Titel:
Erfolgloser Eilantrag der Nachbarn gegen Wohn- und Geschäftshaus
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5, § 80a Abs. 3
BauNVO § 15 Abs. 1
BayBO Art. 6 Abs. 1 S. 3, Abs. 4, Abs. 5 S. 1, Art. 63
Leitsätze:
1. Das Gebot der Rücksichtnahme gibt dem Nachbarn nicht das Recht, von jeglicher Beeinträchtigung der Licht- und Luftverhältnisse oder der Verschlechterung der Sichtachsen von seinem Grundstück aus verschont zu bleiben. Eine Veränderung der Verhältnisse durch ein Vorhaben, das den Rahmen der Umgebungsbebauung wahrt und städtebaulich vorgegeben ist, ist regelmäßig als zumutbar hinzunehmen. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Berufen auf eine Abstandsflächenverletzung scheidet im Hinblick auf das nachbarliche Gegenseitigkeitsverhältnis nach Treu und Glauben aus, soweit eigene Überschreitungen von Abstandsflächen von gleichem Ausmaß sind. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Eilantrag eines Nachbarn, Begründung eines Baugenehmigungsbescheids, Gebot der Rücksichtnahme, Abstandsflächen, Vorrang des Bauplanungsrechts im Abstandsflächenrecht, Zurückversetztes Obergeschoss, Abweichung von den Abstandsflächen, Treu und Glauben
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 21.10.2022 – 1 CS 22.1921
Fundstelle:
BeckRS 2022, 29722
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens gesamtschuldnerisch einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
III. Der Streitwert wird auf 7.500,00 Euro festgesetzt.
Gründe
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Die Antragsteller wenden sich gegen eine Baugenehmigung für ein Wohn- und Geschäftshaus, welche die Antragsgegnerin der Beigeladenen erteilt hat.
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Die Antragsteller sind Miteigentümer in Erbengemeinschaft des Grundstücks FlNr. 255/4 Gem. … Sie sind darüber hinaus Miteigentümer folgender, jeweils der Gemarkung … zugehöriger Grundstücke, hinsichtlich derer sie ebenfalls Rechtsschutz im Zusammenhang mit der streitgegenständlichen Baugenehmigung suchen: FlNr. 255/2 (Miteigentümer, M 1 K 22.3127, M 1 SN 22.3132), FlNr. 262/2 (Miteigentümer, M 1 K 22.3125, M 1 SN 22.3130), FlNr. 262/3 (Miteigentümer, M 1 K 21.235, M 1 SN 21.242) und FlNr. 262/4 (als Gesellschafter der E.GbR, M 1 K 22.3126 M 1 SN 22.3131). Südlich der FlNrn. 262/3, 262/2 und 262/4 befinden sich, durch die M.Straße (FlNr. 260/16 Gem. …*) getrennt, die Vorhabengrundstücke FlNrn. 260/24 und 260/12 jew. Gem.. Das Grundstück FlNr. 255/4 Gem. grenzt südlich die Hinterhofbebauung auf dem Vorhabengrundstück FlNr. 260/12 Gem. … an. Alle genannten Grundstücke befinden sich im Geltungsbereich des einfachen Bebauungsplans „Altstadtkern - Vergnügungsstätten“ der Antragsgegnerin, der für diesen Bereich ein Mischgebiet festsetzt.
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Mit am 8. November 2019 eingegangenem Antrag begehrte die Beigeladene die Erteilung einer Baugenehmigung für den Abbruch der Bestandsgebäude und den Neubau eines Wohn- und Geschäftshauses mit Tiefgarage auf FlNr. 260/12 und die Erweiterung des Bestandsgebäudes auf FlNr. 260/24 sowie Abweichungen, unter anderem von den Abstandsflächenvorschriften. Eine Beteiligung der Antragsteller im Genehmigungsverfahren erfolgte nicht.
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Mit Bescheid vom 15. Dezember 2020, den Antragstellern jeweils mittels Postzustellungsurkunde am 17. Dezember 2020 zugestellt, erteilte die Antragsgegnerin die streitgegenständliche Baugenehmigung sowie die beantragten Abweichungen, insbesondere die Abweichungen hinsichtlich der Überschreitung der Abstandsflächen aufgrund der geplanten Staffelgeschosse/ Dachterrassen nach Osten, Süden und Westen.
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Hiergegen ließen die Antragsteller am … Januar 2021 Klage (M 1 K 22.3129) erheben, über die noch nicht entschieden ist. Zugleich suchen sie Eilrechtsschutz und beantragen insoweit zuletzt,
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die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die der … GmbH& Co.KG erteilten Baugenehmigung (Az: … …*) vom 15. Dezember 2020 in der Fassung der Tekturgenehmigung vom 23. Juni 2021, anzuordnen.
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Mit Bescheid vom 23. Juni 2021, den Antragstellern mittels Postzustellungsurkunde zugestellt am 26. Juni 2021, erteilte die Antragsgegnerin der Beigeladenen zudem einen Tekturbescheid bezüglich der Änderung der Zufahrt und der Raumaufteilung der Ladenflächen im Erdgeschoss, statischen Änderungen im Erd- und Untergeschoss sowie neuer Anordnung der Stellplätze im Erd- und Untergeschoss.
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Das Bauvorhaben füge sich weder nach Art noch nach Maß der baulichen Nutzung in die Eigenart der näheren Umgebung ein noch nehme es auf die Grundstücke der Antragsteller Rücksicht. Wohngebäude gebe es in der Umgebung nicht; diese sei geprägt durch Geschäfts-, Büro-, und Verwaltungsgebäude, Einzelhandel und Anlagen für kirchliche Zwecke. Die Baugenehmigung verletze daher den Gebietserhaltungsanspruch der Antragsteller. Zudem verletze sie das Rücksichtnahmegebot, insbesondere weil es mit einer immissionschutzrechtlich sensiblen Nutzung an die gewerblich genutzten Gebäude der Antragsteller heranrücke, sodass der Lieferverkehr für die Einzelhandelsbetriebe erheblich eingeschränkt würde. Insbesondere auch die Höhe des Vorhabens füge sich nicht in die Eigenart der näheren Umgebung ein, der Baukörper wirke erdrückend und nehme den Gebäuden M* … straße 6 und 8 zudem das Licht. Die Baugenehmigung sei auch deshalb rechtswidrig, weil es ihr als Verwaltungsakt mit Drittwirkung an einer ausreichenden Begründung fehle. Bauplanungswie bauordnungsrechtlich geschützte nachbarliche Belange seien bei der Begründung des Verwaltungsaktes weder (hinreichend) berücksichtigt noch abgewogen worden. Die insoweit einzig angestellte Erwägung, das Staffelgeschoss führe für die Nachbarn zur Verbesserung von Belichtung und Besonnung verstoße gegen Denkgesetze, denn bisher habe es keinen Baukörper mit dieser Höhe und dieser Anzahl von Geschossen gegeben.
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Die Beigeladene hat sich nicht in der Sache geäußert und beantragt,
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den Antrag abzuweisen.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Das Bauvorhaben füge sich nach Art der Nutzung in die Eigenart der Umgebung ein, die einem faktischen Mischgebiet nach § 6 BauNVO entspreche. Damit gelten auch weiterhin die für Mischgebiete maßgeblichen immissionsschutzrechtlichen Vorschriften, es müsse bereits jetzt auf die bestehende Wohnnutzung Rücksicht genommen werden. Das Geschäftshaus der Antragsteller auf FlNr. 262/3 stehe seit ca. 30 Jahren leer. Das Vorhaben füge sich auch nach Maß der baulichen Nutzung ein. Es sei straßenseitig eine maximale Höhe von 16,10m, auf der Innenhofseite eine maximale Höhe von 17,09m genehmigt. Demgegenüber weise das Gebäude auf FlNr. 262/3 eine Firsthähe von 20,80m auf und überrage das streitgegenständliche Vorhaben damit um 3,70m. Des Weiteren liege den Antragstellern ein Vorbescheid zur Errichtung eines fünfgeschossigen Gebäudes auf den Grundstücken M* H.ellipstr. 2 und 4 mit einer Höhe von bis zu 18,47m vor. Eine erdrückende Wirkung und fehlende Belichtung bei geschlossener innerstädtischer Bauweise sei nicht erkennbar. Die Antragsteller sähen sich in Rechten verletzt, die sie selbst nicht einhielten. Im Übrigen seien sie als Nachbarn hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung auf die Geltendmachung eines Verstoßes gegen das Rücksichtnahmegebot beschränkt. Ein solcher liege nicht vor. Die erteilten Abweichungen seien rechtmäßig, insbesondere berücksichtigten sie die nachbarlichen Belange. Die Errichtung eines 5. Geschosses wäre gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO ohne Einhaltung von Abstandsflächen rechtmäßig gewesen, da vorliegend eine geschlossene Bauweise vorliege. Im Vergleich hierzu führe das Abrücken des 5. Geschosses, für das seinerseits Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO nicht einschlägig sei, da es von der Grundstücksgrenze abgerückt sei, zur Verbesserung von Belichtung und Besonnung, zudem würden auf den Dachterrassen Sichtschutzwände errichtet, um dem Gebot der Rücksichtnahme gerecht zu werden.
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Ergänzend wird auf die Gerichts- und Behördenakten, auch im Hauptsacheverfahren (M 1 K 22. 3129), Bezug genommen.
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Der zulässige Antrag* der auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage vom 15. Januar 2021 gemäß §§ 80a Abs. 3 Satz 2, 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gerichtet ist, hat in der Sache keinen Erfolg.
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1. Der Antrag ist zulässig, insbesondere ist er statthaft, §§ 80 a Abs. 3 Satz 2, 80 Abs. 5 Satz 1 i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, weil der in der Hauptsache erhobenen Anfechtungsklage gegen die Baugenehmigung vom 15. Dezember 2020 in der Fassung der Tekturgenehmigung vom 23. Juni 2021 gemäß § 212a Abs. 1 BauGB keine aufschiebende Wirkung zukommt.
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2. Der Antrag bleibt jedoch ohne Erfolg, weil er unbegründet ist.
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Im Rahmen eines Verfahrens nach § 80a Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO trifft das Gericht aufgrund der sich im Zeitpunkt seiner Entscheidung darstellenden Sach- und Rechtslage eine eigene Ermessensentscheidung darüber, ob die Interessen, die für einen sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts sprechen, oder diejenigen, die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung streiten, höher zu bewerten sind. Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache zu berücksichtigen. Diese sind ein wesentliches, aber nicht das alleinige Indiz für und gegen den Erfolg des gestellten Antrags. Wird der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein (weil er zulässig und begründet ist), so wird regelmäßig nur die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Wird dagegen der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf voraussichtlich keinen Erfolg haben (weil er unzulässig oder unbegründet ist), so ist dies ein starkes Indiz für die Ablehnung des Antrages auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Sind schließlich die Erfolgsaussichten offen, findet eine allgemeine, von den Erfolgsaussichten unabhängige, Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt.
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Die Interessenabwägung fällt zugunsten der Vollziehbarkeit der Baugenehmigung aus. Die gebotene summarische Prüfung ergibt, dass die Anfechtungsklage keinen Erfolg haben wird. Die Baugenehmigung dürfte im Hinblick auf nachbarschützende und im Verfahren zu prüfende Vorschriften rechtmäßig sein und die Antragsteller daher nicht in ihren Rechten verletzen (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Einen Rechtsanspruch auf Aufhebung einer Baugenehmigung hat ein Nachbar nicht schon dann, wenn die Baugenehmigung objektiv rechtswidrig ist. Vielmehr setzt ein Anspruch auf Aufhebung weiter voraus, dass der Nachbar durch die Baugenehmigung zugleich in seinen Rechten verletzt wird, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Das ist dann der Fall, wenn die zur Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung führende Norm zumindest auch dem Schutze der Nachbarn dient, also drittschützende Wirkung hat (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 6.10.1989 - 4 C 14.87 - juris Rn.9). Weiterhin ist zu beachten, dass ein Nachbar eine Baugenehmigung nur dann erfolgreich angreifen kann, wenn die Rechtswidrigkeit der Genehmigung sich aus einer Verletzung von Vorschriften ergibt, die gemäß Art. 59 oder Art. 60 BayBO Gegenstand der Prüfung im Baugenehmigungsverfahren waren.
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Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit vorliegender Nachbarklage gegen die Bauge nehmigung vom 15. Dezember 2020 in der Fassung der Tekturgenehmigung vom 23. Juni 2021 ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Behördenentscheidung maßgeblich, mithin die Bayerische Bauordnung in der Fassung vom 10. Juli 2018 (BayBO 2018). Hinsichtlich späterer Änderungen ist zu differenzieren: solche zu Lasten des Bauherrn haben außer Betracht zu bleiben. Insofern vermittelt die erteilte Baugenehmigung dem Bauherrn nämlich eine Rechtsposition, die sich gegenüber im Rechtsmittelverfahren eines Dritten eintretenden Änderungen der Sach- und Rechtslage durchsetzen kann (BVerwG, U.v. 13.12.2007 - 4 C 9.07 - juris Rn. 13) . Nachträgliche Änderungen zu seinen Gunsten sind dagegen zu berücksichtigen. Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass es mit der nach Maßgabe des einschlägigen Rechts vermittelten Baufreiheit nicht vereinbar wäre, eine zur Zeit des Erlasses rechtswidrige Baugenehmigung aufzuheben, die sogleich nach der Aufhebung wieder erteilt werden müsste (BVerwG, B.v. 23.4.1998 - 4 B 40/98 - juris Rn. 3).
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Danach verletzt die streitgegenständliche Baugenehmigung in der Fassung des Tekturbescheids die Antragsteller nicht in ihren Rechten.
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2.1 Die Antragsteller sind nicht aufgrund formeller Rechtsfehler in ihren subjektivöffentlichen Rechten verletzt. Es liegt kein Begründungsmangel vor. Gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 2 BayBO 2018 ist die Baugenehmigung nur insoweit zu begründen, als ohne Zustimmung des Nachbarn von nachbarschützenden Vorschriften abgewichen wird oder der Nachbar gegen das Vorhaben in Textform Einwendungen erhoben hat. Gemessen daran ist die Bescheidsbegründung nicht zu beanstanden. Der insofern vorgebrachte Einwand der Antragsteller, die Begründung, das Staffelgeschoss führe zu einer Verbesserung von Belichtung und Besonnung verstoße gegen Denkgesetze, betrifft vielmehr die materielle Rechtmäßigkeit der Abweichungen bzgl. der Einhaltung der Abstandsflächen hinsichtlich des Staffelgeschosses nach Süden, Osten und Westen. Im Übrigen betreffen diese Abweichungen die Grundstücke der Antragsteller nicht.
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2.2 Es liegen auch keine materiellen Rechtsfehler vor, durch die die Antragsteller in ihren Rechten verletzt sind.
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2.2.1 Die Baugenehmigung verletzt die Antragsteller nicht in ihren bauplanungsrechtlichen Nachbarrechten.
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2.2.1.1 Sie verstößt nicht zulasten der Antragsteller gegen deren Gebietserhaltungsanspruch aus § 30 Abs. 1 BauGB i.V.m. dem einschlägigen Bebauungsplan „Altstadtkern - Vergnügungsstätten“ der Antragsgegnerin. Im dortigen Mischgebiet fügt sich das Vorhaben nach Art der Nutzung als Wohn- und Geschäftshaus zweifelsohne ein.
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2.2.1.2 Die Baugenehmigung verstößt schließlich nicht gegen sonstige drittschützende Vorschriften des Bauplanungsrechts.
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Das Maß der baulichen Nutzung, die Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, und die Bauweise (§ 30 Abs. 3 i.V.m. § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB) sind nicht drittschützend (BayVGH, B.v.12.09.2013 - 2 CS 13.1351 - BeckRS 2013, 56189 Rn. 3; BayVGH, B.v. 20.05.2020 - 9 ZB 18.2585 - BeckRS 2020, 14735 Rn. 5), weshalb sich die Antragsteller auf eine subjektive Rechtsverletzung diesbezüglich nicht berufen können. Es kann daher dahinstehen, ob sich das Bauvorhaben im Hinblick auf die Zahl der Vollgeschosse, die Grundflächen und die Höhenentwicklung in die Eigenart der Umgebung einfügt.
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Die Antragsteller sind hinsichtlich dieser Aspekte auf das drittschützende, bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme, § 30 Abs. 1 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 BauNVO, verwiesen. Dieses ist nicht verletzt.
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Inhaltlich zielt das Gebot der Rücksichtnahme darauf ab, Spannungen und Störungen, die durch unverträgliche Grundstücksnutzungen entstehen, möglichst zu vermeiden. Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles ab. Für eine sachgerechte Bewertung des Einzelfalles kommt es wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zumutbar ist, an (vgl. BVerwG, U.v. 18.11.2004 - 4 C 1.04 - juris, Rn. 22; U.v. 29.11.2012 - 4 C 8.11 - juris Rn. 16; BayVGH, B.v. 12.9.2013 - 2 CS 13.1351 - juris Rn. 4). Bedeutsam ist ferner, inwieweit derjenige, der sich gegen das Vorhaben wendet, eine rechtlich geschützte wehrfähige Position innehat (vgl. BVerwG, B.v. 6.12.1996 - 4 B 215.96 - juris Rn. 9). Das Gebot der Rücksichtnahme gibt dem Nachbarn nicht das Recht, von jeglicher Beeinträchtigung der Licht- und Luftverhältnisse oder der Verschlechterung der Sichtachsen von seinem Grundstück aus verschont zu bleiben. Eine Rechtsverletzung ist erst dann zu bejahen, wenn von dem Vorhaben eine unzumutbare Beeinträchtigung ausgeht (vgl. BayVGH, B.v. 22.6.2011 - 15 CS 11.1101 - juris Rn. 17). Eine Veränderung der Verhältnisse durch ein Vorhaben, das den Rahmen der Umgebungsbebauung wahrt und städtebaulich vorgegeben ist, ist regelmäßig als zumutbar hinzunehmen (vgl. BayVGH, B.v. 12.9.2013 - 2 CS 13.1351 - juris Rn. 6).
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In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass eine Verletzung des Rücksichtnahmegebotes dann in Betracht kommt, wenn durch die Verwirklichung des genehmigten Vorhabens ein in der unmittelbaren Nachbarschaft befindliches Wohngebäude „eingemauert“ oder „erdrückt“ wird. Eine solche Wirkung kommt vor allem bei nach Höhe und Volumen „übergroßen“ Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht (vgl. BVerwG, U.v. 13.3.1981 - 4 C 1.78 - juris Rn. 38: 12-geschossiges Gebäude in 15 m Entfernung zum 2,5-geschossigen Nachbarwohnhaus; U.v. 23.5.1986 - 4 C 34.85 - juris Rn. 15: Drei 11,05 m hohe Siloanlagen im Abstand von 6 m zu einem 2-geschossigen Wohnanwesen). Hauptkriterien bei der Beurteilung einer „abriegelnden“ bzw. „erdrückenden“ Wirkung sind unter anderem die Höhe des Bauvorhabens und seine Länge sowie die Distanz der baulichen Anlage in Relation zur Nachbarbebauung (vgl. BayVGH, B.v. 19.3.2015 - 9 CS 14.2441 - juris Rn. 31; B.v. 23.4.2014 - 9 CS 14.222 - juris Rn. 12 m.w.N.). Für die Annahme der „abriegelnden“ bzw. „erdrückenden“ Wirkung eines Nachbargebäudes ist somit grundsätzlich kein Raum, wenn dessen Baukörper nicht erheblich höher ist als der des betroffenen Gebäudes, was insbesondere gilt, wenn die Gebäude im dicht bebauten innerstädtischen Bereich liegen (vgl. BayVGH, B.v. 11.5.2010 - 2 CS 10.454 - juris Rn. 5).
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Unter Anwendung dieser Grundsätze geht vom streitgegenständlichen Vorhaben zulasten der Antragsteller weder eine rücksichtslose erdrückende Wirkung aus, noch stellt es sich als rücksichtslos dar, weil es eine abriegelnde Wirkung erzeugt. Hinsichtlich des Gebäudes auf dem Grundstück FlNr. 255/4 Gem. … kommt eine solche rücksichtslose Wirkung durch das straßenseitige Gebäude ohnehin aufgrund der Entfernung von vornherein nicht in Betracht. Hinsichtlich des Rückgebäudes liegt ebensowenig eine solche Wirkung vor, weil dieses die Höhenentwicklung der rückwärtigen Grenzgebäude auf den angrenzenden Grundstücken aufnimmt.
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Ebensowenig bestehen Anhaltspunkte dafür, dass das streitgegenständliche Vorhaben unter dem Aspekt der heranrückenden Wohnbebauung rücksichtslos sein könnte. Zwar sind nach § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO die in den §§ 2 bis 4 BauNVO aufgeführten Anlagen unzulässig, wenn von ihnen Belästigungen oder Störungen ausgehen können, die nach der Eigenart des Baugebiets im Baugebiet selbst oder in dessen Umgebung unzumutbar sind, oder wenn sie solchen Belästigungen ausgesetzt werden. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass bereits im Bestandsgebäude Wohnnutzung gegeben war, hinsichtlich derer die Einzelhandelsbetriebe der Antragsteller die im Mischgebiet geltenden immissionsschutzrechtlichen Vorschriften einhalten mussten. Hinsichtlich der FlNrn. 255/4 ist die Annahme einer Rücksichtslosigkeit unter diesem Gesichtspunkt aufgrund der Tatsache, dass die Anlieferung zu diesen Grundstücken über die nördlich gelegene M.straße erfolgen wird, bereits fernliegend.
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2.2.2 Die Klage wird auch nicht im Hinblick auf drittschützende bauordnungsrechtliche Vorschriften erfolgreich sein. Die Baugenehmigung verstößt nicht zulasten der Antragsteller gegen die Abstandsflächenvorschriften.
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Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO sind für das Rückgebäude nach Südosten keine Abstandsflächen einzuhalten, weil es sich insoweit um eine faktische geschlossene Bauweise handelt. Im Übrigen ist anzumerken, dass die Antragsteller selbst mit der auf ihrem Grundstück befindlichen Hinterhofbebauung, die direkt an die Grundstücksgrenze zum Vorhabengrundstück FlNr. 260/12 gebaut ist, keine Abstandsflächen einhalten, sodass ein Berufen auf eine Abstandsflächenverletzung schon im Hinblick auf das nachbarliche Gegenseitigkeitsverhältnis nach Treu und Glauben ausscheiden müsste, soweit die Überschreitungen von gleichen Ausmaß sind. Es wäre hierfür auch unerheblich, ob das Rückgebäude der Antragsteller seinerzeit in Übereinstimmung mit den geltenden Bauvorschriften errichtet worden ist oder Bestandsschutz genießt. Maßgeblich ist allein das tatsächliche Maß der Abstandsflächenüberschreitung (s. hierzu: BayVGH, B.v. 01.02.2016 - 2 ZB 14.2605 - BeckRS 2016, 51514 Rn. 10).
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3. Damit war der Antrag mit der sich aus § 154 Abs. 1 VwGO ergebenden Kostenfolge abzuweisen. Hierbei entsprach es der Billigkeit, § 162 Abs. 3 VwGO, den Antragstellern auch die Kostentragung der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen, weil diese sich durch Antragstellung ihrerseits einem Kostenrisiko ausgesetzt hatte.
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4. Die Streitwertfestsetzung folgt §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nrn 1.1.3 Var. 2, 1.5, 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.