Titel:
Keine Aussetzung in Diesel-Fall
Normenketten:
BGB § 823 Abs. 2, § 826
VO (EG) Nr. 715/2007 Art. 5 Abs. 2
ZPO § 148, § 522 Abs. 2
Leitsätze:
1. Auch nach Unionsrecht kommt ein Schutz der Interessen eines Erwerbers eines Kraftfahrzeugs, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, nur in Betracht, wenn die EG-Typgenehmigung erwirkt worden ist, ohne dass die Genehmigungsbehörde vom Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung etwas wusste. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Schaden des Käufers ist aus der zugrunde zu legenden ex-ante-Betrachtung nicht zu erkennen, wenn keine Anhaltspunkte für das Vorhandensein einer Prüfstandserkennung vorliegen und daher eine Betriebsbeschränkung bzw. -untersagung nicht drohte. (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, unzulässige Abschalteinrichtung, sittenwidrig, Thermofenster, Prüfstandserkennung, Aussetzung, Schlussanträge, Generalanwalt, KBA, Täuschung
Vorinstanzen:
OLG Bamberg, Hinweisbeschluss vom 20.06.2022 – 1 U 565/21
LG Bayreuth, Endurteil vom 30.11.2021 – 22 O 222/21
Fundstelle:
BeckRS 2022, 29401
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Bayreuth vom 30.11.2021, Aktenzeichen 22 O 222/21, wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Bayreuth ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 32.736,08 € festgesetzt.
Gründe
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Hinsichtlich der Darstellung des Sach- und Streitstandes wird auf den Tatbestand im angefochtenen Urteil des Landgerichts Bayreuth vom 30.11.2021 und den Hinweisbeschluss des Senats vom 20.06.2022 Bezug genommen.
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Die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Bayreuth vom 30.11.2021, Aktenzeichen 22 O 222/21, ist gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil nach einstimmiger Auffassung des Senats das Rechtsmittel offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
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Zur Begründung wird auf den vorausgegangenen Hinweis des Senats vom 20.06.2022 Bezug genommen.
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Auch die Ausführungen in der Gegenerklärung vom 09.08.2022 geben zu einer Änderung keinen Anlass. Diesbezüglich ist lediglich Folgendes ergänzend auszuführen:
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1. Der Senat hält nach nochmaliger Sachprüfung daran fest, dass eine Aussetzung des Verfahrens analog § 148 ZPO nicht geboten ist.
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a) Wie im Hinweisbeschluss dargelegt, entspricht es bislang der - für den Senat verbindlichen - höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass die vom Kläger genannten europarechtlichen Vorschriften keine Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB sind. Soweit der Generalanwalt Rantos in seinen Schlussanträgen vom 02.06.2022 in der Rechtssache C-100/21 (ECLI:ECLI:EU:C:2022:420) eine abweichende Ansicht vertritt, ist diese zum jetzigen Zeitpunkt weder für die deutschen Gerichte noch für den Gerichtshof der Europäischen Union rechtsverbindlich.
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b) Überdies bliebe die Klage auch dann ohne Erfolg, wenn der Senat der Auffassung des Generalanwalts Rantos folgen würde.
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aa) Zwar hat der Generalanwalt Rantos im Ergebnis angenommen, dass das Unionsrecht auch die Interessen eines Erwerbers eines Kraftfahrzeugs, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, schütze. Er hat diese Rechtsfolge jedoch von weiteren Voraussetzungen abhängig gemacht, insbesondere, dass die EG-Typgenehmigung erwirkt worden ist, ohne dass die Genehmigungsbehörde vom Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung etwas wusste (Rn. 48 der Schlussanträge). Es ist demnach erforderlich, dass der Genehmigungsbehörde die unzulässige Abschalteinrichtung nicht bekannt war, und dass diese Unkenntnis auf einer Täuschung der Genehmigungsbehörde beruht (vgl. OLG München, Beschluss vom 14.06.2022, 36 U 141/22).
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Für einen solchen Sachverhalt ist, wie im Hinweisbeschluss des Senats ausgeführt, im Streitfall nichts ersichtlich.
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bb) Zudem wäre der Beklagten nicht einmal fahrlässiges Verhalten vorzuwerfen. Dem Bericht der vom Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur eingesetzten Untersuchungskommission „Volkswagen“ vom April 2016 ist zu entnehmen, dass in dem hier fraglichen Zeitraum Thermofenster von allen Autoherstellern verwendet und mit dem Erfordernis des Motorschutzes begründet wurden. Nach Einschätzung der Untersuchungskommission handelt es sich bei der Verwendung eines Thermofensters angesichts der Unschärfe der Ausnahmevorschrift des Art. 5 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a VO (EG) Nr. 715/2007, wonach zum Schutz des Motors vor Beschädigungen und zur Gewährleistung eines sicheren Fahrzeugbetriebs notwendige Abschalteinrichtungen zulässig sind, um keine eindeutigen Gesetzesverstöße, sofern ohne die Verwendung des Thermofensters dem Motor Schaden drohe und „sei dieser auch noch so klein“ (vgl. BMVI, Bericht der Untersuchungskommission Volkswagen, Stand April 2016, S. 123).
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Nach der Mitteilung der Europäischen Kommission vom 19.07.2008 (Mitteilung über die Anwendung und die künftige Entwicklung der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften über Emissionen von Fahrzeugen für den Leichtverkehr und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen (Euro 5 und Euro 6), 2008/C 182/08) waren trotz der erhöhten NOx-Emissionen bei niedrigen Temperaturen keine Messungen vorgesehen. Die Hersteller waren auch nicht verpflichtet, Informationen über das Emissionsverhalten von Dieselfahrzeugen bei niedrigen Temperaturen zur Verfügung zu stellen (dort Ziffer 7). Das Vorhandensein eines Thermofensters war also dem KBA als Typgenehmigungsbehörde bekannt, wenngleich es keine Beschreibung über die exakte Wirkungsweise mangels entsprechender Verpflichtung erhalten hat. Unter diesen Umständen durfte sich die Beklagte grundsätzlich darauf verlassen, dass das KBA im Rahmen des Typgenehmigungsverfahrens aufgrund des Amtsermittlungsgrundsatzes gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwVfG eine Ergänzung verlangen würde, um sich in die Lage zu versetzen, die Zulässigkeit des Thermofensters in dem betreffenden Fahrzeug zu prüfen. Anderenfalls durfte sich die Beklagte auf die Prüfungskompetenz des KBA als Genehmigungsbehörde verlassen und ohne Verschulden von der Zulässigkeit ihres Vorgehens ausgehen.
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Wenn also das KBA als zuständige Typgenehmigungsbehörde nach eigener Prüfung selbst von der Zulässigkeit des „Thermofensters“ ausgeht, kann der Beklagten keine andere Einschätzung abverlangt werden. Unter diesen Umständen kommt eine Aussetzung nicht in Betracht.
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c) Der ins Feld geführten Pressemitteilung des VIa. Zivilsenats des BGH vom 01.07.2022 ist das Gebot oder die Notwendigkeit einer Verfahrensaussetzung nicht zu entnehmen.
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2. Unabhängig von der Frage der Sittenwidrigkeit hat der Kläger auch einen Schaden nicht hinreichend dargelegt. Die Bejahung eines Vermögensschadens in der streitgegenständlichen Konstellation setzt voraus, dass die durch den unerwünschten Vertrag erlangte Leistung nicht nur aus rein subjektiv willkürlicher Sicht als Schaden angesehen wird, sondern dass auch die Verkehrsanschauung bei Berücksichtigung der obwaltenden Umstände den Vertragsschluss als unvernünftig, den konkreten Vermögensinteressen nicht angemessen und damit als nachteilig ansieht (BGH, Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19 -, juris, Rn. 46 m.w.N.). Der Erfahrungssatz, ein Verbraucher kaufe generell kein stilllegungsgefährdetes Fahrzeug, fußt auf der ex post erkannten und dann ex ante zugrunde gelegten Annahme, die im Fahrzeug enthaltene Abschalteinrichtung trage das konkrete Potential in sich, zu einer Betriebsbeschränkung bzw. Betriebsuntersagung zu führen. In den Fällen des EA 189 leitet sich diese Annahme aus dem Wissen eines späteren Rückrufs sämtlicher Fahrzeuge durch das KBA mit nachfolgendem Versuch der Beklagten ab, eine Stilllegung der Fahrzeuge durch Updates zu verhindern. Im vorliegenden Fall liegen - anders als in den Fällen des EA 189 - aber gerade keine Anhaltspunkte für das Vorhandensein einer Prüfstandserkennung vor. Eine Betriebsbeschränkung bzw. -untersagung droht hier gerade nicht.
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Für den Kläger hat damit bei verständiger Würdigung gerade keine Situation bestanden, welche den Vertragsschluss als unvernünftig, den konkreten Vermögensinteressen nicht angemessen und damit als nachteilig erscheinen ließe (so im Ergebnis auch 14. Zivilsenat, Urteil vom 04.11.2021 - 14 U 152/21; OLG München Urteil vom 14.04.2021 - 15 U 3584/20 - juris; OLG Schleswig, Urteil vom 13.08.2021 - 17 U 9/21 - juris). Vor diesem Hintergrund vermag der Senat einen Schaden des Klägers auch aus der zugrunde zu legenden exante-Betrachtung nicht zu erkennen.
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3. Hinsichtlich der (erneuten) materiellrechtlichen Ausführungen zur Haftung der Beklagten aufgrund § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. vermeintlich individualschützenden europarechtlichen Normen ist auf die hierzu ergangene Rechtsprechung des BGH zu verweisen, die eine entsprechende Haftung verneint.
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Die tragenden Erwägungen des Senats zur (nicht gegebenen) Haftung nach § 826 BGB werden in der Gegenerklärung nicht aufgegriffen, so dass sich weitere Ausführungen hierzu erübrigen.
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4. Eine Revisionszulassung ist nicht angezeigt, da die Voraussetzungen nicht vorliegen. Der Senat entscheidet den hier vorliegenden Einzelfall auf Grundlage des hiesigen Sachvortrags unter Beachtung der für Haftungsfälle der vorliegenden Art bereits ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung. Eine bislang nicht geklärte rechtliche Grundsatzfrage, die einer revisionsrechtlichen Klärung zuzuführen wäre, liegt nicht vor.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
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Die Feststellung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit des angefochtenen Urteils erfolgte gemäß § 708 Nr. 10 ZPO.
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Der Streitwert für das Berufungsverfahren wurde in Anwendung der §§ 47, 48 GKG bestimmt.