Inhalt

OLG München, Beschluss v. 23.03.2022 – 25 U 200/22
Titel:

Keine Pflicht des Gerichts zur Vernehmung eines Behandlers als Zeugen zu medizinischen Schlussfolgerungen und Wertungen

Normenkette:
ZPO § 286, § 412, § 414
Leitsätze:
1. Das Gericht kann seine Entscheidung ohne Rechtsfehler auf die Ausführungen von Sachverständigen stützen, wenn diese nachvollziehbar, plausibel und überzeugend sind. (Rn. 1 – 4) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zu Befunden, die ein behandelnder Arzt erhoben und dokumentiert hat, muss dieser nicht als Zeuge gehört werden, wenn die dokumentierten Befunde als solche unstreitig sind. Die von diesen Arzt getroffenen medizinischen Schlussfolgerungen und Wertungen sind nicht dem Zeugenbeweis zugänglich. Hierzu gehört die Frage, ob Dauerschäden vorliegen, die ursächlich auf dem Unfall beruhen. Diese Frage ist durch einen gerichtlich bestellten Sachverständigen zu klären. (Rn. 9 und 10) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein ärztliches Attest, das nur kurz eine medizinische Bewertung mitteilt, ohne diese näher zu begründen, erfüllt nicht die Anforderungen an ein Gutachten. Es reicht aus, wenn der vom Gericht bestellte Sachverständige zum Inhalt dieses Attests Stellung nimmt. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Unfallversicherung, sachverständiger Zeuge, Behandler, Sachverständigengutachten, Befunde
Vorinstanz:
LG Traunstein, Endurteil vom 19.11.2021 – 1 O 872/18
Rechtsmittelinstanz:
OLG München, Beschluss vom 27.09.2022 – 25 U 200/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 29419

Tenor

1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 19.11.2021, Az. 1 O 872/18, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.
2. Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses.

Gründe

1
Die Entscheidung des Landgerichts beruht weder auf einer Rechtsverletzung (§ 546 ZPO) noch rechtfertigen nach § 529 ZPO zugrunde zu legende Tatsachen eine andere Entscheidung (§ 513 Abs. 1 ZPO). Das sachverständig beratene Landgericht hat festgestellt, dass der Klägerin der medizinische Nachweis einer unfallbedingten Invalidität nicht gelungen ist. Dies bindet den Senat gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO.
2
Die vom Landgericht durchgeführte Begutachtung (nervenärztliches Gutachten des Sachverständigen Dr. L.vom 21.07.2020, vgl. Bl. 138 d. A. mit ergänzender schriftlicher Stellungnahme vom 28.01.2021 (Bl. 194 d.A.), orthopädisches Gutachten des Sachverständigen Dr. R.vom 21.07.2020, vgl. Bl. 139 d. A. mit ergänzender schriftlicher Stellungnahme vom 21.02.2021 (Bl. 195 d.A.) und Anhörung dieser beiden Sachverständigen am 10.09.2021, Bl. 220/222 d.A.) war aufwendig und überzeugend. Beide Sachverständige haben festgestellt, dass die Klägerin durch den Unfall keine Langzeitschäden erlitten hat (GA Dr. L. Bl. 138, S. 40; GA Dr. R. Bl. 139, S. 45).
3
Die Sachverständigen haben die von der Klägerin gestellten Fragen im Ergänzungsgutachten und bei ihrer Anhörung beantwortet; die Klägerin hat sich beim Anhörungstermin vertreten lassen und den Termin selbst nicht wahrgenommen; das Landgericht hat festgestellt, dass weder seitens der Klägerin noch seitens der Beklagten weitere Fragen an die Sachverständigen bestanden.
4
Die Ausführungen der Sachverständigen sind nachvollziehbar, plausibel und überzeugend.
5
Die Klägerin beanstandet in der Berufungsbegründung unter Wiederholung ihrer Einwände gegen die gerichtliche Begutachtung, dass das Landgericht es unterlassen habe, den sachverständigen Zeugen Dr. S. zu vernehmen und dass keine Zweit- bzw. Obergutachten erholt wurden und wiederholt in der Berufungsinstanz ihre diesbezüglichen Anträge.
6
Diese Beanstandungen können einen Erfolg der Berufung nicht begründen.
1. Einvernahme Dr. S. (behandelnder Arzt, vgl. vorgelegte Atteste z.B. vom 24.11.2020 von der Klägerin ohne nähere Anlagenbezeichnung vorgelegt).
7
Die Berufung rügt, auf den Antrag der Klägerin habe das Landgericht den behandelnden Arzt Dr. med. … Sch. als sachverständigen Zeugen vernehmen müssen.
8
Weder aus dieser Berufungsrüge noch aus anderen Umständen ergeben sich konkrete Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen des Landgerichts begründen würden (vgl. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Der Senat schließt sich der Würdigung der nervenärztlichen Begutachtung des Sachverständigen Dr. … an. Der Behandler Dr. S. ist nicht als sachverständiger Zeuge zu vernehmen.
9
Der sachverständige Zeuge soll Tatsachen oder Zustände bekunden, für deren Wahrnehmung eine besondere Sachkunde erforderlich ist (§ 414 ZPO). Nicht in den Aussagebereich des sachverständigen Zeugen gehören von ihm gezogene Schlussfolgerungen oder Wertungen. Diese sind dem gerichtlich bestellten Sachverständigen vorbehalten (OLG Koblenz, VersR 2013, 1518, 1521).
10
Eine Zeugenvernehmung des Dr. S. ist nicht geboten zur Einführung von Befunden, welche dieser erhoben hat. Die Befunde sind dokumentiert, als solche unstreitig, und vom Sachverständigen zugrunde gelegt worden. Dagegen sind Ausführungen dazu, dass die von Dr. S. getroffenen Wertungen zutreffend und die des gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr. L. falsch seien, keine Fragen, die ein Zeuge beantworten kann, weil es sich nicht um die Mitteilung von Tatsachen handelt, sondern um Schlussfolgerungen und Wertungen. Hierzu gehört die Frage, ob Dauerschäden vorliegen, die ursächlich auf dem Unfall beruhen.
2. Weitere Gutachten
11
Das Landgericht war auch nicht gehalten, weitere orthopädische oder nervenärztliche Gutachten zu erholen.
12
Nach § 412 (1) ZPO kann das Gericht eine neue Begutachtung durch dieselben oder durch andere Sachverständige anordnen, wenn es das Gutachten für ungenügend erachtet.
13
Die Einholung eines weiteren Gutachtens gemäß § 412 ZPO steht regelmäßig im Ermessen des Gerichts und ist nur ausnahmsweise geboten (vgl. Reichold in Thomas/Putzo, ZPO, 42. Auflage 2021 Rn. 1 zu § 412 m.w.N.). Die Voraussetzungen für einen solchen Ausnahmefall liegen hier nicht vor.
14
Weder sind die Begutachtungen Dr. L.bzw. Dr. R.mangelhaft noch gibt es abweichende Begutachtungen, die im Widerspruch zur gerichtlichen Begutachtung stehen und bei denen das Gericht nicht den einen ohne einleuchtende und nachvollziehbare Begründung den Vorzug geben könnte.
15
2.1. Die Klägerin hat dieselben Einwendungen gegen die Begutachtung, die sie im Berufungsverfahren vorträgt, schon in erster Instanz erhoben; mit diesen Einwendungen haben sich die Sachverständigen bereits in ihren schriftlichen Ergänzungsgutachten und bei der Anhörung vor dem Landgericht auseinandergesetzt; weitergehende Fragen oder Vorhalte hat die Klägerin nicht gestellt bzw. gemacht. Das Landgericht hatte auch keinen Anlass von Amts wegen weitere Fragen zu stellen.
16
Kern der Angaben Dr. L. war, dass eine unfallbedingte dauerhafte Funktionsbeeinträchtigung im Bereich Neurologie und Psychiatrie nicht besteht, weil Ängste und Depressionen bereits vor dem Unfall vorhanden waren und der Unfall allenfalls zu einer leichten Gehirnerschütterung (commotio cerberi) führte; die kognitiven Beeinträchtigungen haben sich in zeitlicher Latenz (verzögert) und progredient (fortschreitend) nach dem Unfall entwickelt, weswegen sie einer systemdegenerativen Störung und nicht dem Unfall zuzuordnen sind. Die Auffälligkeiten bei den Hirnleistungstests haben mit Sicherheit nichts mit der Schädelprellung zu tun.
17
Kern der Äußerung Dr. R.war - und auch das ist nachvollziehbar -, dass er einen posttraumatischen Schaden nicht feststellen konnte, da es keine ausreichenden Befunde gab. Weiter hat er Vorschäden sicher feststellen können (GA Bl. 139 d.A.S. 45, Anhörung S. 2, Bl. 220 d.A.). Er hat auch die Angaben der Klägerin zu ihren Schmerzen sachverständig bewertet.
18
Soweit die Klägerin vorträgt, es seien falsche Behauptungen tatsächlicher Art aufgestellt worden, haben sich die Sachverständigen in den schriftlichen Ergänzungsgutachten geäußert. Ein Motiv der Sachverständigen, Angaben der Klägerin zu erfinden, ist nicht ersichtlich. Die Klägerin hat den Sachverständigen auch bei ihrer abschließenden Anhörung durch das Landgericht nicht mehr vorgeworfen falsche Behauptungen aufzustellen und insoweit auch keine Vorhalte mehr gemacht.
19
2.2. Die Klägerin hat dem Landgericht vom behandelnden Arzt Dr. S. ärztliche Atteste vorgelegt (das vom 24.11.2020 hat die Klägerin fälschlich als Gegengutachten bezeichnet), die nur kurz eine Bewertung mitteilen, ohne die Anforderungen an ein Gutachten zu erfüllen; die Auffassung des Behandlers, die im Attest vom 27.06.2019 geschilderten gesundheitlichen Störungen würden mit dem Unfall in Zusammenhang stehen, sind nicht näher (insbesondere nicht fundiert fachlich) begründet worden. Soweit Dr. S. angegeben hat, dass bei der Klägerin keine Pseudo-Demenz vorliegen würde, hat der Gerichtssachverständige Dr. L.dem zugestimmt und ausgeführt, dass bei der Klägerin unter Umständen vorübergehend eine Anpassungsstörung bestanden habe. Er ist bei seiner Bewertung der Unfallunabhängigkeit der Störungen geblieben.
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2.3. Soweit die Klägerin darauf hinweist, dass die Sachverständigen Ereignisse und Befunde die lange vor bzw. nach dem Unfall stattgefunden haben bzw. erhoben wurden bewertet haben, ist das dem Umstand geschuldet, dass bei der Prüfung der Unfallursächlichkeit solche Ereignisse miteinzubeziehen sind, da sich daraus (möglicherweise) Rückschlüsse darauf ziehen lassen, ob der Unfall für dauerhafte Beeinträchtigungen ursächlich war.
21
2.4. Die Beweislast trägt die Klägerin (zum Beweismaß wird auf BGH, Beschluss vom 13.04.2011 - Az. IV ZR 36/10, BeckRS 2011, 11533 und BGH, Urteil vom 17.10.2001 - Az. IV ZR 205/00 und BGH, Urteil vom 12.11.1997 - Az. IV ZR 191/96, r + s 1998, 80; Bezug genommen). Insbesondere besteht hier keine überwiegende auf gesicherter Grundlage beruhende Wahrscheinlichkeit für einen Ursachenzusammenhang zwischen Erstkörperschaden und Invalidität.
22
Da die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, legt der Senat aus Kostengründen die Rücknahme der Berufung nahe. Im Falle der Berufungsrücknahme ermäßigen sich vorliegend die Gerichtsgebühren von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses zum GKG).