffene Gruppe nicht in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat bzw. nicht von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylbewerberin aus dem J., Grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (nicht dargelegt), Zwangsverheiratung, soziale Gruppe, an das Geschlecht anknüpfende Verfolgungshandlung, Jemen, Zwangsheirat, soziale Gruppe der Frauen, Gruppe der jungen, heiratsfähigen Frauen, deutlich abgegrenzte Identität, an das Geschlecht anknüpfende Gruppenverfolgung, konservativ geprägte Gesellschaft, RL 2011/95/EU
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 13.06.2022 – M 17 K 20.31489
Fundstelle:
BeckRS 2022, 29751

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Gründe

I.
1
Die Beklagte wendet sich im Berufungszulassungsverfahren gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 13. Juni 2022, mit dem sie unter teilweiser Aufhebung ihres Bescheids vom 12. Mai 2020 verpflichtet wurde, der Klägerin - einer jemenitischen Staatsangehörigen - die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Nach den Entscheidungsgründen des angegriffenen Urteils legte das Verwaltungsgericht als Sachverhalt zugrunde, dass der Klägerin bei einer Rückkehr in den J. ausgehend von ihrem Onkel als einzig im J. verbliebenen Familienangehörigen bzw. dessen in Saudi-Arabien lebenden Bruder eine Zwangsverheiratung drohe. Aufgrund der Einreise nach Deutschland über einen Mitgliedstaat der Europäischen Union verneinte das Verwaltungsgericht zwar einen Anspruch der Klägerin auf Anerkennung als Asylberechtigte, bejahte aber einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG. Es sei beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in den J. Verfolgungshandlungen i.S.v. § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 6 AsylG ausgesetzt sein werde. Als Verfolgung gälten auch Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpften. Infolge einer - nach Überzeugung des Gerichts der Klägerin im J. tatsächlich drohenden - zwangsweisen Verheiratung werde für eine Frau die individuelle und selbstbestimmte Lebensführung und ihr Recht auf Eheschließungsfreiheit aufgehoben sowie ihre sexuelle Identität als Frau grundlegend in Frage gestellt. Verfolgungsgrund, an den die Verfolgungshandlung der Zwangsheirat anknüpfe (§ 3a Abs. 3 AsylG), sei die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, die nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V. mit § 3b Abs. 1 Nr. 4 letzter Hs. AsylG auch allein an das Geschlecht anknüpfen könne (im Einzelnen vgl. UA S. 9 f.). Nach § 3c AsylG könne Verfolgung von nichtstaatlichen Akteuren - wie hier von den beiden Onkeln der Klägerin - ausgehen, sofern Staat, Parteien und internationale Organisationen nicht willens oder in der Lage seien, wirksamen und nicht nur vorübergehenden Schutz vor Verfolgung zu bieten. Diese Voraussetzungen seien für den J. zu bejahen (UA S. 10). Die Klägerin müsse sich auch nicht auf eine interne Fluchtalternative nach § 3e AsylG verweisen lassen. Aufgrund der katastrophalen humanitären Verhältnisse infolge des Bürgerkriegs könne der Klägerin mit Blick auf die Sicherung ihres Existenzminimums nicht zugemutet werden, dass sie sich in einer anderen Region als ihrer Heimatregion niederlasse; familiäre oder soziale Bindungen der Klägerin bestünden im J. außer zu ihrem Onkel nicht (UA S. 10 f.).
2
Ihren Antrag auf Zulassung der Berufung, dem die Klägerin mit Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 22. August 2022 entgegentritt, stützt die Beklagte auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG). Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Gerichtsakten und die Behördenakten Bezug genommen.
II.
3
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
4
1. Der von der Beklagten ausschließlich geltend gemachte Zulassungsgrund einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) liegt nicht vor bzw. ist nicht gemäß den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG substantiiert dargelegt worden.
5
a) Die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine konkrete, jedoch fallübergreifende Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung ist, deren noch ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint. Dementsprechend verlangt die Darlegung der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung nach § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG, dass eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) ist; ferner muss dargelegt werden, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht. Zur Darlegung der Klärungsbedürftigkeit und der Entscheidungserheblichkeit muss hinreichend substantiiert dargetan werden, warum die aufgeworfene Frage im Berufungsverfahren anders als nach den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils zu entscheiden sein könnte (vgl. BayVGH, B.v. 8.12.2021 - 15 ZB 21.31689 - juris Rn. 4 m.w.N.; B.v. 16.3.2022 - 15 ZB 22.30278 - juris Rn. 17). Eine Grundsatzrüge, die sich auf tatsächliche Verhältnisse stützt, erfordert überdies die Angabe konkreter Anhaltspunkte dafür, dass die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen etwa im Hinblick auf hierzu vorliegende gegensätzliche Auskünfte oder abweichende Rechtsprechung einer unterschiedlichen Würdigung zugänglich sind. Insoweit ist es Aufgabe des Rechtsmittelführers, durch die Benennung von bestimmten begründeten Informationen, Auskünften, Presseberichten oder sonstigen Erkenntnisquellen zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür darzulegen, dass nicht die Feststellungen, Erkenntnisse und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts, sondern die gegenteiligen Bewertungen in der Zulassungsschrift zutreffend sind, so dass es zur Klärung der sich insoweit stellenden Fragen der Durchführung eines Berufungsverfahrens bedarf (BayVGH, B.v. 16.3.2022 a.a.O.; SächsOVG, B.v. 15.9.2021 - 6 A 1078/19 A - juris Rn. 3 m.w.N.).
6
b) Die Beklagte vermag nach den voranstehenden Maßstäben nicht gem. § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG darzulegen, dass die von ihr ausdrücklich als „Tatsachenfrage“ eingestufte Frage
7
„ob die Gruppe der Frauen im J., welchen die Zwangsverheiratung droht, von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (sog. externer Ansatz)“,
8
entscheidungserheblich ist.
9
Die Beklagte trägt insoweit vor, eine bestimmte soziale Gruppe sei eine Gruppe von Personen, die ein bestimmtes Merkmal miteinander teilten, welches sie miteinander verbinde und sie in die Situation bringe, von der übrigen Gesellschaft unterschieden zu werden. Die Mitglieder der Gruppe müssten danach nicht nur ein gemeinsames Element aufweisen, vielmehr müsse dieses Element sie darüber hinaus auch in der Weise miteinander verbinden, dass es sie von der Gesellschaft insgesamt unterscheide. Soweit das erkennende Gericht vorliegend auf die prekäre Situation von Frauen im Allgemeinen abstelle, sei - so die Beklagte - festzustellen, dass eine soziale Gruppe im Sinne des § 3 b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AsylG nicht gegeben sei. Soweit § 3 b Abs. 1 Nr. 4 AsylG klarstelle, dass eine bestimmte soziale Gruppe auch vorliegen könne, wenn die Zugehörigkeit allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpfe, sei weitere Voraussetzung, dass eine bestimmte Gruppe aufgrund dieses zugeschriebenen Merkmals durch die Gesellschaft als andersartig betrachtet werde. Hiervon könne gerade aufgrund der prekären Situation von alleinstehenden oder geschiedenen Frauen, sowie minderjährigen weiblichen Personen im J. im Allgemeinen nicht gesprochen werden. Zudem dürften bei der Anknüpfung an eine Gruppenverfolgung die Verfolgungshandlung und der Verfolgungsgrund nicht miteinander „vermischt“ werden. Der Zwang, jemanden heiraten zu müssen, den man nicht heiraten wolle, stelle die Verfolgungshandlung dar und könne daher nicht die Grundlage der Bildung einer bestimmten sozialen Gruppe sein. Die Verfolgungshandlung könne denknotwendig nicht gleichzeitig auch als Verfolgungsgrund dienen. Frauen würden jedoch erst dann von der Gesellschaft als andersartig angesehen, wenn sie sich weigerten, den für sie bestimmten Ehemann zu heiraten, somit erst infolge der Verfolgungshandlung. Die bestimmte soziale Gruppe müsse aber bereits zum Zeitpunkt der Verfolgungshandlung bestehen, da wegen § 3a Abs. 3 AsylG die Verfolgungshandlung auf dem Verfolgungsgrund beruhen müsse.
10
aa) Im rechtlichen Ausgangspunkt geht die Antragsbegründung - insofern wohl zu Recht - davon aus, dass zur Bejahung auch einer an das Geschlecht anknüpfenden Gruppenverfolgung i.S. von § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 3 (1. Alt.) i.V. mit § 3 Abs. 1, § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG die allgemeinen Voraussetzungen an eine Gruppenverfolgung i.S. von § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 1 AsylG vorliegen müssen. Eine Gruppe gilt gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG - im Einklang mit Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2011/95/EU - als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn a) die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und b) die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Diese Voraussetzungen des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 1 Nrn. a) und b) AsylG müssen kumulativ erfüllt sein. Eine soziale Gruppe in diesem Sinne liegt mithin nicht vor, wenn die betroffene Gruppe nicht in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat beziehungsweise nicht von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Das selbständige Erfordernis der „deutlich abgegrenzten Identität“ schließt jedenfalls ohne weitergehenden Klärungsbedarf eine Auslegung aus, nach der eine „soziale Gruppe“ im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG / Art. 10 Abs. 1 Buchst. d RL 2011/95/EU allein dadurch begründet wird, dass eine Mehr- oder Vielzahl von Personen in vergleichbarer Weise von etwa als Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 oder 2 AsylG / Art. 9 Abs. 1 oder 2 RL 2011/95/EU zu qualifizierenden Maßnahmen betroffen wird (unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 - BVerwGE 162, 44 = juris Rn. 29 und 31; B.v. 28.3.2019 - 1 B 7.19 - juris Rn. 9 f.). Es spricht Vieles dafür, dass die klarstellende Regelung in § 3b Nr. 4 Halbs. 3 (1. Alt.) AsylG als spezieller Unterfall der Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe dahingehend zu verstehen ist, dass zur Bejahung einer Gruppenverfolgung auch in diesem Fall zusätzlich - wie beim Merkmal der sexuellen Orientierung i.S. von § 3b Nr. 4 Halbs. 2 AsylG (vgl. BVerwG, B.v. 23.9.2019 - 1 B 54.19 - juris Rn. 7 f.) - erforderlich ist, dass die Personengruppe, deren Mitglieder das gleiche Geschlecht haben, von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. BayVGH, B.v. 27.9.2021 - 23 ZB 21.30370 - juris Rn. 7; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Juni 2022, zu § 3b AsylG Rn. 31a).
11
Auch wenn die Beklagte infrage stellt, dass die vom Erstgericht zugrunde gelegte Gruppe, der eine an das Geschlecht anknüpfende Verfolgung droht, im J. „von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird“, vermag sie mit der von ihr gestellten konkreten Tatsachenfrage keine Entscheidungserheblichkeit im o.g. Sinne darzulegen, weil das Verwaltungsgericht im Rahmen der Rechtsanwendung von § 3 Abs. 1, § 3a Abs. 2 Nrn. 1 und 6, § 3b Abs. 1 Nr. 4, § 3c Nr. 3 AsylG nicht hinsichtlich des Verfolgungsgrunds an die „Gruppe der Frauen im J., welchen die Zwangsverheiratung droht“, sondern in einem allgemeineren Sinn an die „Gruppe der Frauen“ im J. angeknüpft hat, denen diverse Diskriminierungen drohten. Das Verwaltungsgericht führt in den Entscheidungsgründen (UA S. 9 f.) aus, die Klägerin würde im J. als Zugehörige der sozialen G r u p p e d e r F r a u e n verfolgt werden, die aufgrund der kulturellen und religiösen Gepflogenheiten in der dortigen konservativ geprägten Gesellschaft tiefgreifend diskriminiert würden und eine deutlich abgegrenzte Identität hätten sowie von der sie umgebenden (männlichen) Bevölkerung als andersartig betrachtet werden. Frauen im J. seien nämlich - wie diverse Erkenntnisquellen belegten - mit tiefgreifender Diskriminierung durch das Gesetz sowie im täglichen Leben konfrontiert. Mechanismen, um Schutz zu gewährleisten, seien schwach; die Regierung könne solche nicht effektiv umsetzen. Strukturelle Diskriminierung, ein strenges Patriarchat, Ausschluss aus dem gesellschaftlichen und politischen Leben, häusliche Gewalt, wirtschaftliche Not und Zwangsehen von Minderjährigen seien Realitäten, die die Lebenswelten vieler jemenitischer Frauen und Mädchen durchdringen. Der Krieg habe Frauen besonders hart getroffen, viele Aspekte ihres Lebens dramatisch verschlechtert und die gegen sie begangenen Menschenrechtsverletzungen verschlimmert.
12
Auf die von der Beklagten als grundsätzlich angesehenen Frage (ob die Gruppe der Frauen im J., welchen die Zwangsverheiratung droht, von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird) kommt es mithin in der Argumentation des Erstgerichts nicht an. Insofern ist auch der Einwand der Beklagten, das Verwaltungsgericht „vermische“ Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund, nicht gerechtfertigt. Denn das Verwaltungsgericht setzt in dem angegriffenen Urteil gerade nicht zirkelschlussartig die Verfolgungshandlung und den Verfolgungsgrund in dem Sinne gleich, dass es die Gruppe der Frauen im J., denen Zwangsverheiratung droht, als die ausschlaggebende soziale Gruppe herausstellt, die von der Zwangsverheiratung als geschlechtsspezifischer Verfolgungsmaßnahme betroffen sei.
13
bb) Aufgrund der Bindung des Senats an die dargelegten Gründe (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG) und die insofern aufgeworfene (hier: Tatsachen-) Frage der Beklagten, besteht kein Anlass, auf die - über die von der Beklagten als grundsätzlich angesehene und ausdrücklich formulierte Frage hinausgehende - Frage einzugehen, ob die (Groß-) Gruppe der Frauen im J. die Anforderungen des § 3b Nr. 4 AsylG erfüllt und insbesondere ob diese Gruppe im J. „eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft andersartig betrachtet wird“ und ob insofern auch eine hinreichende Verfolgungsdichte vorliegt (zu Letzterem vgl. BayVGH, B.v. 6.4.2021 - 5 ZB 20.31360 - juris Rn. 11; allg. zum Streitstand, ob und unter welchen Voraussetzungen bei diskriminierenden Maßnahmen bzw. Verletzungen des sexuellen Selbstbestimmungsrechts gegenüber Frauen - so auch bei drohender Zwangsverheiratung - eine an das Geschlecht anknüpfende Gruppenverfolgung anzunehmen ist, vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Juni 2022, zu § 3b AsylG Rn. 35 ff.). Die Beklagte erfüllt insofern im Übrigen unabhängig von ihrer inhaltlich eingeschränkten Fragestellung (s.o.) nicht die Darlegungsanforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 an die Geltendmachung des Zulassungsgrunds des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG. „Darlegen“ bedeutet „erläutern“, „erklären“ oder „näher auf etwas eingehen“. Erforderlich ist eine substantiierte - und auch in sich schlüssige - Auseinandersetzung mit der Begründung der angegriffenen Entscheidung, durch die der Streitstoff durchdrungen und aufbereitet wird; mit der schlichten Darstellung der eigenen Rechtsauffassung wird dem Gebot der Darlegung im Sinn von § 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO nicht Genüge getan (vgl. z.B. B. BayVGH, B.v. 28.7.2017 - 20 ZB 17.30930 - juris Rn. 2, B.v. 28.12.2017 - 15 ZB 17.31740 - juris Rn. 2; B.v. 7.1.2019 - 15 ZB 18.32780 - juris Rn. 13). Das Verwaltungsgericht legt in den Entscheidungsgründen (UA S. 9 f.) inhaltlich näher dar, dass und warum aus seiner Sicht die Gruppe der Frauen im J. „aufgrund der kulturellen und religiösen Gepflogenheiten in der konservativ geprägten Gesellschaft des J.s tiefgreifend diskriminiert werden und eine deutlich abgegrenzte Identität haben sowie von der sie umgebenden (männlichen) Bevölkerung als andersartig betrachtet werden.“ Dem hat aber die Antragsbegründung mit der schlichten, argumentativ nicht näher untermauerten Gegenbehauptung (vgl. Seite 8, zweitletzter Absatz des Beklagtenschriftsatzes vom 15. Juli 2022) nichts Substantielles entgegengesetzt. Insbesondere findet sich hier keine substantiierte Auseinandersetzung mit der Annahme des Verwaltungsgerichts, dass bei geschlechtsspezifischen Verfolgungsmaßnahmen im Tatbestand der Verfolgungshandlung die Zielgruppe als soziale Gruppe i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG indiziert werde (ebenso VG Würzburg, U.v. 14.3.2019 - W 9 K 17.31742 - juris Rn. 31; VG Freiburg, U.v. 11.10.2021 - A 15 K 4778/17 - InfAuslR 2022, 157 = juris Rn. 31; VG Greifswald, U.v. 10.3.2022 - 3 A 1964/20 HGW - juris Rn. 38; VG Arnsberg, U.v. 27.6.2018 - 12 K 3982/16.A - juris Rn. 71; hierzu auch Hailbronner a.a.O. 3b AsylG Rn. 35b). Insofern wären die Darlegungsanforderungen auch dann nicht erfüllt, wenn (was in der Argumentation des Erstgerichts gerade nicht geschieht) nicht auf die (Groß-) Gruppe der Frauen schlechthin, sondern auf die (Unter-) Gruppe der jungen, heiratsfähigen Frauen abgestellt werden würde (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 6.4.2021 - 5 ZB 20.31360 - juris Rn. 11, 14; VG Greifswald, U.v. 10.3.2022 - 3 A 1964/20 HGW - juris Rn. 38 m.w.N.).
14
cc) Es ist schließlich - unabhängig von der eingeschränkten Formulierung der von der Beklagten als rechtsgrundsätzlich angesehenen Frage (s.o.) - nicht ersichtlich, welchen Beitrag die über viele Seiten der Antragsbegründung sich erstreckenden wörtlich zitierten Passagen der (auch im angegriffenen Urteil des Verwaltungsgerichts in Bezug genommenen) „Länderinformation der Staatendokumentation“ des (österreichischen) Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom Dezember 2021 sowie eines Urteils des 13a. Senats des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (BayVGH, U.v. 17.3.2016 - 13a B 15.30241 - juris Rn. 18 ff.) zur Darlegung einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne des Zulassungsgrunds gem. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG bezogen auf den zwischen den Parteien streitigen Anspruch der Klägerin auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft leisten könnten. Die Beklagte verweist darauf, dass es sich laut den zitierten Passagen des Berufungsurteils des Verwaltungsgerichtshofs vom 17. März 2016, die sie sich zu eigen mache, bei einer Zwangsheirat um eine erniedrigende Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG handele. Auch wenn die Entscheidung des 13a. Senats zu Irak ergangen sei, könnten die relevanten zitierten Passagen herkunftslandübergreifend Anwendung finden.
15
Die Beklagte vermag mit dieser - hinsichtlich des Argumentationsumfangs der Antragsbegründung schwerpunktmäßigen - Bezugnahme nicht darzulegen, dass die Frage nach dem Bestehen eines Anspruchs auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft anders als nach den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils zu entscheiden sein könnte. Denn die zitierte Entscheidung des 13a. Senats aus dem Jahr 2016 enthält weder zu der von der Beklagten im Zulassungsverfahren aufgeworfenen „Tatsachenfrage“ (s.o.) noch allgemein zu der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen eine drohende Zwangsverheiratung einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründen kann oder nicht, irgendeine Aussage. Der Verwaltungsgerichtshof hatte im Rahmen seines Urteils vom 17. März 2016 (13a B 15.30241) keinen Anlass zur Beurteilung, ob die von Privatpersonen (Familienmitgliedern) ausgehende Gefahr einer Zwangsverheiratung bei den im Übrigen angenommenen Voraussetzungen des § 3c Nr. 3 AsylG neben dem bejahten Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gem. § 4 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 AsylG auch einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründen könnte. Denn der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs aus dem Jahr 2016 lag ein Sachverhalt zugrunde, nach dem die dortige Klägerin ihren Klageantrag zuletzt selbst auf die Verpflichtung der Beklagten auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes begrenzt hatte, ohne einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geltend zu machen (vgl. die Sachverhaltsdarstellung bei BayVGH, U.v. 17.3.2016 - 13a B 15.30241 - juris Rn. 3). Das Verwaltungsgericht war hieran gemäß § 88 VwGO gebunden, konnte mithin von vornherein nicht über einen eventuellen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entscheiden und begrenzte sich darauf, der Klage durch Verpflichtung auf Zuerkennung subsidiären Schutzes antragsgemäß stattzugeben. Demgemäß hatte auch der Verwaltungsgerichtshof im damaligen Berufungsverfahren ebenfalls nicht über einen Anspruch der dortigen Klägerin auf Zuerkennung von Flüchtlingsschutz zu entscheiden.
16
Soweit sich die Beklagte mithin in der Antragsbegründung zum vorliegenden Berufungszulassungsverfahren die Ausführungen im Urteil des 13a. Senats des Verwaltungsgerichtshofs aus dem Jahr 2016 zu eigen macht, vermag sie hiermit nicht zu belegen, dass der Verwaltungsgerichtshof in einer anderen Entscheidung implizit im Fall einer drohenden Zwangsverheiratung eine Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe bzw. wegen Anknüpfung an das Geschlecht i.S. von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 6, Abs. 3, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG verneint habe und dass deshalb im vorliegenden Fall die Frage nach dem Bestehen eines solchen Anspruchs anders als nach den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils zu entscheiden sein könnte. Aus den laut Antragsbegründung seitens der Beklagten zuzustimmenden Ausführungen des 13a. Senats im Zusammenhang mit der Annahme einer erniedrigenden Handlung i.S. von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG in der Entscheidung vom 17. März 2016, wonach „nach einhelliger Auffassung im ausländerrechtlichen Schrifttum (…) eine Nötigungshandlung zur Erzwingung einer Heirat in jedem Fall eine das Selbstbestimmungsrecht der Frau verletzende, verwerfliche Handlung“ sei, kann jedenfalls nicht der Schluss gezogen werden, dass bei einer deshalb zu bejahenden Zuerkennung des subsidiären Schutzes ein (dort nicht geltend gemachter) Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausgeschlossen sei.
17
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).